Straftaten 1.527 : Sexualdelikte, Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Beleidigung. 1.218 Opfer, von denen 626 Sexualstraftaten erleiden mussten. 153 Tatverdächtige, davon offenbar 149 nordafrikanischer Herkunft. Die Bilanz einer einzigen Nacht. Die ungeschönten Fakten zur Silvesternacht in Köln.
Wie konnte es soweit kommen? Weshalb hat die Polizei die Frauen vor den beschämenden und schrecklichen Angriffen nicht beschützen können? Wo lagen Fehler in der Planung und Nachbereitung der Silvesternacht? Warum wurde erst so spät Konkretes über die Tatverdächtigen bekannt? Gibt es womöglich grundlegende, strukturelle Defizite in unserem Land, die solche Ausschreitungen begünstigt haben? Und wieso haben Innenminister Jäger und Ministerpräsidentin Kraft so lange zu den erschütternden Vorfällen geschwiegen?
Fragen, die aufgeklärt werden müssen. Denn aus der Gewalteskalation in Köln müssen Konsequenzen gezogen werden. Unser Rechtsstaat muss handlungsfähig und wehrhaft sein. Derartige Übergriffe dürfen sich nicht wiederholen. Um die Ereignisse zu analysieren und nötige Schlüsse zu ziehen, beschäftigt sich seit Mitte Februar ein Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags intensiv mit den Ereignissen.
Die Silvesternacht legt Grundmängel offen
Nach den ersten Zeugenvernehmungen gibt es bereits Erkenntnisse: rund um die Silvesternacht hat es offenbar schwere Versäumnisse in der Kommunikation aller Beteiligten gegeben. Dies scheint auch eine der Ursachen für den mangelnden Gesamtüberblick sowie eine fehlende Lageeinschätzung mit dramatischen Folgen zu sein. Und ein zweiter Eindruck scheint sich ebenfalls verfestigen: die rot-grüne Landesregierung – allen voran der forsch auftretende Innenminister – hat erkennbar kein Interesse, die unzähligen Pannen und Ungereimtheiten umfassend aufzuklären.
Als besonders erschreckend erweisen sich Aussagen des in der Silvesternacht diensthabenden Chefs der Leitstelle im Kölner Präsidium. Unfassbar, was er dem Ausschuss geschildert hat: Eher zufällig habe er als oberste Koordinierungsstelle Kenntnis von der Räumung der Bahnhofsplatte erhalten. Offenbar wusste er nicht einmal, welche Verstärkungskräfte konkret zur Verfügung gestanden hätten. Darüber hinaus habe er aber auch nie den Eindruck gewonnen, dass irgendetwas in dieser Nacht aus dem Ruder gelaufen sei. Er habe auch keine Informationen darüber erhalten. Erschütternd.
Bei derartigen Aussagen kann einem nur angst und bange werden. Standards und wesentliche Abläufe haben in Köln offensichtlich nicht funktioniert, geschweige denn ineinander gegriffen. Geradezu unvorstellbar: Ein gegenseitiger Informationsaustausch blieb zeitweise wohl ganz auf der Strecke. Es drängt sich der Eindruck auf, als haben alle Beteiligten neben- statt miteinander gearbeitet. Und nach bisherigen Zeugen-Aussagen scheint dies kein singuläres Problem der Silvesternacht zu sein. Das ist eine besorgniserregende Erkenntnis.
Es darf nun aber auch nicht darum gehen, mit dem Finger auf die Polizei oder einzelne Beamte zu zeigen. Im Gegenteil. Denn unsere Polizei in NRW macht grundsätzlich einen hervorragenden Job. Sie hat unseren ausdrücklichen Dank und Respekt für ihren tagtäglichen Einsatz verdient.
Es geht aber um Frage, ob und wie die Land Nordrhein-Westfalen seiner Fachaufsichtspflicht gerecht wird. Unsere Vermutung, dass es auch hier strukturelle Defizite gibt, hat sich in den letzten Wochen erhärtet.
Die rot-grüne Landesregierung mauert
Diese Mängel müssen klar benannt werden, um daraus Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Genau das vernachlässigt die Landesregierung, die mehr damit beschäftigt ist, alle Schuld möglichst von sich zu schieben. Rot-Grün redet lediglich viel von Transparenz, sorgt jedoch nicht für Aufklärung. Nach der Zeugenvernehmung von Innenminister Jäger gibt es mehr Fragezeichen als vorher, weil er sich in Widersprüche verstrickt hat.
Erst behauptet der Innenminister, die Polizeimeldungen über mehrfache sexuelle Belästigungen und eine Vergewaltigung begangen durch große Männergruppen offenbar nordafrikanischer Herkunft am Hauptbahnhof Köln sei nicht herausstechend gewesen und er sei auch nicht – wie das sonst bei einem solchen Fall üblich sei – telefonisch informiert worden. Einen Atemzug später Innenminister beteuert er, bei der Kombination aus Sexual- und Eigentumsdelikten habe es sich um ein europaweit völlig neues, unvorhersehbares Phänomen gehandelt. Dann aber hätten die Meldungen sehr wohl aus der Masse herausstechen und der Innenminister alarmiert sein müssen.
Auch der im Innenministerium für alle Polizeiangelegenheiten verantwortliche Ministerialdirigent bezeichnete die Meldung nach eigener Aussage schon am 1. Januar als „politisch bemerkenswert“, weshalb es eine intensive Kommunikation gegeben habe. In den Online-Medien wurde längst über die Vorkommnisse berichtet und breit diskutiert. Nur der Minister und die Kümmerin Nr. 1, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, wollen noch drei Tage nach den Exzessen im Tal der Ahnungslosen herum getappt sein. Auch das ist eine Aussage, die für sich spricht und nicht viel Gutes über die Arbeit der Regierung aussagt, wenn eine Landesregierung die Brisanz derartiger Ereignisse nicht erkennt.
Darüber hinaus stehen Vertuschungsvorwürfe im Raum. Denn es hat Versuche gegeben, Polizeiberichte zu manipulieren und zu zensieren. Warum und von wem diese Anrufe erfolgten, ist eine der Ungereimtheiten. Ungeklärt ist aber auch, ob versucht werden sollte, die Herkunft der Täter zu verschleiern.
Klar ist dagegen: die Verteidigungslinie der Landesregierung „man hätte nichts gewusst“ und erst am 4. Januar 2016 die „Dimension“ der Geschehnisse erkennen können, war von Beginn an schwach und kaum glaubhaft. Mittlerweile hat diese wackelige Strategie gewaltige Risse bekommen. Dennoch versuchen Hannelore Kraft und Ralf Jäger, unbeirrt daran festzuhalten. Das wird den Bürgern jedoch kaum zu erklären sein. Die Menschen im Land haben zudem ein gutes Gespür dafür, ob es den Verantwortlichen um ehrliche Aufarbeitung oder das Retten der eigenen Haut geht. Statt Tarnen, Tricksen, Täuschen müssen endlich Wahrheiten auf den Tisch – auch wenn manche Vorgänge für die Landesregierung unangenehm sind. Und Konsequenzen daraus gezogen werden. Alles andere wäre ein weiterer Schlag ins Gesicht der verletzten Opfer aus der Silvesternacht.
Gastautor Marc Lürbke ist Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen und
Innenpolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion.