Herr Mosebach, erinnern Sie sich noch an den 9. November 1989 – wo Sie sich aufhielten, wie Sie ihn verbracht haben?
Ja, ich erinnere mich genau. Ich habe damals an den Dreharbeiten eines Films von Rebecca Horn teilgenommen, in der Nähe von Coimbra in Portugal. Wir wohnten in einem heruntergekommenen Grandhotel auf dem Land, es gab ein einziges Schwarz-Weiß-Fernsehgerät, das wurde im Speisesaal aufgestellt. Der Empfang war sehr schlecht, die Bilder unscharf wie bei der Übertragung von der ersten Mondlandung. Die Kameramänner kamen alle aus Berlin und waren verzweifelt, nicht zu Hause zu sein: „Wir hängen hier rum, und in Berlin geht die Post ab!“ Eine sehr elegante linksliberale Journalistin, die eine Reportage über den Dreh schrieb, belehrte mich streng: „Das bedeutet aber keinesfalls eine Wiedervereinigung, das Volk der DDR will das nicht – die wollen ihren eigenen Weg gehen.“
Sind Sie vorher einmal in der DDR gewesen, etwa für Verwandtenbesuche?
Ich hatte keine Verwandten und überhaupt keine persönlichen Verbindungen. In den siebziger Jahren habe ich aber zwei Kunstreisen nach Thüringen und Sachsen gemacht, nach Weimar und Dresden.
Wie haben Sie den Landstrich erlebt?
Kürzlich waren Sie zur Lesung aus Ihrem Buch „Die 21“ in Dresden, sind zudem immer wieder in Thüringen unterwegs. Wie beurteilen Sie die Lage heute?
Die Wiedervereinigung war für mich eine große Freude und ist es immer noch. Sie steht ja in Verbindung mit dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas; allein das wird immer beglückend sein. Mit Erwartungen bin ich aber stets vorsichtig gewesen. Die DDR unterschied sich von vielen anderen Ländern des Ostblocks darin, dass es hier nicht wenige überzeugte Kommunisten gab, die an ihrem Staat, der für mich nur eine sowjetische Satrapie war, hingen. Die Enteignung und Vertreibung der ländlichen Notabeln und des wohlhabenden Bürgertums hatten eine nicht ohne weiteres korrigierbare gesellschaftliche Verarmung geschaffen, die gerade auch in den schönen alten Städten, die vom Krieg verschont geblieben sind, spürbar ist.
Auch der Atheismus ist ein Erbe des Kommunismus…
Ja, es heißt, Sachsen sei heute eines der atheistischsten Länder Europas. Das sind Einbrüche, die mit keinem Geld und keinem guten oder bösen Willen der Welt zu heilen sind. Dass die Einwohner der sogenannten Neuen Länder darüber hinaus von staatlicher Erziehung und Beeinflussung genug haben, kann man ihnen nicht verdenken.
Der Untergang des Bolschewismus war jedenfalls nicht das Ende der Geschichte; eine militante Ausklammerung Gottes gewinnt anders auch im Westen Einfluss, etwa bei vorgeburtlichen Untersuchungen auf Behinderungen, dem vermeintlichen Recht auf Abtreibung, beim Umgang mit Pflegebedürftigen. Wer derartige „Befreiungen“ ablehnt, wird oft öffentlichkeitswirksam geächtet. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?
Ich stimme Ihnen zu – der Unterschied ist nur der, dass die Religion bei Nazis und Kommunisten im Zeichen staatlicher ideologischer Unterdrückung bekämpft wurde und heute eher gesellschaftlich im Zeichen der Freiheit und eines schrankenlosen Individualismus. Es sollte nachdenklich stimmen, dass die Religion seit dem 20. Jahrhundert weder von der Diktatur noch von der Demokratie Wohlwollen zu erwarten hat. Das sagt vielleicht etwas über ihr Wesen aus und müsste die Kirche gegenüber jeder Versuchung zu einem Aggiornamento skeptisch stimmen.
