In Ludwig Erhards Vorstellung von Marktwirtschaft spielt die Wettbewerbsordnung eine zentrale Rolle. Legendär ist sein Kampf gegen Kartelle und die von Unternehmen immer wieder versuchten Beschränkungen des Marktzugangs. Dies ist ihm mitunter als Unternehmerfeindlichkeit ausgelegt worden, jedenfalls von den Verbänden, also Lobbyisten. Dessen war er sich bewusst, und folglich hat er in seinem Buch „Wohlstand für alle“ in eigener Sache festgestellt: „Es kann in Deutschland schlechthin keinen glühenderen Verfechter der freien Unternehmungswirtschaft geben, als ich das für mich in Anspruch nehme“. Erhard war fest davon überzeugt, dass der freie Unternehmer mit dem System der Marktwirtschaft steht oder fällt. Und nach Erhards Überzeugung passte es nicht in eine auf unternehmerischer Freiheit beruhenden Wirtschaft, wenn sich der Staat selbst als Unternehmer betätigt.
Ein Kompromiss namens VW-Gesetz
Diese Vorstellungen nicht nur in Sonntagsreden zu postulieren, sondern sie auch umzusetzen, dazu hatte Erhard als Politiker in Regierungsverantwortung viele Gelegenheiten. Er nutzte sie auch, und eine dieser Gelegenheiten war die Privatisierung von Volkswagen. Die Briten hatten als Sieger- und Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg das Volkswagenwerk im Einvernehmen mit der Bundesrepublik Deutschland an das Land Niedersachsen übergeben, wobei es um die Rolle des Landes als „nur“ Treuhänder oder als Vermögenseigner Streit gab. Der CDU-geführten Bundesregierung mit Adenauer als Kanzler und Erhard als Vizekanzler und Wirtschaftsminister stand eine SPD-Regierung in Niedersachsen gegenüber.
Die Lösung des Streits war ein Kompromiss namens VW-Gesetz, der die Teil-Privatisierung von Volkswagen vorsah: Die Umwandlung der GmbH in eine AG und die Ausgabe von Aktien. 60 % der Stammaktien, das waren 3,6 Millionen Aktien im Nennwert von 100 DM, wurden verkauft, jeweils 20 % blieben bei Bund und Land Niedersachsen. In Analogie zur Erhards Motto „Wohlstand für alle“ hieß es bei der VW-Privatisierung „Eigentum für alle“: Die Aktien wurden im April 1961 als Volksaktien ausgegeben und breit gestreut. Ihr Ausgabepreis betrug 350 D-Mark, das Angebot war zu 85 % überzeichnet. Die VW-Aktie notierte am ersten Handelstag mit 750 D-Mark. Heute wäre die Aktie – trotz des Kurssturzes der vergangenen Wochen – etwa 2.200 Euro wert, außerdem hätte sie dem Aktionär seither fast 600 Euro an Dividendenzahlungen eingebracht.
Warum dieser Exkurs in die Wirtschaftsgeschichte? Weil man diese Vorgeschichte kennen muss, um die Vorgänge in Wolfsburg, die uns heute als „Dieselgate“ beschäftigen, verstehen zu können. Apropos „Dieselgate“: Mit diesem Begriff waren die Medien sehr schnell bei der Hand und die Bezugnahme auf den Watergate-Skandal könnte den Eindruck erwecken, dass da investigative Journalisten als Aufklärer gewirkt haben könnten. Das ist im VW-Fall bekanntlich nicht der Fall.
Dieselgate? Journalisten haben nichts aufgedeckt
Obwohl zigtausende Motorjournalisten die Autobranche begleiten, unter jede Motorhaube schauen wie jüngst wieder auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt, sich an Motorleistungen und Beschleunigungswerten berauschen und am liebsten jeden Schweißpunkt beschreiben, ist ihnen der Abgasskandal offenkundig verborgen geblieben.
Auch bei der Analyse der Ursachen für diesen einzigartigen Skandal bleiben die meisten Journalisten bei der Beschreibung des offen Sichtlichen oder delektieren sich am Fingerdeuten auf die vermeintlich Schuldigen. Die Analyse der Rahmenbedingungen, die zu solch einem Fehlverhalten auf den verschiedensten Verantwortungsebenen eines Unternehmens führten, fehlt weitgehend.
