Bis vor kurzem wurde die Frage, wie ein immer noch mächtiges Russland in die Weltordnung integriert werden kann, vom Westen entweder heruntergespielt oder ignoriert. Doch damit ist jetzt Schluss. Die westlichen Entscheidungsträger und ihre internationalen Verbündeten werden sich endlich der Tatsache bewusst, dass die Geschichte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zu Ende ist. Ungelöste Fragen und Konflikte, die bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreichen, rücken wieder in den Vordergrund. Das bedeutet, dass neben dem blutigen Krieg in der Ukraine auch andere, möglicherweise weitaus verheerendere Konflikte zum Ausbruch bereit sind.
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist es die russische Frage, die eine ähnliche Quelle der Instabilität in Europa darstellt. Russland ist keine globale Supermacht mehr und sieht sich in seiner Position und Sicherheit ständig bedroht. Der Russischen Föderation fehlt es an innerem Zusammenhalt, und der Kreml kämpft ständig darum, die Kontrolle über die verschiedenen ethnischen Gruppen und Nationalitäten innerhalb seiner Grenzen zu behalten. Sollte Russland den Krieg in der Ukraine verlieren, würde seine Integrität als Föderation in Frage gestellt werden. Selbst in dem jetzt unwahrscheinlichen Fall, dass Russland seine Kriegsziele in der Ukraine erreicht, wird dies nicht das Ende des Konflikts sein. Die Position Russlands in der Weltpolitik ist jetzt eine Quelle anhaltender Instabilität.
Nach Angaben der BBC sind inzwischen fast 20.000 Menschen aus ihren Dörfern geflohen, um der Gewalt zu entgehen, und der „Konflikt hat die Angst vor einem totalen Krieg zwischen den beiden Ländern wieder aufleben lassen“. Laut Foreign Policy zählen die Kämpfe zwischen Kirgisistan und Tadschikistan „zu den schwersten zwischenstaatlichen militärischen Eskalationen in der Geschichte Zentralasiens seit der Auflösung der Sowjetunion 1991“.
Dies war bei weitem nicht der einzige Fall von zwischenstaatlichen Unruhen. Wenige Wochen vor dem Konflikt an der Grenze zwischen Kirgisistan und Tadschikistan brach ein Kleinkrieg zwischen Armenien und Aserbaidschan aus. Es wird geschätzt, dass fast 100 Soldaten ihr Leben verloren haben.
In beiden Konflikten hat Russland diplomatisch interveniert, um ein Friedensabkommen zu vermitteln. Aber es ist klar, dass diese Konflikte noch lange nicht gelöst sind. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder aufflammen.
Diese zentralasiatischen Grenzkonflikte haben ihre Wurzeln in der chaotischen Auflösung der Sowjetunion. In den frühen 1990er Jahren versuchte der Kreml, den postsowjetischen Raum zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen aufzuteilen. Die postsowjetische Führung nahm Sicherheitsbeziehungen zu den neu gebildeten Regierungen in der zentralasiatischen Region auf, in der Hoffnung, ihren Einfluss auf diese sowie auf die Länder Transkaukasiens zu wahren. Russland unterhält sowohl in Kirgisistan und Tadschikistan als auch in Georgien und Armenien Militärstützpunkte.
Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, wie fragil der russische Einfluss in diesem postsowjetischen Raum ist. Einem Bericht zufolge können sich sowohl Tadschikistan als auch Kirgisistan trotz ihrer guten Beziehungen zu Russland „nicht mehr auf Russland als Sicherheitspatron in der Region verlassen“. Aserbaidschan seinerseits „hat beschlossen, die Beziehungen zu Armenien zu testen, da Russland durch die aktuelle ukrainische Gegenoffensive abgelenkt ist“. Gleichzeitig haben sowohl Usbekistan als auch Kasachstan, zwei ehemalige Sowjetrepubliken und die dominierenden Mächte in Zentralasien, eine neutrale Haltung gegenüber dem russisch-ukrainischen Krieg eingenommen. Sowohl Kasachstan als auch insbesondere Usbekistan sind entschlossen, den Einfluss Russlands auf ihre Gesellschaften zu begrenzen.
Es hat den Anschein, als habe der Krieg in der Ukraine als Katalysator für die Schwächung der regionalen Macht Russlands gedient. Er könnte auch die Zerbrechlichkeit der Russischen Föderation selbst offenbaren. Die Tatsache, dass Russland bei den jüngsten Grenzstreitigkeiten relativ passiv und unbeteiligt geblieben ist, zeigt, dass es zögert, sich an mehr als einer Front zu engagieren.
Wie auch immer der Krieg in der Ukraine ausgeht, die Fähigkeit des russischen Staates, seine multiethnische Föderation in ihrer jetzigen Form aufrechtzuerhalten, wird ernsthaft auf die Probe gestellt werden. Und ein unsicheres Russland, das mit einer weiteren Schwächung seines Einflusses konfrontiert ist, wird eine große geopolitische Herausforderung für Europa darstellen.
Das Versagen Russlands, einen Platz in einem gemeinsamen europäischen Haus zu finden, wird Europa noch Jahrzehnte lang verfolgen. Auf Gedeih und Verderb sind das Schicksal Europas und Russlands eng miteinander verwoben. Die europäischen Staats- und Regierungschefs können sich nicht länger von der russischen Frage abwenden. Sie müssen dringend die Kunst der Geopolitik neu erlernen.
Dieser Beitrag von Frank Furedi ist zuerst bei spiked erschienen.
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