Jetzt, im Winter, schätzt man die warmen und die heißen Sachen. Im Norden ist das oft der Pharisäer, ein Cocktail aus Kaffee und Rum, erfunden von jütländischen Bauern, die es leid waren, ihrer Vorlieben wegen gehänselt zu werden. Deswegen ließen sie den Rum unter einer Portion Kaffee verschwinden, und als das rauskam, soll der Wirt gerufen haben: Oh, ihr Pharisäer!
Das war gut kirchlich gesprochen, der Mann kannte das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner. Aber nicht kirchlich genug, denn die EKD, die Evangelische Kirche in Deutschland, hat in dem Heißgetränk ein böses Vorurteil entdeckt. „Wer sich einen Pharisäer im Café bestellt, der scheinheilig Alkohol im Kaffee versteckt“, belehrt sie die Gläubigen, „wird das meist nicht im Bewusstsein tun, sich gerade an einer antisemitischen Denunziation zu beteiligen“. Er reproduziere, wenn auch unbewusst, ein antijüdisches Zerrbild, dazu bestimmt, das Judentum zu diffamieren.
Dagegen macht die EKD mit ihrem „Projekt Bildstörung“ mobil. In seinem Rahmen hat sich eine Kirchmusikdirektorin im Ruhestand Bachs Johannespassion vorgeknüpft: „Antijudaismus bei Bach?“ fragt sie und analysiert den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, ist uns die Freiheit kommen“ auf ihre Art und Weise. Die Gläubigen werden angewiesen, sich bei allen Textstellen, „die ihnen nicht leicht über die Lippen kommen“, die Hand vor den Mund zu halten; sich bei Stellen, „die ihnen unverständlich sind“, hinzusetzen und dann wieder aufzustehen; alle Textstellen, „die sie am meisten stören, durch einen tiefen, hörbaren Seufzer oder ein Stöhnen zu ersetzen“. Am Ende soll jeder den Choral so singen, wie ihm gerade zumute war, mal schneller, mal langsamer, mit Pausen und Fermaten nach Belieben.
Und wer das überflüssig findet? Wem alles leicht über die Lippen kommt? Wen weder der Text noch die Musik stört, wer lieber stehen oder sitzen bleibt, sich weder den Mund zuhalten noch seufzen oder stöhnen will? Der ist schlecht dran, denn durch sein Verhalten hat er sich, wenn auch nur unbewusst, antijudaistischer Vorurteile verdächtig gemacht. Dass solche Vorurteile, gäbe es sie denn, von Bachs Musik glaubwürdiger widerlegt werden als durch eine gemeinsame Scharade, scheint eine Vorstellung zu sein, auf die eine Kirchenmusikdirektorin nicht mehr kommt. Sie steht für eine Kirche, die sich den Mund zuhält, wenn sie ihren Glauben bekennen soll.
Die Bilderstürmer sind wieder obenauf. Sie ruinieren die Zeugnisse der Kultur ebenso gründlich wie ihre Vorgänger im 16. Jahrhundert, die den Heiligenfiguren die Köpfe abschlugen, die Orgeln aufbrachen, die Altarbilder demolierten und die Kirchenbänke verfeuerten. Sie machen sich genauso lächerlich wie der Frankfurter Magistrat, der die Schausteller auf dem Weihnachtsmarkt dazu anhält, ihr Heißgetränk nicht als Lumumba, sondern unter einem anderen, politisch korrekten Namen anzubieten.
Was kommt als nächstes an die Reihe,? Das Weihnachtslied, das vom Heiland berichtet, der aus seines Vaters Schoß kommt? Was soll die moderne, inklusive, genderaktive, diversitätssensible Kirche dazu sagen? Als Hommage an die Trans-, die Inter- und die Queersexuellen begrüßen? Oder als Ausdruck toxischer Männlichkeit verdammen? Die Antwort bleibt sich gleich, denn so oder so würde es auf ein paar Dauerstellen für irgendwelche Gleichstellungsbeauftragte hinauslaufen. Viel mehr hat diese Kirche nicht zu bieten.
Neulich hat Kirsten Fehrs, die Ratsvorsitzende der EKD, über die Gottesmüdigkeit geklagt. Ein falsches Wort. Auch Kirchenmüdigkeit ginge daneben, Ratsvorsitzendenmüdigkeit träfe die Sache viel besser. Wenn es in dieser Kirche irgendwo noch Leben gibt, dann dort, wo sie ihre Wurzeln hat, in den Gemeinden; doch eben dort wird gespart und gestrichen. Wenn dann die letzte Kirche entweiht, in eine Tanzschule oder eine Moschee umgewidmet worden ist, wird die Elite-Kirche, von der Thies Gundlach, ehemals Vizepräsident des Kirchenamtes, heute schon träumt, endlich am Ziel sein.