Während das Christentum in Europa angeschlagen ist, erleben wir andernorts Religion in großer Vitalität. Sie haben das am Beispiel des Islams wie des koptischen Christentums in Ägypten schriftstellerisch verarbeitet. Sehen Sie in Ihrem Buch „Die 21“ eine Art Lehrstück?
Es ist unmöglich, die Erfahrungen der Kopten unmittelbar auf die europäischen Verhältnisse zu übertragen. Die Europäer kennen Kirchenverfolgungen unterschiedlicher Art erst seit der Französischen Revolution – die Kopten sind weit über 1.000 Jahre unterdrückt und haben doch überlebt.
Was islamische Herrscher seit der muslimischen Eroberung im 7. Jahrhundert nicht erreicht haben, scheint den Kommunisten in der DDR in 40 Jahren gelungen zu sein …
… so ist es, doch zur Geschichte der Kirche des Westens gehört auch ihre lange Verbindung mit der politischen Macht – die Kopten hatten diese Verbindung niemals, sie sind das Beispiel einer nicht entmachteten, sondern immer schon machtlosen Kirche. Das Geheimnis ihres Überlebens scheint in eisernem Festhalten der Überlieferung und in der Bereitschaft zum Martyrium zu liegen.
Die DDR, die von standhaften Christen auch Opfer erforderte, ist untergegangen. Von Anfang an wird die deutsche Wiedervereinigung im Kontext europäischer Einigung gedeutet, aber derart, als müsse Europa politisch auf die EU hinauslaufen, als sei das Aufgehen des Kontinents als heterogenem kulturellen, ökonomischen, auch religiösen Generationengebäude in der EU, die noch nicht geklärt hat, was sie sein will, der einzige logische Schluss. Wie beurteilen Sie das?
Man darf nicht unterschätzen, welche Besorgnis die Wiedervereinigung bei den Nachbarn hervorgerufen hat. Der Fall der Mauer, das Ende des Warschauer Pakts und damit der eingefrorenen Machtverhältnisse lassen wieder den Zustand vor dem Ersten Weltkrieg erahnen. Kohl zitierte im kleinen Kreis öfter Bismarcks Wort vom „cauchemar des alliances“ – vom Albtraum, alle Nachbarstaaten könnten sich gegen Deutschland verbünden. Man kennt das raffinierte Bündnissystem Bismarcks, mit dem er versuchte, mögliche Feinde auseinanderzuhalten. Es überlebte kaum das Ende seiner Amtszeit.
Kohl versuchte es andersherum.
Durch ein sehr weitgehendes Vertragssystem wollte er Deutschland so einbinden, man könnte auch sagen: fesseln, dass die Nachbarn ihre Furcht verlören. Man darf deshalb nicht vergessen, dass es bei der von ihm vorangetriebenen europäischen Integration vor allem um die Integration Deutschlands geht – die anderen Nationen haben für sich dergleichen erheblich weniger im Sinn, wie sich immer deutlicher zeigt.
Was ist „Europa“ für Sie?
Mein Bild von Europa hat mit der aktuellen Organisationsform wenig zu tun. Es besteht für mich aus den Ländern, die Erben des Römischen, selbstverständlich auch des Oströmischen Reiches sind. Aus diesem Römischen Reich ist eine der schönsten und reichsten Erscheinungen der Weltgeschichte hervorgegangen: die europäischen Nationen, von denen beinahe jede die gemeinsame Mutter in irgendeiner Beziehung noch übertroffen hat. Diese europäischen Nationen sind sozusagen Volkspersönlichkeiten, jede hat das römische Erbe in anderer Weise entwickelt. Jede dieser Nationen ist unverzichtbar in dem großen europäischen Konzert, das aber nur entsteht, wenn jedes Land seine Eigentümlichkeiten eifersüchtig bewahrt.
