Die russische Invasion scheint an einem Tag mehr bewirkt zu haben als alle konservativen Denker und Politiker in den letzten zwei Jahrzehnten. Viele Themen und Positionen, die vor einer Woche noch in Politik, Medien und Expertengremien als „rechts“ verschrien waren, sind über Nacht zu Allgemeinplätzen geworden, die mit größter Natürlichkeit von allen Dächern schallen.
Abschied von der Energiewende
Nahezu alle Parteien hatten bislang die sogenannte „Energiewende“ als „alternativloses“ Engagement gegen den Klimawandel gefeiert: Deutschland konnte sich nicht schnell genug seiner angeblich „schmutzigen“ Energiequellen wie Atom- und Kohlestrom entledigen – da waren regelmäßige Blackouts sowie die Abhängigkeit vom russischen Gas kleinere Kollateralschäden, die man gerne in Kauf nahm, um das „Klima zu retten“. Heute ist nicht nur die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 auf die griechischen Kalenden verschoben, sondern auch eine erste zaghafte Überlegung geäußert worden, ob man denn nicht vielleicht „ausnahmsweise“ die zwar abgeschalteten, aber noch funktionsfähigen Reaktoren und Kohlewerke wieder in Betrieb nehmen sollte.
Wiederentdeckung der Maskulinität und des Patriotismus
Eng damit verbunden ist das Umdenken im Bereich der Geschlechterbilder. Maskulinität – man wurde nicht müde, es uns immer wieder einzutrichtern – ist „toxisch“, muss dekonstruiert und gebrochen werden, um endlich jene friedliche und egalitaristische Utopie zu errichten, deren Realität linksgrüne Erzieherinnen doch bereits so erfolgreich in deutschen Kitas umgesetzt haben. Nun aber entdecken Journalisten, Politiker und Analysten urplötzlich, dass Gesprächskreise, Rollenspiele, Geschlechtertausch und marxistische Selbstkritik wenig hilfreich gegen physische Aggression sind, und schwenken auf eine Verherrlichung des männlichen Heldentums der Ukrainer und ihres Präsidenten ein, die nur noch staunen lässt.
Selbst der „Patriotismus“, bislang auf der routiniert eingeseiften Eskalationsrutschbahn des deutschen Journalismus nur Halbsätze von den Begriffen Nationalismus, Faschismus, Nazismus und Völkermord entfernt, wird in den höchsten Tönen gelobt, wie ohnehin genau jene nationale Souveränität, die man bis zum Tag vor der russischen Invasion noch am liebsten abschaffen wollte, um angeblichen „Autokraten“ in Polen und Ungarn keine Möglichkeit mehr zu geben, ihrem Land die Beglückung durch die „europäischen Werte“ vorzuenthalten, nunmehr zum höchsten Gut der Demokratie erklärt wird.
Selbst Polen und Ungarn werden rehabilitiert
Dazu gehört dann auch die en passant als „ganz natürlich“ vorgestellte Situation, dass gerade nur Frauen und Kinder die Ukraine verlassen und am liebsten so nahe wie möglich an der geliebten Heimat verbleiben wollen, um rasch wieder nach Hause zurückzukehren, während die Männer gar nicht erst die drakonischen Militärgesetze gebraucht hätten, um sich freiwillig zum Dienst im Heer zu melden: Merkt denn niemand den himmelschreienden Gegensatz zum bislang üblichen Flüchtlingsdiskurs, wo es als normal präsentiert wurde, dass es im Wesentlichen nur junge und wehrfähige Männer waren, welche die angeblichen „Risikogebiete“ (wie etwa Algerien oder Marokko) verließen, um sich einige tausend Kilometer weiter ebenso behaglich wie dauerhaft in Deutschland einzurichten?
„Timeo Danaos et dona ferentes“, wird man da wohl denken: Wie ehrlich ist jene abrupte identitätspolitische Kurswende nicht nur der deutschen linksliberalen Eliten nun einzuschätzen? Handelt es sich nur um eine vorübergehende Erscheinung oder eine langfristige Entwicklung?
