Das zweite Wahlrechts-Urteil des italienischen Verfassungsgerichts, die „sentenza Nr. 35/2017„, ist am 25.1.2017 gefallen und am 9.2.2017 im Wortlaut veröffentlicht worden. Die umstrittene „Siegerprämie“ bleibt, aber nur für Parteien, die mehr als 40 Prozent der Stimmen erhalten haben. Und das hat es in Italien offenbar schon lange nicht mehr oder sogar noch nie gegeben. Grillo hat derzeit ungefähr 30 Prozent, Renzi auch. Beppe Grillo wird also eine „Siegerprämie“ in absehbarer Zeit nicht bekommen, Matteo Renzi auch nicht. Und das wussten die 13 Richter im Palazzo Consulta auf dem Quirinal in Rom natürlich ganz genau.
Seit dem ersten Wahlrechtsurteil, der „sentenza Nr. 1/2014“ vom 14.1.2014 hat es einen mehrfachen Richterwechsel gegeben. Auch waren in dem 15-köpfigen Richterkollegium zwei Plätze vakant. Natürlich müssen auch unter 13 urteilenden Richtern Zugeständnisse gemacht werden, um die Mehrheit für die angesteuerte Entscheidung beizubringen: Die Siegerprämie bleibt daher bestehen, aber erst ab 40 Prozent der Stimmen. Tatsächlich spielt sie auf absehbare Zeit keine Rolle. Das war wohl der Preis für die Einigung.
Zu vorgezogenen Wahlen wird es in Italien eher nicht kommen. Denn ein Großteil der Abgeordneten würde dadurch Rentenansprüche verlieren. Davon abgesehen müssen die Vorgaben des itVerfG in das Wahlrecht eingearbeitet werden, und zwar für beide Kammern. Wegen der gescheiterten Volksabstimmung vom 4.12.2016 bleibt Italien der fatale „Bi-Kameralismus“ erhalten, dass sich Abgeordnetenkammer und Senat gegenseitig blockieren können. Italien wird gleichsam von zwei Regierungen beherrscht, was dazu führt, dass im Konfliktfall keine Entscheidung zustande kommt. Rom muss daher wie in Zeiten der Weimarer Republik unter der Regierung von Reichskanzler Brüning gegebenenfalls mit „Notverordnungen“ regieren.
„… a suffragio diretto“ – in unmittelbarer Wahl
Bei den blockierten Listen, d.h. bei der Abstimmung mit geschlossenen Listen, auf die der Wähler keinen unmittelbaren Einfluss nehmen kann, hat die „Corte costituzionale“ das erste Wahlrechtsurteils-Urteil (die „sentenza no. 1/2014“ vom 13.1.2014) bekräftigt. Sie sind im Grundsatz unzulässig. Denn die italienische Verfassung verlangt in Art. 56 eine Abstimmung „(…) a suffragio diretto ed universale“, d.h. in „(…) unmittelbarer und allgemeiner Wahl“. Starre Listen gehören also der Vergangenheit an. Es muss vielmehr eine namentliche Auswahl aus den Listen der Parteien möglich sein (Fakultative Personenwahl). Die Wähler haben zwei Vorzugsstimmen, um das zu verwirklichen.
Ausgenommen sind allerdings die Listenführer. Sie gelten als „gesetzt“. Das war in der italienischen Wahlrechtsreform schon so geregelt worden und dabei bleibt es. Die Listenführer können also mit den Vorzugsstimmen nicht abgewählt werden. Offenbar wollten die Verfassungsrichter gerade hier eine besonders rigorose Entscheidung vermeiden. Das Wahlgebiet ist in 100 Bezirke eingeteilt. Also ziehen jeweils 100 Abgeordnete in die beiden gleichberechtigten Kammern ein, die entgegen dem Wortlaut der Verfassung nicht durch eine Vorzugsstimme unmittelbar und frei gewählt worden sind. Überraschend hat das italienische Verfassungsgericht sogar die Mehrfach-Kandidaturen von Listenführern auf bis zu 10 Listen der insgesamt 100 Wahlbezirke nicht verworfen. Nach deutschem Recht wäre eine solche Mehrfach-Kandidatur mit bis zu zehn Wahlchancen für die Listenführer undenkbar. Nach § 27 Abs 4 Satz 1 BWAhlG kann ein Bewerber nur in einem Land und nur auf einer Landesliste vorgeschlagen werden.
