Zu den erfreulichen Gebräuchen der EKHN, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, gehören die Bach-Vespern in Frankfurt. Jeweils am ersten Samstag des Monats wird in gottesdienstlichen Formen eine der rund 250 Kantaten aufgeführt, die Johann Sebastian Bach als Thomaskantor komponiert hatte. Diesmal war die Choralkantate auf das Kirchenlied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ an der Reihe, ein festliches Stück, das im Bach’schen Werkverzeichnis wohl nicht ganz zufällig die Nummer 1 trägt und dergestalt den Katalog eröffnet.
Die Glocken läuteten, als wir zur Kirche kamen, aber es war anders als sonst. Ein Haufen von rund 200 dunkel gekleideten Leuten zog an uns vorbei, eskortiert von knapp einem Dutzend Mannschaftswagen der Polizei. Nachdem sie die Merkel-Poller, die grauen Betonblöcke, die uns vor den tätlichen Angriffen durch Terroristen bewahren sollen, passiert hatten, machten sie vor der Hauptwache Halt. Ein Lautsprecher begann zu plärren, die schwarz-weiß-grünen Palästinenser-Fahnen wurden entrollt, die Kundgebung begann.
Ich fragte einen der Polizisten, die dort Posten stand, ob das denn sein müsse. Eben jetzt, um 18 Uhr, beginne in der Katharinenkirche gleich nebenan eine Kantaten-Musik, von der man bei all dem Lärm wahrscheinlich aber nicht viel haben werde. Der Beamte winkte ab: Die Demonstration sei angemeldet und genehmigt, werde überdies schon bald zu Ende sein, da könne er nichts machen. Ja, die Willkommenskultur, sagte ich, die fordert Opfer, Rücksicht und Entgegenkommen, jedenfalls von uns. Der Polizist verzog den Mund, grinste leicht und wandte sich ab.
Mit dem Türsteher, der am Eingang zur Kirche den Besuchern das Programm in die Hand drückte, kam ich noch einmal ins Gespräch. Ob die Kirche denn nicht für diese eine Stunde die äußere Ruhe herbeiführen könne, die hilfreich ist, um auch innerlich zur Ruhe zu kommen und einem musikalischen Gottesdienst zu folgen? Der Mann hob den Kopf, machte den Rücken steif und antwortete nach einer kurzen Pause: „Fragen Sie den Stadtdekan!“ – Wie denn, wann denn und wo denn?, fragte ich zurück. – Das könne er mir auch nicht sagen, meinte der gute Mann, „Wir wissen doch auch nicht, wer wann in Frankfurt wo demonstriert.“
Die Orgel hatte es leicht, sich gegen das Geplärr von draußen durchzusetzen, das Orchester, verstärkt durch zwei Hörner, kam auch noch mit, aber die Sänger hatten es schwer, und in den Pausen zwischen den Sätzen war das Geschrei der Demonstranten immer wieder hörbar. Als der Pfarrer dann auf die Kanzel stieg und seine Ansprache in wohlformulierten Sätzen vom Blatt las, war er kaum zu verstehen. Gegen die röhrenden Lautsprecher, die den Demonstranten einheizten, hatte er keine Chance. Sie waren genauso gut zu hören wie der Gottesmann.
Er hatte sich ein Wort aus dem Galaterbrief vorgenommen. Da ich den Text kannte, was draußen ablief, aber nicht, ging ich während der Predigt kurz vor die Kirchentür. Irgendeine Rednerin war gerade fertig geworden, jetzt brüllte sie ihre Parole „Free, free, Palestine!“ in die Runde, was die Versammelten, die geballte Faust in die Luft gereckt, auch gehorsam nachbrüllten. Dann folgte eine zweite Parole, auf Arabisch allerdings, und weil ich das Arabische nicht verstehe, bat ich zwei junge Frauen, die kräftig mitgebrüllt hatten, mir die Worte zu übersetzten. Was sie dann auch gern taten: „Juden, raus!“ hätten sie gerade gerufen, immer wieder.
Zurück in der Kirche, folgte das übliche Ritual, Gebete, Fürbitten und so weiter. Bei den Fürbitten erflehte der Pfarrer die Hilfe des Allmächtigen gegen den Terror der Hamas, eben jener Hamas, die soeben erst, parallel zu seiner Predigt, keine hundert Meter entfernt gefeiert worden war. Dann nahm er sich die Schreihälse vor, allerdings nicht die da draußen, sondern die „in den Hinterzimmern und im Parlament“, eine in der EKHN übliche Umschreibung im Kampf gegen die AfD. Zum Schluss wurde die Gemeinde gebeten, mit dem Refrain „Wir bitten Dich, erhöre uns!“ in die Wünsche des frommen Mannes einzustimmen. Ich habe darauf verzichtet. Wie auch auf vieles von dem, was diese Kirche sonst noch zu bieten hat.