Für Sie ist die EU mit Blick auf die Zukunft Europas demnach nicht entscheidend?
In Großbritannien hat sich eine Mehrheit der Bürger gegen das Gros von Pro-EU-Eliten entschieden. In Deutschland vertritt die AfD einen EU-kritischen Kurs, viele Mitglieder und Anhänger lehnen die EU rundweg ab. Die Partei hat bei Wahlen wie in Sachsen und Brandenburg Rekordergebnisse erzielt. Worin sehen Sie Ursachen für den darin auch hervortretenden Bruch zwischen Ost und West, wo die AfD stets schwächere Resultate erzielt?
Ich vermute, dass die sogenannten souveränistischen Bewegungen überall dort besonders stark sind, wo man in finsteren Jahren einer Vasallenstaatlichkeit erfahren hat, was es für ein Volk bedeutet, nicht selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Zu erleben, dass man dieses Joch abschütteln konnte, nur um dann gleich darauf ein anderes auf sich zu nehmen – wenn das auch mit noch so vielen ökonomischen Vorteilen verbunden war -, das will offenbar vielen Bürgern der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten nicht einleuchten. „Sozialistischer Internationalismus“ war für diese Völker eben zuerst einmal eine Formel der Unterdrückung – da liegt der Verdacht, mit der Globalisierung verhalte es sich ebenso, nicht fern. Westdeutschland hat den Zustand eingeschränkter Souveränität nie als bedrückend empfunden, es ließ sich prächtig dabei verdienen. Ich meine deshalb eine gewisse Verachtung der Westdeutschen durch die Ostdeutschen zu erkennen.
Phasen von „Vasallenstaatlichkeit“ haben aber Großbritannien oder Frankreich mit ebenfalls starken EU-kritischen Bewegungen nicht erlebt.
Das stimmt, aber hier handelt es sich um Staaten, die bis heute stark mit ihrer Geschichte verbunden sind. Frankreich und England haben die Entstehung ihrer modernen Staatlichkeit als Triumph nach großen inneren und äußeren Kämpfen erlebt. Die Begriffe „Nation“ und „Souveränität“ sind für sie identisch. Moderne Deutsche empfinden das Abwerfen der Last der Geschichte hingegen als Erleichterung – sie können nicht verstehen, dass das in anderen Ländern nicht so gesehen wird. Deutsche sind konsterniert, wenn der ökonomische Erfolg nicht der einzige Maßstab politischen Handelns sein soll. Deshalb hat sie zum Beispiel die Brexit-Bewegung völlig unvorbereitet getroffen.
Es fällt auf, dass sich Schriftsteller heute nur mehr selten politisch äußern, anders als etwa noch Grass oder Enzensberger. Viele Intellektuelle traten gar Parteien bei, mischten in Wahlkämpfen mit. Heute scheinen sie in öffentlichen Auseinandersetzungen eine immer geringere Rolle zu spielen.
Ja, und ich glaube, das ist ein Zeichen, dass die Schriftsteller etwas gelernt haben. Ein Autor schadet sich meistens, wenn er sich in die Tagespolitik verstricken lässt.
Warum?
Wie würden Sie Ihr schriftstellerisches Selbstverständnis in diesen Wandlungsprozess einordnen? Die einen sehen in Ihnen einen Romancier, der sich fast durchweg der Tagespolitik fernhält, wofür Sie hier wieder plädieren. Andere verweisen auf ein Buch wie „Die 21“, das sich gerade in der Auseinandersetzung mit der Stellung von Religionen als hochpolitisch erweist.
In den „21“ ging es neben manchem andern gewiss auch darum, wie eine christliche Minorität in einer feindseligen Majorität bestehen kann. Das ist auch eine politische Frage – und auch die Antwort ist politisch folgenreich: Eben nicht dadurch, dass die Minorität Rechte einfordert – die gab und gibt es in Ägypten nicht, sondern wenn sie standhält und bereit ist, die sich daraus ergebenden Nachteile klaglos in Kauf zu nehmen.
