Donald Trump hat in Europa und mehr noch in Deutschland kaum Anhänger. Vielen Gebildeten fällt es geradezu schwer, ihn überhaupt ernst zu nehmen. Nicht im gleichen Ausmaß, aber tendenziell ähnlich waren auch die Einstellungen gegenüber Ronald Reagan, der im Rückblick kaum als erfolglos gelten kann. Vielleicht kann man auch bei Trump – trotz seiner Twitter-Vorliebe und seines Stils – mehr Substanz finden als auf den ersten Blick ersichtlich. Deshalb soll hier versucht werden, einige seiner Gedanken mit der akademischen Literatur zu vergleichen. Dabei schneidet Trump je nach Thema mal als weniger gut, mal als gar nicht so schlecht informierter Zeitgenosse ab.
Es gibt eine Denkschule der Internationalen Politik, die anderen Perspektiven ein Übermaß an normativen Denken und an Illusionen vorwirft und sich deshalb als ‚realistisch’ bezeichnet. Wenn es überhaupt eine Denkschule gibt, die nicht nur im Westen, sondern auch in Moskau oder Peking Anhänger in hohen Ämtern hat, dann ist es diese. Vielen westlichen Demokraten – vor allem in kleineren Ländern oder ehemaligen Großmächten – ist realistisches Denken allerdings suspekt. Das zeigt sich etwa im Entsetzen der englischen Zeitschrift The Economist darüber, dass Trump gegenüber Putins Russland keinen moralischen Überlegenheitsanspruch erhebt. In derselben Zeitschrift wird auch auf einen spiegelbildlichen russischen Anspruch auf moralische Überlegenheit verwiesen. Aus realistischer Perspektive können solche Ansprüche nur eine rationale Analyse von Machtverhältnissen und daraus resultierenden politischen Optionen erschweren. Realisten gehen davon aus, dass dominante Mächte immer um die Vorherrschaft konkurrieren, dass die Beziehungen unter Großmächten tendenziell tragisch sind. Ihre zumindest latente Feindseligkeit beruht auf dem Sicherheitsdilemma oder auf dem, was die Mächte einander antun könnten. Obwohl Donald Trump keine Vorliebe für sozialwissenschaftliche Theorien hat, erinnern doch viele seiner Überzeugungen an die realistische Schule weltpolitischen Denkens. Er sorgt sich mehr um den Aufstieg Chinas als um den wirtschaftlich stagnierenden ehemaligen Rivalen Russland.
Außerdem scheint er wie Samuel Huntington in Kategorien eines globalen Kulturkampfs zu denken, wobei er den Konflikt zwischen dem Westen oder dem judäo-christlichen Kulturkreis und dem Islam in den Vordergrund stellt. Der islamistische Terrorismus ist dann die Erscheinungsform eines tiefer liegenden und wohl unversöhnlichen Konflikts. Damit nähert er sich punktuell einer zweiten Schule des weltpolitischen Denkens an, den Neokonservativen. Während aber die Neokonservativen im Gegensatz zu den Realisten in Regimecharakteristika einen wichtigen Kriegsgrund sehen und autoritäre Regime mit militärischen Mitteln überwinden wollen, um weltweit einen demokratischen Frieden durchzusetzen, hält Donald Trump davon wenig. Obwohl er die entsprechenden Schriften kaum kennt, könnte Trump sich in seiner Skepsis gegenüber dem globalen Interventionismus durchaus auf gleichgesinnte Sozialwissenschaftler berufen.
Er spielt zumindest mit dem Gedanken eines Einvernehmens oder ‚Deals’ zwischen den USA und Russland, das gleichzeitig explizit gegen den islamistischen Terrorismus und zumindest implizit gegen China gerichtet ist. Dass bei einem Deal mit Russland die NATO und die europäischen Bündnispartner der USA an Bedeutung verlieren, hat Trump im Gegensatz zu seinen transatlantisch argumentierenden Ministern für Äußeres und Verteidigung ebenfalls angedeutet. Wer auf den Anspruch eigener moralischer Überlegenheit verzichtet, hat wenig Anlass eine Großmacht zu sanktionieren, die Gebietsteile eines Nachbarn annektiert hat. Das haben viele Großmächte immer wieder getan. Man ist versucht zu sagen, auf diesem Wege sind sie Großmächte geworden. Das gilt nicht nur für das Großfürstentum Moskau, aus dem Russland hervorgegangen ist.