Deshalb zurück zum VW-Gesetz. Es steht für eine auf halbem Wege stecken gebliebene Privatisierung. Es hat wirtschaftliche und gesellschaftsrechtliche Verhältnisse zementiert, die vor mehr als 50 Jahren vielleicht angemessen waren, die aber nicht mehr in die heutige Zeit und in unser Verständnis von guter Unternehmensführung passen. Erhards Nachfolger haben leider nie den Mut und die Energie aufgebracht, die Privatisierung von Volkswagen zu vollenden, das VW-Gesetz abzuschaffen und damit den Konzern in einen Wettbewerb zu entlassen, wie er einer marktwirtschaftlichen Ordnung angemessen wäre und wie ihm sich andere Autokonzerne stellen mussten.
Der Bund hat seinen Anteil zwar 1988 verkauft, das Land Niedersachsen hat sich jedoch krampfhaft an seine Beteiligung geklammert, selbst unter Landesregierungen der CDU mit liberalem Koalitionspartner. Niedersachsen hat das VW-Gesetz mit Zähnen und Klauen und Rückendeckung der Bundesregierung zwei Mal gegen die EU-Kommission bis vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) erfolgreich verteidigt. Die früheren EU-Binnenmarkt-Kommissare Frits Bolkestein und Michel Barnier sahen im VW-Gesetz einen Verstoß gegen den freien Kapitalverkehr in der EU und als politischen Schutzwall gegen feindliche Übernahmen, was es ja auch war und ist.
Das VW-Gesetz hat zu besonderen Verhältnissen in Wolfsburg geführt und es hat den Zuständen dort, wie sie aktuell in der Abgas-Affäre nach und nach ans Tageslicht kommen, zumindest Vorschub geleistet. Es ist eben kein Zufall, dass die Manipulationen in so großem Stil über einen so langen Zeitraum hinweg bei Volkswagen stattfanden und nicht beispielsweise bei BMW oder Daimler.
Was waren nun die konkreten Folgen des VW-Gesetzes und was haben sie mit den Abgasmanipulationen zu tun?
Erstens: Das VW-Gesetz hat einen Schutzwall um den Konzern errichtet und damit Wettbewerbsdruck vom Unternehmen genommen. Zwar sind einige Regelungen des VW-Gesetzes, wie die Beschränkung des Stimmrechts auf 20 % und das Entsenderecht des Landes Niedersachsen von zwei Vertretern in den Aufsichtsrat nach dem ersten EuGH-Urteil von 2007 in der Überarbeitung beseitigt worden. Doch das Vetorecht mit einer 20-%-Sperrminorität lebt fort. Dies gilt vor allem für Kapitalmaßnahmen und für Satzungsänderungen. Damit wurde eine feindliche Übernahme faktisch ausgeschlossen.
Dies hat über Jahrzehnte dazu geführt, dass der Börsenwert von VW wegen der fehlenden Übernahmephantasie immer deutlich hinter den Bewertungen anderer Automobilhersteller zurückblieb. Das machten sich bekanntlich die Familien Piech und Porsche zunutze, die erst über den von ihnen beherrschten Sportwagenhersteller Porsche die VW-Übernahme versuchten und dann mit Plan B, nämlich der Übernahme von Porsche durch VW , ans Ziel kamen und die Stimmenmehrheit bei VW erlangten.
Bei Volkswagen fehlte der Druck, für einen höheren Börsen- und Unternehmenswert auf die Ertragskraft zu achten. Größe ging vor Ertrag, Umsatz vor Gewinn, denn vordergründig sicherte Mengenwachstum die Arbeitsplätze und Produktionsstandorte in Niedersachsen. Make-or-buy-Entscheidungen wurden tendenziell zugunsten des „Make“ entschieden, eigenentwickelte Technologien bekamen den Vorzug vor Entwicklungen der Konkurrenz, selbst wenn letztere technologisch überlegen waren. Dies war bekanntlich auch bei den Dieselantrieben der Fall, wo – nach allem, was man bisher weiß – die VW-Technologie schwächere Leistungs- und Abgaswerte zeigte als die Technologie von Konkurrenten (Bluetec) und man eine teurere technische Lösung durch die bekannten Manipulationen vermeiden wollte. Das Denken in Volumen anstatt in Wertsteigerung förderte die Großmannssucht, die sich auch im Ziel dokumentierte, der größte Autokonzern der Welt zu werden. Diesem Ziel wurde vieles untergeordnet.
Zweitens: Das VW-Gesetz hat dafür gesorgt, dass die Macht der Arbeitnehmer bzw. der Gewerkschaft IG Metall in Wolfsburg größer war als die des Eigentümers bzw. der Aktionäre. So bedürfen Beschlüsse zur Errichtung und Verlegung von Produktionsstätten eines Mehrheitsbeschlusses des Aufsichtsrates von zwei Dritteln. Faktisch bedeutet dies, dass angesichts der paritätischen Mitbestimmung die Arbeitnehmerseite im AR solche Beschlüsse immer verhindern kann. Dass der Vorstand angesichts einer solchen Gemengelage bestimmte unternehmensstrategische Optionen erst gar nicht prüft und zur Diskussion stellt, um sein Verhältnis zum Aufsichtsrat nicht zu belasten, liegt auf der Hand.
