Tichys Einblick
Brüssel strebt nach Kontrolle

Mehr EU wird uns nicht retten

Ex-EZB-Präsident Mario Draghi hat einen Wirtschaftsplan für die EU vorgelegt. Statt einer Lösung ökonomischer Probleme in Europa fordert er darin noch mehr Brüsseler Zentralisierung. Von Phil Mullan

picture alliance / abaca | Mousse-Orban/ABACA

Was schlägt die EU zur Überwindung ihrer wirtschaftlichen Probleme vor? Mehr Zentralisierung. Mehr Brüsseler Interventionismus. Mit anderen Worten: mehr EU. Das ist die Kernaussage von Mario Draghis Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, der letzten Monat veröffentlicht wurde. Er kommt als nüchterne Wirtschaftsanalyse daher, die auch politische Lösungsvorschläge enthält. Doch dieser Bericht – von der EU in Auftrag gegeben und von einem ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank verfasst – lässt sich am ehesten als politisches Manifest für eine immer engere, von Brüssel aus gesteuerte EU verstehen.

So behauptet Draghi, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der EU auf einer, wie er es nennt, zu starken „Fragmentierung“ entlang nationaler Grenzen gründen. Er führt sogar die Schwerfälligkeit der EU-Verordnungen auf deren „nationale Zersplitterung“ zurück. Dies habe zu Unstimmigkeiten und Unterschieden bei der Anwendung von Vorschriften wie der „lobenswerten“ Datenschutz-Grundverordnung geführt. „Das ultimative Ziel“, erklärt er, „sollte darin bestehen, EU- und nationale Vorschriften als einheitlichen Korpus zusammenzuführen“, der von der Europäischen Kommission formuliert wird.

Draghi macht für die wirtschaftlichen und politischen Probleme der EU durchweg die Schwierigkeit verantwortlich, unterschiedliche nationale Ansichten und Interessen miteinander in Einklang zu bringen. Zumindest für ihn liegt die Antwort auf der Hand: mehr EU. „Wir müssen eine neue Haltung zur Zusammenarbeit einnehmen“, schreibt er, „indem wir Hindernisse beseitigen, Regeln und Gesetze harmonisieren und die Politik koordinieren“.

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Mit „Koordinierung der Politik“ ist hier eindeutig nicht Zusammenarbeit gemeint. Es bedeutet vielmehr Brüsseler Kontrolle von oben nach unten über Europa. Deshalb geht es in Draghis Bericht vor allem um die „Stärkung der Governance“ – ein Euphemismus für die Ausweitung der Macht der Europäischen Kommission. Stärkeres Regieren, schreibt er, bedeutet „mehr Europa“ dort, wo es wirklich darauf ankommt. Und das bedeutet gerade dort, wo es wirklich darauf ankommt, weniger nationale Souveränität.

Die wirtschaftliche Analyse des Berichts dient, so wie sie sich darstellt, als Rechtfertigung für das Hauptziel der EU – nämlich die weitere politische Zentralisierung Europas. Draghi behauptet, dass die EU interventionistische wirtschafts- und industriepolitische Maßnahmen ergreifen muss, um mit den USA und China konkurrieren zu können, und dass diese am besten auf europäischer Ebene von Brüssel durchgeführt werden.

US-EU-Vergleich

Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, greift Draghi auf ein bekanntes wirtschaftspolitisches Narrativ zurück. Bis zur Jahrtausendwende sei es den europäischen Volkswirtschaften im Allgemeinen gut gegangen, behauptet er. Seitdem ist Europa jedoch weit hinter die USA und in jüngster Zeit auch hinter China zurückgefallen, das er als „geopolitischen Rivalen“ bezeichnet.

Er wiederholt auch den inzwischen üblichen Vorschlag, dass Europa zur Rettung seiner Volkswirtschaften den USA nacheifern und die von der Regierung Biden eingeführte Industriepolitik übernehmen müsse. Demnach müssten Hunderte von Milliarden Euro in „zukunftsweisende“ Sektoren wie grüne Energie, Halbleiter und Speicherbatterien gepumpt werden.

Jeder Punkt dieses Narrativs geht in die Irre. Erstens wird der Gegensatz zwischen der Dynamik der USA und der Schwäche Europas überbewertet. Jeder kann sich Wirtschaftsdaten aus den USA herauspicken, die besser aussehen als die europäischen, aber das sagt nicht viel über ihre relative wirtschaftliche Dynamik aus. Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist vielmehr die größere Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft gegenüber den jüngsten globalen Schocks, von der Finanzkrise über Corana bis hin zum Ukraine-Krieg. Dies ist zum Teil auf ihren stärksten Aktivposten zurückzuführen – die ungebrochene globale Rolle des Dollars. Diese trägt dazu bei, die Nachfrage nach US-Staatsanleihen aufrechtzuerhalten, was die Kreditaufnahme erleichtert und die außerordentlich lockere Haushaltspolitik ermöglicht, die wir unter den Präsidenten Obama, Trump und jetzt Biden erlebt haben. So wird das US-Haushaltsdefizit in diesem Jahr voraussichtlich etwa sechs Prozent betragen, doppelt so viel wie in der EU.