Trump ist Huntington nahe
Wer dem eigenen Land nicht die Kosten auferlegen will, die mit dem recht erfolglosen Versuch des Exports der Demokratie in alle Welt – von Vietnam, Laos oder Kambodscha in den 1970er Jahren bis Afghanistan und Irak in jüngster Vergangenheit – verbundenen waren, könnte auch bereit sein, dem ehemaligen Gegner Russland eine eigene Einflusssphäre zuzuerkennen. Trumps Realismus – im Sinne eines der realistischen Schule nahestehenden Denkens, was noch nichts über die Richtigkeit dieses Denkens aussagt – äußert sich im Verzicht auf die Rolle des Weltpolizisten oder einer Weltordnungsmacht, in der Konzentration auf den Hauptrivalen China. Der isolationistische Konnotationen hervorrufenden Parole ‚America first’ entspricht nicht nur Trumps Skepsis gegenüber einer Rolle als Weltordnungsmacht, sondern auch Trumps Antipathie gegen Zuwanderung von Muslimen in den Westen und vor allem in die USA selbst. Das passt recht gut zu einem von Huntingtons Kritikern meist übersehenen Punkt. Huntington hatte bei seinen Thesen über den Kampf der Kulturen die Schwierigkeiten betont, Menschen und damit auch Regierungen anderer Kulturkreise oder Zivilisationen zu verstehen. Wenn das so ist, sind sowohl Einmischung in die Angelegenheiten nicht-westlicher Länder als auch Zuwanderung aus diesen Ländern in ihren Folgen schwer absehbar. Da ist Trump Huntington recht nahe.
Natürlich reicht die Kraft Russland aus, um Georgien oder die Ukraine oder Moldawien zu bedrohen und Separatisten dort zu ermutigen. Vielleicht könnten die russischen Streitkräfte sogar Kiew in zwei Wochen einnehmen, wie Putin angedeutet hat. Noch hat Russland dank des sowjetischen Erbes das zweitgrößte Arsenal an Atomwaffen. In der Zeitschrift International Security ist allerdings schon diskutiert worden, ob die USA zum Entwaffnungsschlag gegen Russland in der Lage wären oder ob die russische Zweitschlagskapazität noch gesichert ist. Wegen seiner Atomwaffen fühlt sich Putin aber noch stark genug, sich über das Völkerrecht hinwegzusetzen und ukrainisches Gebiet zu annektieren und zu besetzen.
Russland vor zwei Herausforderungen
Aber auf lange Sicht muss Russland mit zwei Herausforderungen fertig werden, für die es schlecht vorbereitet ist. Erstens setzt militärische Stärke auf Dauer wirtschaftliche Stärke voraus. Schon heute ist die russische Wirtschaft schwächer als die deutsche, die britische oder die französische. Der Rohstoffreichtum Russlands ist für das Land nicht nur ein Segen. Denn er trägt dazu bei, dass der russische Rubel immer stärker bleibt als er in einem rohstoffarmen Land wäre. Das verringert die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Industrie und macht ein export-orientiertes Wirtschaftswachstum, wie in Japan, Südkorea oder China sehr, sehr unwahrscheinlich. Abgesehen von Rohstoffen, vor allem Öl und Gas, hat die russische Wirtschaft auf den Weltmärkten höchstens noch Waffen anzubieten. Weil der technologische Fortschritt in der zivilen und der Rüstungswirtschaft sich gegenseitig befördern, sieht die nicht nur die wirtschaftliche Situation, sondern auch die militärtechnische Zukunft im ergrauenden Russland langfristig nicht gut aus.
