Tichys Einblick
Anmerkungen eines Kultur-Epidemiologen

Eine Infektion der Kommunikationswege

Wir erleben im ganzen Raum des alten Westens eine Moralitis-Epidemie – eine sich immer weiter ausbreitende Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung. Die Seuche leichtfertigen Moralisierens ist dabei, der offenen Gesellschaft langsam und schmerzvoll den Garaus zu machen. Von Michael Andrick

Die Symptome einer unbehandelten Moralitis sind an jeder beliebigen Kontroverse der gegenwärtigen deutschen Politik erkennbar. Betrachten wir ein Beispiel, um dann Ursachen und mögliche Therapien zu bedenken.

„Solidarität mit den Angegriffenen“ oder Friedensverhandlungen?

Im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärte mir der Moderator kürzlich, es gehe in der Ukraine-Debatte um die moralische Frage der „Solidarität mit den Angegriffenen“. Die These, es gehe bei Kriegen nicht um gescheiterten internationalen Interessenausgleich, sondern auch darum, für die moralisch richtige Seite Partei zu ergreifen, ist so alt wie der Krieg selbst.

Sascha Lobo hatte im teils von der Gates-Stiftung finanzierten, durch zahlreiche Redakteur-zu-Ministerialsprecher-Karrieren regierungsnahen Magazin Spiegel schon im Frühjahr 2020 diesen Ansatzpunkt gewählt. Dabei schrieb er sich in einen wahren demagogischen Furor.

Mit Blick auf Redner einer kirchlichen Veranstaltung sprach er von „Lumpenpazifisten“, die eine „zutiefst egozentrische Ideologie“ verträten. In ihrer Egozentrik „feierten“ die Kriegsgegner – dies ist ein wörtliches Zitat – „die eigene Ungerührtheit angesichts totgebombter Kinder“ in „maliziöser“ Weise. Friedensbewegte als gewissenlose Unmenschen … Diese Perfidie macht der Spiegel sich bis heute zu eigen, frei zugänglich auf seiner Internetseite.

Moralisierung: Der Einstieg ins Endspiel

Zur Wirkung solcher Ausfälle später mehr; zunächst halten wir fest: Bei jeder politischen Frage gibt es einen moralischen Aspekt, der sich rhetorisch mobilisieren lässt. Ob eine bestimmte Politik gerecht oder ungerecht ist, lässt sich nicht mit einem Blick auf die Kalküle eines realpolitischen Interessenausgleichs klären. Ob eine Politik legitim ist, können wir nur mit Hilfe von Grundsätzen des Guten und Rechten beantworten, die als allen Gesetzen und Verträgen vorausliegend betrachtet werden. Diese Frage aber ist die Frage nach der richtigen Moral, dem letzten Prüfstein aller Politik.

Im deutschen Grundgesetz ist diese Logik zu erkennen. Artikel 1 behauptet die gleiche Würde jedes Menschen, die Grundrechtsartikel buchstabieren aus, was diese Würde erfordert. Das Würdepostulat ist eine moralische Wertsetzung; die Grundrechte leiten ihre unmittelbare Rechtsgeltung in jeder denkbaren Situation aus dieser moralischen Setzung ab.

Die Moralisierung einer Diskussion ist also nicht grundsätzlich unsinnig oder gar ungerecht. Aber sie führt immer auf die Ebene des ultimativen, unversöhnlichen Konflikts. Durch Moralisierung wird im Privaten das Endspiel um die Beziehung eingeläutet. Wird öffentlich moralisiert, so ist das Demagogie (Volksverhetzung): Jemand gibt Anweisungen an seine Anhänger, wie genau sie diejenigen abwerten sollen, die nicht mit ihm übereinstimmen. Das kann der Keim eines erst rhetorischen und dann realen Bürgerkriegs sein.

Weg von der Sache, hin zur Person

Wo wie in Lobos Text die Erwägung einer Sachlage moralisiert wird, da geschieht logisch immer dasselbe: Die Sachebene wird verlassen, denn der Fokus der Diskussion wandert vom Kriegsproblem zu den beteiligten Personen. Der Modus der Diskussion wird von Anfrage – „Wie ist das zu verstehen? Was wäre die richtige Politik?“ – auf Anklage verlagert: „Was bist du nur für ein Mensch, dass du X denkst oder sagst?“

Damit wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die sich als Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung veranschaulichen lässt: Der als sittlich minderwertig Geschmähte ist beleidigt oder muss, wenn die Schmähung öffentlich geschah, nun um seinen Ruf fürchten und wird direkt erwidern wollen – um nachzuweisen, dass er kein Unmensch ist. „Nein, ich bin nicht egozentrisch, und sterbende Kinder lassen mich nicht kalt!“, möchte der von Lobo diffamierte Kirchenobere sicher ausrufen.

Aber untergründig geschieht hier noch viel mehr; das Geschehen ist viral. Eine öffentliche Schmähung zwingt jedem, der nicht ein furchtloser Held oder spirituell gefestigt ist, eine ganz neue Verhaltenslogik im sozialen Umgang auf.