Auch die „Häresie der Formlosigkeit“ ist mindestens derart politisch, dass Kultus nie Privatangelegenheit war – und weder Islam noch Christentum, schon von ihren Gründern her, Bekenntnis als Privatsache ansehen durften. Was sie verkünden, hat selbst auf die, die nicht glauben, Auswirkung – im Islam noch heute etwa auf die Stellung in der Gesellschaft bei Steuerpolitik, Ausschluss aus Hierarchien usw., im Christentum immerhin bei der Frage nach dem Jenseits, die Angehörige eines missionarischen Glaubens nie die Hände in den Schoß legen lassen darf.
Sie haben Recht: „Häresie der Formlosigkeit“, soeben in erweiterter Form bei Rowohlt erschienen, die kleine Aufsatzsammlung „Der Ultramontane“ und „Die 21“ sind Bücher mit politischen Aspekten, wie sie in meinen Romanen nur in höchst vermittelter Form zu finden wären, auch deswegen, weil es das rein Unpolitische gar nicht gibt. Dávila sagt das sehr schön: „Wer behauptet, er sei unpolitisch, gehört zur unterlegenen Partei.“ In den Romanen ging es mir darum, keine Urteile zu fällen, das Verfahren offenzuhalten, Charaktere und Anschauungen, die mir zuwider sind, dennoch gelten zu lassen. In den genannten Büchern habe ich jedoch engagiert und gewiss polemisch Stellung bezogen und von dem gesprochen, was ich glaube. Und ich glaube nun einmal, dass das Heil der Welt auf ihrem Weg durch die Geschichte davon abhängt, dass die Kirche den Geist des historischen Jesus, wie die Evangelien, die apostolischen Briefe und die Kirchenväter ihn zu erkennen geben, getreu bewahrt und dass dieses Bewahren vor allem in der überlieferten Liturgie durch die Jahrtausende hindurch gelungen ist und auch heute gelingt. Ich glaube, dass wir beruhigter kommenden Katastrophen entgegengehen können, wenn die Kirche ein Leuchtturm des Übernatürlichen in der Welt bleibt.
Welche Rolle messen Sie der Literatur in diesen unruhigen Zeiten zu?
Sie verweisen selbst darauf: Wir leben in unruhigen Zeiten. Ich gebe mich nicht weiter mit Prophetien ab. Manche haben gute Argumente dafür, dass die Literatur schon bald überhaupt keine Rolle mehr spielen wird, und das müsste keineswegs nur mit veränderten Lesegewohnheiten zu tun haben. Ich könnte mir vorstellen, dass das 21. Jahrhundert schließlich dahin gelangt, das gesamte 20. Jahrhundert, durchaus auch ungerecht, zu verwerfen. Das war ja tatsächlich das schwärzeste Jahrhundert der Menschheitsgeschichte. Es wäre in Europa übrigens nicht das erste Mal, dass es weder Literatur noch ein literarisches Publikum gibt. In den Jahrhunderten der Völkerwanderung hätte es fast gar keine Literatur gegeben, wenn Karl der Große die Skriptorien der Klöster nicht angewiesen hätte, die Reste der antiken Literatur auf Pergament abzuschreiben. Verglichen mit den großen Epochen der europäischen Literatur haben wir heutzutage einen Überschuss an literarischer Produktion – die Reaktion darauf pflegt in der Geschichte ein unterschiedsloses Abwerfen der kulturellen Lasten zu sein.
Sie zeichnen eine trübselige Perspektive. Würden Sie da noch einen Apfelbaum pflanzen?
Mich hält das jedenfalls nicht davon ab, ein nächstes Buch zu schreiben.
Dieses Interview mit Martin Mosebach führte Michael Kunze – es erschien zuerst am 24.10.2019 in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.