Der Rechtsvergleich
Der Palazzo Consulta hat die Siegerprämie zwar nicht grundsätzlich untersagt, im praktischen Ergebnis hat er ihr jedoch einen Riegel vorgeschoben. Aus den Listen der Parteien können die italienischen Wähler mit zwei Vorzugsstimmen eine namentliche Auswahl treffen. Ausgenommen sind die Listenführer, die mit den Vorzugsstimmen nicht abgewählt werden können.
Ähnlich wie bei den Listenführern in Italien gibt es aber auch in Deutschland Mehrfach-Kandidaturen: Man kann zwar nicht auf mehreren Listen, wohl aber im Wahlkreis und auf einer Liste der Parteien kandidieren. Das führt dazu, dass Wahlkreis-Verlierer, die über die Liste ihrer Partei „abgesichert“ sind, über eine zweite Chance in den Bundestag einziehen können. Bei Peer Steinbrück war das z.B. der Fall. Er hat in seinem Wahlkreis Nr 104 (Mettmann I) verloren, zog aber über den sicheren Listenplatz seiner Partei trotzdem in das Parlament ein.
Auch wenn die italienischen Listenführer davon ausgenommen sind, ordnet das itVerfG grundsätzlich an, dass aus den Listen der Parteien eine namentliche Auswahl möglich sein muss, und zwar durch zwei Zusatzstimmen, die der deutschen Erststimme ähnlich sind, ohne dass dabei Überhänge entstehen können. Bei den Bundestagswahlen wird dagegen mit starren Listen gewählt, obwohl das Grundgesetz in Art 38 GG ebenso wie die italienische Verfassung die unmittelbare (direkte) Auswahl der Abgeordneten verlangt. Das BVerfG hat mit der Nachrücker-Entscheidung vom 26.2.1998, BVerfGE 97, 317 (323) sogar festgehalten: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Hier ist das italienische Wahlrecht also stärker als das deutsche. Das itVerfG verlangt, dass die Wahl mit offenen Listen möglich sein muss, und begnügt sich nicht mit einem „obiter dictum“, wie es das BVerfG tut.
60 Regierungen in 70 Jahren
Dass die „Siegerprämie“ ein unangefochtener Modellfall für ganz Europa sein könnte, wie das Volker Best im Auge hat, kann man auch aus dem zweiten Wahlrechts-Urteil vom 9.2.2017 nicht ableiten (Vgl. Zeitschrift für Parlamentsfragen, ZParl 2/2015, S. 212.). Auch dürfte der österreichische Bundeskanzler, der in seinem Land die „Siegerprämie“ für Minister einführen möchte, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des itVerfG keine überzeugende Stütze seines Vorhabens finden.
Allerdings kennt auch das deutsche Recht lt. § 6 Abs. 7 BWahlG die Figur des Ergänzungsmandats ohne Wahlhandlung. Wie in Italien spielt sie in der Praxis auch in Deutschland keine Rolle. Ein solches Ergänzungsmandat hat es in Deutschland noch nie gegeben. Schon wegen der Sperrklausel ist damit auch nicht zu rechnen. Die Klausel führt regelmäßig dazu, dass der Anteil an den Mandaten größer ist als der Anteil an den Zweitstimmen, und nicht umgekehrt. Der § 6 Abs 7 BWahlG bleibt daher eine gesetzgeberische Arabeske ohne praktische Bedeutung für die Wahlen in Deutschland.
Gewiss ist gerade die zweite Wahlrechts-Entscheidung des itVerfG, also die „sentenza no. 35/2017“, kein Sieg der „reinen Lehre“, dass man allein durch namentliche Abstimmung über die Person der Abgeordneten zu einem Mandat kommen kann. Für Italien, das 60 Regierungen in 70 Jahren erleben musste, sind beide Wahlrecht-Urteile aber ein Sprung nach vorne. Es bleibt allerdings dabei, dass Italien praktisch zwei gleichberechtigte und miteinander konkurrierende Regierungen hat, den Senato und die Camera dei deputati. Diese Doppelherrschaft könnte man leicht beseitigen, würde man die Stimmen bei der Willensbildung in beiden Kammern einfach zusammenrechnen. Beide Kammern würden getrennt gewählt, aber gemeinsam regieren. – Wirklich große Dinge seien einfach, hat Konrad Adenauer gesagt!
Der Verfasser hat mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm der Titel erschienenen: Die Berliner Republik unter dem Damoklesschwert / Wahlgesetz, Wahlgrundsätze und Wahlprüfung“, 2016, Taschenbuch, 226 Seiten, Euro 19,40