Sozialer Ausschluss ist für das Rottenwesen Mensch gefährlich und wird vor allem anderen von ihm gefürchtet; also wird das Sprechen in der Situation moralischer Anfeindung zu einem ganz pragmatischen Abwehr- und Schutzakt: Man sagt, was man vermutet, sagen zu müssen, um nicht sozial ausgegrenzt zu werden.

Abschied von der Wirklichkeit

Demagogie erniedrigt viele Bürger zu verängstigten Stammlern von Absicherungsfloskeln: „Ich bin nicht rechts, aber …“, „Russland hat die Ukraine überfallen, ich sehe aber auch …“, usw. Man sagt, was immer verspricht, sich in einer ausreichend großen Diskurs-Fraktion in Sicherheit zu bringen.
Auf der Sachebene gibt es über Rechtsradikalismus und den Kontinentalkrieg in Europa und seine Vorgeschichte viel zu wissen, bevor ein Urteil sinnvoll gefällt werden kann. Aber die paranoische Atmosphäre von Ausgrenzungs- und Äußerungsangst, von der Umfragen schon lange und mit immer negativerer Tendenz berichten, verunmöglicht der Mehrheit der Nicht-Helden sozial die Sachdebatte.

Das Ergebnis ist ein Diskussionsniveau, das von Fachwissen und eigener Arbeit lebende Zeitgenossen nur noch mit Fremdscham ertragen oder ganz abschalten. Wir werden dumm vor Angst. Aus Nächstenliebe verzichte ich hier auf eine Reihung ungrammatischer, sinnarmer bis manchmal völlig sinnfreier Originalzitate reichweitenstarker Personen.

Dringt die öffentliche Diskussion nicht mehr zu Tatsachen vor, sondern verweilt sie in politischen Zuordnungs-Floskeln, mit denen klargestellt wird, dass man „den Klimawandel total ernst nimmt“ oder „die Solidarität mit den Vulnerablen ganz wichtig findet“, so verlieren wir als Gesellschaft schlicht den Kontakt mit der Wirklichkeit. Wir landen im Moralgefängnis.

Der Weg zurück zum Pluralismus

Es bedarf einer doppelten Bewegung, um die moralinverseuchte, der Wirklichkeit entfremdete deutsche Politik zu heilen – und das Land wieder zu einem Ort gelebter Pluralität zu machen. Die Bürger selbst sollten in ihrem Alltagsverhalten etwas ändern, und die politisch Handelnden müssen durch institutionelle Reformen einen Rahmen setzen, der diese Veränderung stützt.

Allen Bürgern obliegt es, sich die Mechanismen spalterischen Handelns vor Augen zu führen und die eigene Kommunikation so zu gestalten, dass leichtfertiges Moralisieren vermieden wird. Dazu ist eine Sensibilisierung für die Muster moralisierender Diskursverzerrung nötig, wie zum Beispiel „Umstrittenmachen“, „Abkanzeln“ oder „Kontaktverschulden“: Irgendwem Unliebsame werden pauschal für „umstritten“, also tendenziell unseriös, erklärt, von Bühnen und aus Medien verbannt oder für ihre räumliche oder inhaltliche Nähe zu noch unliebsameren Personen „kontaktschuldig“ gesprochen. Wo wir diese Moralitis-Symptome erkennen, da müssen wir sie aktiv zurückweisen.

Nötig sind auch institutionelle Veränderungen. Wie in Unternehmen und Verwaltungen ändert sich substanziell auch in der Republik als ganzer erst dann etwas, wenn die Regeln verändert werden, nach denen Informationen zugänglich gemacht und Entscheidungen getroffen werden.

Am wichtigsten sind meines Erachtens drei Punkte: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte künftig von aus der Bevölkerung ausgelosten Bürgerräten kontrolliert werden, die selbst den Intendanten wählen und bei Vertrauensverlust auch kurzfristig ersetzen können. Die Staatsanwaltschaften müssen von den Justizministern vollkommen unabhängig gemacht werden, damit die gleiche Anwendung von Recht und Gesetz auf alle unabhängig von Regierungsinteressen garantiert ist.

Schließlich müssen die oberen Bundesbehörden wie das Paul-Ehrlich-Institut und das Robert-Koch-Institut mit ihrer herausragenden fachlichen Expertise aus dem Bannstrahl der Politik genommen werden, indem ihre Leitungsebene nicht mehr von der Bundesregierung ernannt wird. Die dortigen Belegschaften mit ihren gewerkschaftlichen Vertretungen müssen ermächtigt werden, am freien Markt solche Persönlichkeiten zu rekrutieren, die ihre Institute zu unabhängigen Beratern und auch widerständigen Korrektivinstanzen zur Regierung machen.

Jeder kann mithelfen, die Infektion der Kommunikationswege mit dem Kulturvirus Moralin einzudämmen; aber nicht jeder hat die politische Macht, um institutionelle Reformen durchzusetzen. Um der politischen Klasse Beine zu machen, muss zuerst in mutiger freier Rede ein Konsens erzeugt werden, dass die Bundesrepublik einer Generalüberholung hin zu partizipativer, nicht mehr im Parteienfilz erstarrter Demokratie bedarf.


Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Sein neuestes Buch „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden“ zu den Ursachen des angstbesetzten Sozialklimas in Deutschland ist im TE Shop erhältlich.


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