Zur Schwäche der russischen Industrie und Volkswirtschaft hinzu kommt Russlands geopolitische Lage. Einem Land kann nichts Schlimmeres passieren, als die geopolitische Zentrallage innezuhaben, und nichts Besseres, als sich einer peripheren oder gar Insellage zu erfreuen, wie Großbritannien und erst recht die USA. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte Deutschland die geopolitische Zentrallage. Es grenzte an Großmächte im Westen und im Osten. Der geopolitischen Logik folgend, wonach der Nachbar meines Nachbarn ein Freund ist, verbündeten sich die westlichen und östlichen Mächte in zwei Weltkriegen gegen Deutschland. Für Deutschland war die geopolitische Zentrallage ein Fluch. 1945 war es dann mit dem Großmachtstatus Deutschlands endgültig vorbei. Russland hat sozusagen die geopolitische Zentrallage vom besiegten Deutschland geerbt. Dazu hat nicht nur der sowjetische Sieg über Deutschland, sondern mehr noch der wirtschaftliche Aufstieg Ostasiens in den letzten Jahrzehnten beigetragen. Jetzt hat Russland im Westen und im Osten starke Nachbarn. Die wirtschaftliche Stärke Europas wird zwar durch die Uneinigkeit Europas teilweise neutralisiert, aber das Bündnis der europäischen Staaten mit den USA, die NATO, verschärft das sicherheitspolitische Dilemma Russlands. Das Land ist zwischen China und dem amerikanisch geführten Westen eingeklemmt. Das Land ist wirtschaftlich schwach und wird es fast mit Sicherheit auch bleiben. Die langfristige Machtperspektive Russlands ist beängstigend. Die Annektion der Krim und künftig vielleicht weiterer Teile der Ukraine kann daran wenig ändern.
Von russischer Seite wird immer mal wieder ein Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok angepriesen. Das ist letztlich der Traum von der Befreiung Russlands aus seinem geopolitischen Dilemma. Wenn es dazu käme, dann implizierte das ein Auseinanderrücken Europas und Amerikas. In einem solchen Großeuropa oder Nordeurasien könnte dann Russland eine führende Rolle übernehmen, vielleicht sogar die führende. Im Westen besteht allerdings wenig Neigung, an der Realisierung dieses russischen Traumes mitzuwirken.
Putin hat die Krim gewonnen, aber die Ukraine verloren
Stattdessen haben sich die EU und die NATO immer weiter nach Osten ausgedehnt. Dass Polen und Balten das wollten, kann nicht bezweifelt werden. Russland ist es bisher nie gelungen, eine so attraktive Schutz- und Vormacht zu werden wie die USA. Während des kalten Krieges, sprachen manche ja sogar von einem (amerikanischen) ‚empire by invitation’. Aber die Hoffnung der Mittelosteuropäer auf amerikanischen Schutz ändert nichts daran, dass die Russen – nicht nur Putin – diese Entwicklung als bedrohlich empfinden. Vor wenigen Jahren hat der Westen sogar über die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gesprochen. Für Russland war immer undenkbar, dem Westen die Ukraine zu überlassen. Kiew gilt den Russen bekanntlich als die Mutter der russischen Städte. Aus russischer Sicht ist die EU nicht nur eine Freihandelszone oder Wirtschaftsgemeinschaft, sondern vor allem auch ein Vorhof der NATO. Aus Putins Sicht drängte die Zeit: Das Abdriften der Ukraine nach Westen musste verhindert werden. Nicht nur russische Strategen, sondern auch amerikanische Vordenker der realistischen Schule der Weltpolitik, wie John Mearsheimer, halten die Expansionspolitik der NATO und der EU für die entscheidende Ursache der Krise. Erst expandierte die NATO auf das Gebiet des ehemaligen Warschauer Paktes, dann mit den baltischen Staaten auf das Gebiet der ehemaligen Sowjet-Union und mit der potenziellen Aufnahme der Ukraine wurde schon mal eine Expansion auf das Gebiet der Sowjet-Union in den Vorkriegsgrenzen (also von 1939) angedacht.