Diese ungewöhnlich hohen Ausgaben Washingtons, nicht zuletzt während und nach den Pandemie-Lockdowns, halten die amerikanische Wirtschaft in Gang. Das hat aber den Rückgang des amerikanischen Produktivitätswachstums nicht verhindert. Trotz der hohen öffentlichen Ausgaben und der enormen Vorkommen an fossilen Brennstoffen leiden die USA unter ähnlichen Problemen wie Europa. Die Einkommen der Arbeitnehmer stagnieren, die Qualität der Arbeitsplätze ist nach wie vor schlecht und die Infrastruktur bröckelt.

Außerdem geht Draghi manchmal etwas sparsam mit der Wahrheit um, um seine These zu untermauern, dass Europa ein ähnliches Investitionsniveau wie die USA benötigt, das zentral von Brüssel gesteuert wird. Um die Kluft bei den produktiven Gesamtinvestitionen zwischen den beiden Volkswirtschaften zu veranschaulichen, schließen Draghis Forscher Irland aus den EU-Daten aus – vermutlich wegen der hohen Investitionsraten Irlands seit 2015 – und schließen selektiv die Investitionen in den Wohnungsbau aus ihrer Messung der Gesamtinvestitionen aus. Dieser nur partielle Vergleich mit den USA erzeugt praktischerweise das Bild eines jährlichen Investitionsdefizits im Verhältnis zum BIP für die „EU (ohne Irland)“ in den Jahren nach der Finanzkrise.

Hätte Draghi jedoch einfach die EU mit den USA in diesem Zeitraum insgesamt getätigten Investitionen (Bruttoanlageinvestitionen) verglichen, dann hätte er gezeigt, dass die USA hinter Europa zurückliegen. Von 2009 bis 2022 betrugen die Bruttoanlageinvestitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der EU durchschnittlich 21 Prozent, in den USA dagegen nur 20,3 Prozent.
Doch Draghi lässt sich durch unbequeme Daten nicht von seiner Argumentation abbringen. Stattdessen war sein Team in der Lage, die Statistiken zu verfeinern, um seine Forderungen nach mehr Interventionen im Stil der USA und mehr EU-Kontrolle zu rechtfertigen.

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Wenn man bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts zurückgeht, gibt es beim Produktivitätswachstum keinen großen Unterschied zwischen den gleichermaßen enttäuschenden Ergebnissen Europas und der USA. Ein Vergleich zwischen dem Jahrzehnt vor dem Finanzcrash von 2008 (2000-2007) und dem Jahrzehnt danach (2011-2019) ist aufschlussreich und widerspricht direkt Draghis Behauptungen über die überlegene Leistung der USA. Denn der Vergleich zeigt, dass das Produktivitätswachstum in den USA in den zehn Jahren nach der Finanzkrise sogar etwas stärker zurückging als in Europa.

Zweitens wurde dieser Rückgang des Produktivitätswachstums von einer weitgehend gleichen Wirtschaftspolitik begleitet. Auf beiden Seiten des Atlantiks haben Staaten eine lockere Geldpolitik verfolgt, ähnliche Regelungen für Unternehmenssubventionen getroffen und in ähnlicher Form auf protektionistische Maßnahmen zurückgegriffen.

Drittens weist diese transatlantische Politikangleichung auf das größte Hemmnis hin, das die USA und die EU daran hindert, ihren Produktivitätseinbruch zu überwinden. Die eigentliche Ursache für die wirtschaftliche Misere Europas wie auch anderer entwickelter Volkswirtschaften ist das seit den 1970er Jahren allmähliche Verkümmern der produktivitätssteigernden Mechanismen. Diese ‚Verkümmerung‘ zeigt sich im Rückgang der Marktaustritte oder des Umschlags bei Unternehmen und Arbeitsplätzen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Zahl der Unternehmensaustritte und -zugänge verlangsamt, die Branchenkonzentration hat zugenommen und sowohl die Schaffung als auch die Vernichtung von Arbeitsplätzen ist tendenziell rückläufig.