Paradigmenwechsel zu einer kulturpatriotisch legitimierten Politik
Auf der einen Seite wird man tatsächlich unterstellen müssen, dass gewisse ideologische Positionen sich durch ihre konkrete Realisierung so diskreditiert haben, dass die herrschende Elite nur allzu dankbar für einen äußeren Anlass sein dürfte, diskrete Kurskorrekturen vorzunehmen und sich dadurch geschickt der Verpflichtung zum Eingeständnis des eigenen Scheiterns zu entziehen. Die allmähliche Abwendung von der Energiewende dürfte ebenso ein Fall später Einsicht sein wie die Entscheidung zur Aufstockung der Kapazitäten der deutschen „Parlamentsarmee“, welche angesichts der zunehmenden Befürchtung nicht nur äußerer, sondern auch innenpolitischer oder EU-interner Konflikte durchaus mit einigen Hintergedanken verbunden sein könnte.
Andere Verschiebungen des Narrativs hingegen, wenn es etwa um die neuentdeckte Liebe zur polnischen und ungarischen Migrationspolitik oder um die Wertschätzung des heroischen Patriotismus der Ukrainer geht, wird man wohl als reinen Opportunismus einschätzen müssen, der spätestens dann vergessen sein wird, wenn es in einigen Jahren darum gehen sollte, der dann zur EU gehörenden Ukraine die Bedeutsamkeit von weißer Kollektivschuld und LGBTQ-Kultur zu vermitteln.
Statt genderfluider Krieger stützen jetzt hart trainierte Soldaten Berlin und Brüssel
Nun wäre es nicht nur verfrüht, sondern auch falsch, als Konservativer allzu früh in Hurra-Rufe auszubrechen und endlich eine Rückkehr zum „Common Sense“ oder gar, Gott behüte, zur angeblich „heilen“ Welt der guten alten 1980er anzunehmen. Genauso wie auch die kommunistische Partei Chinas sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Einsicht durchgerungen hat, dass sich ihre Macht durch den Staatskapitalismus besser als durch den maoistischen Kollektivismus garantieren lassen würde, mag es nunmehr auch der Fall sein, dass die linksliberalen Eliten ihren eigenen Kurs durch partielle Übernahme konservativer Rhetorik zu stützen versuchen, ohne dabei doch ihr faktisches Machtmonopol aufgeben oder den Grundelementen ihrer Ideologie abschwören zu wollen: Anstatt genderfluiden Kriegern sind es eben hart trainierte Soldaten, welche die Mächtigen in Berlin und Brüssel stützen; und anstatt die Zustimmung zu Globalismus, Multikulturalismus und Milliardärssozialismus durch die „Menschenrechte“ zu legitimieren, werden sie zur patriotischen Pflicht im Kampf gegen Russland (und China) heroisiert.
Ist dies ein Fortschritt, jedenfalls aus langfristiger, gleichsam universalhistorischer Perspektive? Vielleicht ist es das tatsächlich, denn so manche provisorische rhetorische Umdeutung der eigenen Ziele erzwang früher oder später dann auch eine inhaltliche Wende, und viele Schauspieler verschmelzen schlussendlich mit ihrer Rolle – nicht immer zu ihrem charakterlichen Nachteil, wie etwa Harald Schmidt beweist.
Jedenfalls scheint sich zunehmend zu bestätigen, was vor einigen Jahren nur eine vage Spekulation schien, als ich anhand der Analogien zwischen dem modernen Westen und der niedergehenden römischen Republik vermutete, dass es geschichtlich nur wenig Unterschied machen würde, ob eine „augusteische“ Revolution nun dadurch stattfände, dass eine konservative „populistische“ Opposition an die Macht käme und sich zwecks wechselseitiger Überlebensgarantie mit dem linksliberalen Deep-State arrangiere, oder ob sich die linksliberalen Eliten zunehmend konservativ gerieren würden, um einen drohenden Umsturz von rechts zu vermeiden. Wenn natürlich auch die innere ideologische (und machtpolitische) Motivation eine ganz andere ist – nach spätestens einer Generation dürfte das Resultat weitgehend identisch aussehen. Hierin liegt nicht nur eine Lektion für die Linke, sondern auch die Rechte – aber wird Letztere diese auch verstehen und beherzigen?
Professor Dr. David Engels ist Senior Analyst am Instytut Zachodni in Poznań.