Wenn normatives, moralisches oder völkerrechtliches Denken die Oberhand über das Abwägen der wahrscheinlichen Folgen von Wirtschaftssanktionen gewinnt, dann besteht die Gefahr, dass Russland bei kräftigen und lange anhaltenden Sanktionen langsam Teil einer chinesischen Einflusssphäre werden wird, aus der es sich nur schwer wird wieder lösen können. Das hilft weder der Ukraine, noch ist es gut für den Westen, Russland so zu schaden, dass es in die Arme Chinas flüchtet. Das ist nur im Interesse Chinas. Trump scheint in China den gefährlicheren Gegner als in Russland zu sehen. Noch sind die russischen Atomwaffen den chinesischen weit überlegen. Aber die russische Wirtschaft wächst langsamer als die chinesische. In absehbarer Zeit wird auch die chinesische Wirtschaft annähend die zehnfache Größe der russischen haben. Wie lange wird Russland dann noch ein gleichberechtigter Partner Chinas sein können? Besteht dann nicht die Gefahr, dass Russland zu Chinas Rohstoffkammer und Satelliten wird?
Der sog. Realismus als Denkschule, mit der ich mich gerade auseinandergesetzt habe, beansprucht zwar, besser als andere Theorien die Weltpolitik zu analysieren, aber es gibt auch andere Denkschulen, die zu anderen Analysen und politischen Empfehlungen führen. Für ‚Realisten’ zählen letztlich nur die Machtverhältnisse oder das, was Staaten einander antun können. Realisten tendieren dazu, immer das Schlimmste als Ausgangspunkt ihrer Analysen zu nehmen. Sie sind blind für Hoffnungsschimmer derart, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit – vom Freihandel über internationale Fertigungsketten hin zur Kapitalverflechtung – Konfliktrisiken zwar nicht auf Null bringen, aber zumindest reduzieren können. Die Geschichte des Westens seit den 1950er Jahren illustriert das. Freihandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit haben die angelsächsischen Länder oder die Westmächte mit den Kriegsfeinden Deutschland und Japan versöhnt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der EU hat die ehemaligen Erbfeinde Frankreich und Deutschland versöhnt. Wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sind das Gegenteil von wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Sie sperren einen Weg zu einer friedlichen Zukunft zwischen Amerika oder dem Westen einerseits und dem russischen Nachbarn andererseits. Vielleicht hilft der Westen sogar den Menschen in der Ukraine mehr, wenn er die russischen Interessen dort respektiert, also auf die Perspektive einer EU- oder NATO-Mitgliedschaft für dieses Land verzichtet, als wenn er Russland durch diese Aussicht provoziert, aber dann doch zum militärischen Schutz der Ukraine weder willens noch in der Lage ist.
Freihandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit
Obwohl der Realist Mearsheimer sich nicht um die Anreicherung realistischen Denkens mit wirtschaftsliberalem Denken bemüht, kommt er gelegentlich zu dem Schluss, dass unhaltbare Positionen (wie die amerikanischen Schutzversprechen für Taiwan gegen China) vom Westen geräumt werden (sollten), wobei man darüber streiten kann, ob das mehr Prognose oder mehr Empfehlung ist. Was die Krim angeht, hat der Westen Ähnliches schon getan, sich de facto also mit dem Anschluss der Krim an Russland abgefunden. Für Realisten ist das die kluge Respektierung von Tatsachen und Einflusssphären, für Demokraten oder Liberale ein widerlicher Gedanke. Aber möglicherweise macht der Verzicht auf die Respektierung von Einflusssphären, die China in Ostasien und Russland in Osteuropa beanspruchen, die langfristige Hoffnung von Frieden durch Freihandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit, vielleicht sogar durch Demokratisierung zunichte. Obwohl die Denkschulen der Realisten und der Wirtschaftsliberalen grundsätzlich zu unterschiedlichen und oft inkompatiblen sicherheitspolitischen Maßnahmen neigen, könnte die ‚realistische’ Respektierung von Einflusssphären die Voraussetzung für die Überwindung es ‚realistischen’ Denkens in der Weltpolitik und der damit verbundenen Kriegsgefahr sein. Das Denken in Einflusssphären wird allzu oft ausschließlich mit Expansionsgelüsten in Zusammenhang gebracht. Einflusssphären können auch geradezu ein Instrument der Selbstbegrenzung sein. Huntington hat den USA geraten, ihre Einflusssphäre auf die westliche Zivilisation zu begrenzen, weil der amerikanische Führungsanspruch innerhalb des Westens, aber auch nur da akzeptiert werden kann.