Um trotzdem die Zustimmung der Arbeitnehmerseite für bestimmte Projekte zu erhalten, zumal für Rationalisierungs- und Sparvorhaben, sind oftmals kompensatorische andere Maßnahmen zugunsten der Belegschaft Voraussetzung gewesen. Die Vielzahl von Besserstellungen im VW-Haustarif gegenüber dem Metalltarif der Branche ist eines der Ergebnisse. In der Praxis hat sich überdies eine Kungel-Mentalität entwickelt, in der die Kontrolle zu kurz kam und berechtigte Kritik an der von Vorstand und Arbeitnehmervertretung ausgehandelten Unternehmenspolitik abgebügelt wurde. Dies leistete einer Führungskultur nach Gutsherrenart Vorschub, die sich nicht erst mit Martin Winterkorn in Wolfsburg etablierte, sondern schon unter dem Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piech.
Drittens: Das VW-Gesetz hat Governance-Strukturen gefördert, die dem Vorstand faktisch eine deutlich größere Macht zukommen lassen, als dies nach dem Aktiengesetz und dem Corporate-Governance-Kodex vorgesehen ist. Denn aufgrund der einseitigen Fokussierung der Aufsichtsratsmehrheit auf standortpolitische und personalwirtschaftliche Themen war und ist die Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat bei anderen Themen nur eingeschränkt gegeben bzw. konnte vom Vorstand durch geschicktes Taktieren ausgehebelt werden. Dies gilt insbesondere für Finanzierungs- und Kapitalmarktthemen und für unternehmensstrategische, organisatorische und technologische Themen.
Too big to fail – too connected to fail
Es ist bezeichnend, dass IG Metall-Chef Detlef Wetzel umgehend Arbeitnehmer und Gewerkschaft von einer Mitverantwortung für den Manipulationsskandal freistellte: Die Frage, welche Komponenten und Software man in einen Motor einbaue, sei keine Frage der Mitbestimmung, so der IG Metall-Chef. Wer sein Mandat so eng versteht, scheint die Arbeit und Verantwortung eines Betriebsrats von der eines Aufsichtsrats nicht unterscheiden zu können. Beide, Betriebsräte und IG-Metall-Funktionäre, nehmen im Aufsichtsrat von VW seit jeher herausgehobene Positionen ein. Wer im Aufsichtsrat mitbestimmt, trägt auch Mitverantwortung für Fehler und Versäumnisse. Da kann man sich nicht hinstellen wie IG-Metall-Chef Wetzel und sagen: „Wir zahlen nicht für eure Krise“.
Im Aufsichtsrat von VW haben die Vertreter der familiären Großaktionäre und die Vertreter des Landes Niedersachsen genauso versagt wie die Vertreter der Arbeitnehmer und der Gewerkschaft. Und damit alle – bis auf das einzige wirklich unabhängige AR-Mitglied Annika Falkengren, Chefin der schwedischen SEB-Bank, die allerdings in einem solchermaßen zusammengesetzten Gremium auf verlorenem Posten steht.
Ich kenne keinen Dax-Konzern, in dem ein ehemaliger IG-Metall-Chef nolens volens den Aufsichtsratsvorsitz übernommen hat. Man mag dies als Ausnahmefall ansehen, weil die Kapitalseite im Frühjahr nicht in der Lage war, einen Nachfolger für den zurück getretenen Aufsichtsratsvorsitzenden Ferdinand Piech zu präsentieren. Doch auch dieser Vorgang damals und seine Bewältigung bzw. Nichtbewältigung durch das Aufsichtsratspräsidium zeigt die Defizite der Wolfsburger Governance, die ihre Ursache im VW-Gesetz haben. Es hat den größten Automobilkonzern Europas abhängig gemacht von den Launen eines vielleicht genialischen, mit Sicherheit aber despotischen Managers und den Befindlichkeiten eines zerstrittenen Familienclans.
Auf der Kapitalseite im Aufsichtsrat fehlt es an unabhängigen und fachlich geeigneten Persönlichkeiten, zumal die beiden Vertreter der Landesregierung für den Vorsitz ausscheiden. Bezeichnenderweise nutzt das Land seine AR-Sitze nicht, um ausgewiesene Experten in den VW-Aufsichtsrat zu schicken. Vielmehr wird der Aktionär Niedersachsen traditionell vom Ministerpräsidenten und dem Wirtschaftsminister vertreten. Das bewirkt je nach Themenlage eine Politisierung von Unternehmensentscheidungen, symbolisiert aber auch die systemrelevante Dimension des VW-Konzerns, der zumindest aus niedersächsischer Perspektive längst „too big to fail“ und mit Blick auf die Zulieferbeziehungen auch „too connected to fail“ ist.