Europa steckt fest

Dies steht im Gegensatz zu historischen Perioden wirtschaftlicher Krisen, in denen die Marktaustritte von Unternehmen tendenziell zunahmen, da die weniger effizienten Unternehmen in Konkurs gingen, wodurch Arbeitskräfte und Ressourcen in produktivere Sektoren und Unternehmen abwandern konnten. Diese Fluktuation führte zu einem höheren durchschnittlichen Produktivitätsniveau. Heute haben wir starrere und unflexiblere Wirtschaftsstrukturen, in denen es den meisten unrentablen Unternehmen gelingt, sich über Wasser zu halten. Dies bindet Ressourcen und bewirkt, dass das Produktivitätsniveau erstarrt.

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Draghi selbst hat dieses Problem erkannt. „Europa steckt in einer statischen Industriestruktur fest“, schreibt er, „in der nur wenige neue Unternehmen auftauchen, um bestehende Industrien zu erschüttern oder neue Wachstumsmotoren zu entwickeln“. Dies ist zwar richtig, aber Draghi geht nicht näher auf die Gründe für diese Entwicklung ein. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass ebendiese Gründe seinem Plädoyer für stärkere Staatsaktivitäten widersprächen.

Fast vier Jahrzehnte lang hat neuartige Steuer-, Geld-, Auftragsvergabe- und Regulierungspolitik dazu gedient, bestehende Unternehmen zu stützen, unabhängig davon, ob sie produktiv sind oder nicht. Dieser ständige Versuch, den wirtschaftlichen und unternehmerischen Status quo zu halten, ist keine zielgerichtete Strategie. Vielmehr handelt es sich dabei um das halbbewusste Produkt einer bei den europäischen und anderen westlichen Eliten vorherrschenden kulturellen Haltung. Eine Haltung, in der die Angst vor Veränderungen dominiert und die daher zum Mikromanagement neigt. Es ist eine gesellschaftliche Kultur ohne große Visionen, ohne Vertrauen in die Menschen und ohne Zuversicht, dass ein echter Wandel die Dinge besser machen könnte. Infolgedessen haben die politischen Entscheidungsträger im Westen versucht, unnötige Risiken und Störungen zu vermeiden und stattdessen das Bestehende um jeden Preis zu bewahren.
Insbesondere in Brüssel hat dieser ängstliche, auf Sicherheit bedachte Ansatz anstelle der traditionellen „kreativen Zerstörung“, die den Kapitalismus normalerweise kennzeichnet, Anklang gefunden.

Der große Nachteil dieser schützenden, auf Sicherheit ausgerichteten staatlichen Interventionen besteht darin, dass sie viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch bewahrt und das Marktsystem damit seiner regelmäßigen Bereinigungsphasen beraubt, in denen unproduktive Unternehmen und Schulden ausgelöscht werden würden. In Ermangelung jeglicher Bereinigung werden unsere Volkswirtschaften von großen, schwerfälligen, vom Staat abhängigen Unternehmen beherrscht. Diese existieren neben einer Vielzahl von Zombie-Unternehmen – totem Betriebsvermögen, das durch staatliche Unterstützung am Leben erhalten wird und nur begrenzt in Technologie investieren kann. Daher rühren Innovationsschwäche und nur schleppend wachsende Produktivität.
Die meisten Vorschläge des Draghi-Berichts spiegeln diese kulturelle Disposition wider, den Status quo zu unterstützen. Doch wenn man einer stagnierenden Wirtschaft enorme Geldsummen hinterherwirft, bringt das die Innovation nicht in Gang. Wie wir in Amerika gesehen haben, hilft es vor allem größeren Unternehmen, ihre Aktivitäten auszuweiten und ihre Marktposition zu verteidigen. Ob gewollt oder nicht, dies stärkt die etablierten Unternehmen. Nach außen hin können sie stabil erscheinen, aber im Inneren ziemlich zerbrechlich sein, wie die aktuellen Probleme bei Volkswagen oder dem dänischen Windkraftunternehmen Oersted zeigen.

Um das Produktivitätswachstum zu beschleunigen, brauchen die europäischen Volkswirtschaften einen doppelten Ansatz, der darauf abzielt, diese schädliche Wirtschaftskultur zu verändern. Kurz gesagt, wir müssen den Staat aus den Angelegenheiten der Unternehmen heraushalten und die Unternehmen aus den staatlichen Verantwortlichkeiten. Was wir stattdessen von Draghi bekommen, ist ein 400-seitiges Traktat für eine stärkere Einmischung der Brüsseler Bürokratie in die Angelegenheiten sowohl der Unternehmen als auch der nationalen europäischen Regierungen.


Dieser Artikel ist zuerst beim britischen Online-Magazin Spiked erschienen und basiert auf einer Rede, die auf der Konferenz Unshackling Europe’s Economy: What Holds Us Back? des MCC Brussels am 24. September 2024 gehalten wurde.
Mehr von Phil Mullan lesen Sie in dem Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“. Mullan ist zudem Autor von “Beyond Confrontation: Globalists, Nationalists and Their Discontents”.

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