Der französische Staatspräsident Macron wurde am 19. April von der Bundeskanzlerin zu dem lang erwarteten Gespräch über seine Ideen zur Erneuerung Europas empfangen. So gesehen steht er physisch nicht mehr vor den Toren des Kanzleramts. Soweit bekannt, hat er jedoch seine zahlreichen Vorstellungen zur institutionellen Vertiefung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nicht mit Erfolg vorbringen können. So gesehen steht er inhaltlich weiter „ante portas“. Die Bundeskanzlerin scheint nicht mehr bereit zu sein, alle stabilitätspolitischen Grundsätze Deutschlands auf dem Altar der deutsch-französischen Freundschaft zu opfern. Das Synonym „Mercron“ wird, entgegen den Erwartungen des Autors, nicht in den deutschen Sprachschatz eingehen.
Zum Verständnis seiner vielgerühmten Ideen für ein neues Europa muss man sich die innenpolitische und wirtschaftliche Lage Frankreichs vor Augen führen. Macron erlebt derzeit, wie schwer es ist, Reformen umzusetzen. Der fortlaufende Streik der Bediensteten der hoffnungslos verschuldeten französischen Eisenbahngesellschaft SNCF – sie protestieren gegen den Abbau ihrer Privilegien wie die derzeitige Pensionsgrenze mit 51 Jahren – hat bereits zu zahlreichen Ausfällen und Verspätungen im Bahnverkehr geführt. Die Energiegewerkschaft hat gegen die Umbaupläne Macrons mit Stromabschaltungen gedroht.
Auch die vielfach ignorierte desolate wirtschaftliche Lage Frankreichs erklärt die von Macron proklamierte Erneuerung Europas. Das Grundübel ist der überdimensionierte öffentliche Sektor, der rund 57 % des BIP absorbiert und die in der EU höchste Abgabenquote (Steuern und Sozialabgaben) von 48 % des BIP. Das Haushaltsdefizit sinkt trotz „gehärtetem“ Fiskalpakt mit automatischen, aber nie durchgeführten Ausgabenkürzungen kaum unter die im EU-Recht festgelegte Höchstgrenze von 3 % des BSP. Der französische EU-Kommissar Moscovici stellt dazu lapidar fest, Frankreich sei eben Frankreich.
Zu den Defizitposten zählt auch die auf 100 % des BIP ansteigende Schuldenstandsquote des Staates und die – in Deutschland kaum bekannte – private Verschuldung, mit 186 % des BIP die höchste private Verschuldung der großen Industrieländer in der Eurozone. Dabei erreicht die Verschuldung der Unternehmen 72 % des BIP und ist zu zwei Dritteln variabel finanziert. Bei Zinserhöhungen entsteht eine bedenkliche Hypothek für die Finanzstabilität in Frankreich. Unser Nachbarland droht dann, sich in die Reihe der Länder wie Griechenland, Portugal und Italien mit hohen Raten notleidender Kredite einzureihen. Wer diese Prognose als Utopien abtuen will, sollte den jüngsten Stabilitätsbericht des IWF lesen. Selbst die französische IWF-Chefin Lagarde warnt vor steigenden Risiken für die Märkte. Die globalen Finanzmärkte seien insbesondere wegen der Verschlechterung der Qualität der Kredite verwundbar.
Besonders besorgniserregend ist der permanente Verlust an Wettbewerbsfähigkeit seit der 2000 eingeführten 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Im weltweiten Ranking des jüngst veröffentlichten Wettbewerbsreports des Davoser Weltwirtschaftsforum ist Frankreich inzwischen auf Platz 22 abgerutscht, Deutschland liegt auf Platz 5. Im Zuge dieser Entwicklung ist in Frankreich der Beitrag der Industrie zum BIP auf 11 % gefallen bei 24 % in Deutschland. Frankreich kann nicht mehr beanspruchen, ein Industrieland zu sein.
Vor diesem Hintergrund können die visionären Pläne Macrons nicht zum Nennwert genommen werden. Seine Vorschläge für eine Neubegründung der Wirtschafts- und Währungsunion kaschieren die eigentliche Absicht, nämlich die Schaffung neuer Finanzierungstöpfe für Investitionen, in die alle Euroländer einzahlen. Dabei stellt die EU schon heute viel Geld für Investitionen zur Verfügung – 350 Milliarden Euro für die Kohäsionspolitik und über den sog. Juncker-Plan sollen private Investitionen in die Infrastruktur bis zu 500 Milliarden Euro erreicht werden. Die Vorschläge für einen eigenen Eurohaushalt mit eigenen Einnahmen und deren Verwendung durch einen eigenen Euro-Finanzminister lassen die eigentliche Absicht der Initiative von Macron erkennen.
Die Anzahl der Dissidenten scheint zu wachsen. Insofern hat die GroKo der Parteien, die die großen Wahlverlierer im September waren, bisher wenigstens einen positiven Effekt hervorgebracht. Der Handlungsspielraum ist auch durch die bevorstehende Landtagswahl in Bayern und die in einem Jahr zu erwartende Wahl zum Europäischen Parlament begrenzt. Dennoch bekräftigt die Kanzlerin, mit Frankreich bis Mitte des Jahres einen Kompromiss für die geplanten EU-Reformen zu erreichen.
Es ist zu hoffen, dass dabei die marktwirtschaftlichen Gesetze nicht außer Acht bleiben. Schließlich ist der Primat der Politik letztlich eine Illusion. Die ökonomische Ratio sollte die Handlungsmaxime aller Politiker sein. Dies setzt freilich voraus, dass man auf beiden Seiten des Rheins dasselbe Verständnis von ökonomischer Ratio hat. Zweifel sind angebracht.
Dr. Wolfgang Glomb ist Mitglied des Kuratoriums des liberalen thinktanks Institut Thomas More in Paris.