Die offenkundige strukturelle Schwäche des VW-Aufsichtsrats hat nicht nur Ferdinand Piech einst als VW-Chef geschickt genutzt, indem er die Arbeitnehmerseite durch Aufdeckung der Brasilien-Lustreisen in die Defensive zwang und über seine Rolle als Porsche-Mehrheitsaktionär das Land Niedersachsen unter Ministerpräsident Christian Wulff unter Druck setzte. Auch Martin Winterkorn konnte es sich im Vertrauen auf die Solidarität von VW-Betriebsratsvorsitzendem und AR-Präsidiumsmitglied Bernd Osterloh leisten, in den Machtkampf mit Großaktionär Piech zu gehen und eine abermalige Vertragsverlängerung als Vorstandsvorsitzender zu vereinbaren.
Wie stark die Position Winterkorns gegenüber seinem Aufsichtsrat und nicht zuletzt Osterloh tatsächlich war, zeigten die Winterkorn zugebilligten Rekordgehälter und die Absicht Winterkorns, Osterloh zum Personalvorstand zu machen. Das wäre der Gipfel der Kungelei zwischen Vorstand, Arbeitnehmer- und Eigentümervertretern im Aufsichtsrat und Betriebsrat gewesen.
Wie wir wissen, kam es anders. Doch anstatt nun einen wirklichen Neuanfang zu wagen, mit dem das Vertrauen der Kunden, der Mitarbeiter, der Aktionäre und der Gesellschaft insgesamt zurück gewonnen werden kann, soll die Aufräumarbeiten als Aufsichtsrats-Vorsitzender mit Wolfgang Pötsch nun ein Manager leiten, der seit 2003 dem VW-Konzernvorstand angehörte und damit Teil des alten Systems ist. Selbst wenn Pötsch nichts von den Manipulationen geahnt oder gar gewusst hat, was ich gerne annehme, selbst wenn er eine integere Persönlichkeit und ein fachlich sehr anerkannter Manager ist, so trägt er wie jeder als Vorstand eine Gesamtverantwortung – nicht für die spezielle Täuschung, sondern für die Defizite in der Governance, in der Compliance und in der Führungskultur des VW-Konzerns.
Dass mit Pötsch der bisher im Vorstand auch für das Konzerncontrolling Verantwortliche nun als Aufsichtsratsvorsitzender das Versagen der Überwachung aufklären soll, halte ich für mehr als problematisch. Es ist in der gegenwärtigen Ausnahmesituation nur zu akzeptieren, wenn ihm erfahrene und wirklich unabhängige Aufsichtsratskollegen zur Seite gestellt werden. Denn nach allem, was man bisher weiß, handelte es sich ja nicht um geheime Tricksereien einiger weniger Software- und Motorenspezialisten, sondern um eine breit angelegte Manipulation von 11 Millionen seit dem Jahr 2008 verbauten Dieselmotoren, die einem großen Kreis von VW-Mitarbeitern und Führungskräften bis in den Vorstand hinein bekannt waren.
VW-Gesetz abschaffen: Neuanfang starten
Ludwig Erhard und der VW-Konzern haben etwas gemein. Beide stehen symbolhaft für das deutsche Wirtschaftswunder. Es muss verhindert werden, dass die kriminellen Machenschaften bei Volkswagen und der damit ausgelöste Imageschaden den Ruf der deutschen Wirtschaft beschädigen, dass sie das „Made in Germany“ diskreditieren, dass sie das Vertrauen in unser Wirtschaftssystem untergraben und das sie die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft aufs Spiel setzen.
Es waren gerade die vom VW-Gesetz vorgegebenen Ausnahmen vom marktwirtschaftlichen System der Kontrolle durch den Wettbewerb und guter Corporate Governance, die dem aktuellen Skandal zumindest Vorschub geleistet haben. Es ist höchste Zeit, das VW-Gesetz abzuschaffen und so den Neuanfang bei Volkswagen – manche sprechen auch hier von Kulturwandel – zu begleiten, damit dem Unternehmen eine wirklich neue Zukunft ermöglicht wird und die von Ludwig Erhard angestoßene Privatisierung vollendet werden kann.
Aus der Dankesrede von Claus Döring, Chefredakteur der Börsen-Zeitung, für die Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik an ihn in Berlin am 8. Oktober 2015.