Ein dem russischen Außenministerium verbundener Autor hat an den Status von Finnland nach dem zweiten Weltkrieg erinnert, der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer an den von Österreich. Innenpolitisch waren Finnland und Österreich freiheitliche Demokratien, wirtschaftlich Marktwirtschaften des kontinentaleuropäischen (nicht des angelsächsischen) Typs, aber außenpolitisch neutral. Diese Länder mussten Rücksicht auf Sowjet-Russland nehmen. Sie durften sich nicht der NATO anschließen, weder in Korea noch in Vietnam gegen den Kommunismus kämpfen. Wer heute für die Ukraine mehr verlangt als während des Kalten Krieges für Finnland oder Österreich, der macht jede Versöhnung zwischen Russland und dem Westen unmöglich. Der verhindert mit Sanktionen, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit einen Beitrag zur Friedenssicherung zwischen Russland und dem Westen leisten kann. Dass die Sanktionen in dem Sinne funktionieren, dass sie Russland aus der Krim vertreiben oder auch nur zum Rückzug aus dem Donezk-Gebiet in der Ostukraine veranlassen, ist unwahrscheinlich. Die empirische Forschung spricht nicht für die Wirksamkeit von Sanktionen, schon gar nicht gegen große und autokratisch regierte Länder. Man darf sich erinnern, dass die Sanktionen gegen Kuba, Nordkorea, Irak und Iran keine überzeugenden Resultate erbracht haben. Das große Russland dürfte gegen Sanktionen weniger empfindlich als diese kleineren Länder sein. Das amerikanische Ölembargo gegen Japan dürfte sogar zum japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 beigetragen haben.
Sanktionen unwirksam bis kontraproduktiv
Wenn Sanktionen zwar nicht ihren angeblichen Zweck erfüllen, aber Russland in die Arme Chinas treiben, dann schaden sie den USA, Europa, dem Westen. Die westliche Sanktionspolitik gegen Russland scheint weniger das bestrafte Russland zu beeinflussen, als der Selbstvergewisserung der westlichen Gemeinschaft zu dienen. Ist Trump wirklich irrational, wenn er mit dem Gedanken spielt, mit unwirksamen Sanktionen aufzuhören und sich darauf zu verlassen, dass ein nationalistisches Russland im eigenen Interesse eine Einverleibung in die chinesische Einflusssphäre vermeiden will? Wenn man an die russischen Probleme im muslimischen Tschetschenien denkt, oder an die russische Unterstützung für Assad, der sicher ein Diktator, aber vielleicht doch der militärisch stärkste Rivale des islamischen Staates in Syrien ist, ist dann die Suche mancher Berater Trumps – man denke an Bannon oder den inzwischen zurückgetretenen Flynn – nach gemeinsamen Interessen Amerikas und Russlands so absurd? Für Realisten (im Sinne der Denkschule der Weltpolitik) ist das naheliegend. Für sie galt immer schon das Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Bisher habe ich das Wort ‚realistisch’ zur Bezeichnung einer Denkschule verwendet und darauf hingewiesen, dass Donald Trump einer so bezeichneten Denkschule nahesteht. Weil die Amerikaner jahrzehntelang auf die Sowjet-Union und in den letzten Jahren auf Russland als Rivalen fokussiert waren, ist allerdings durchaus denkbar, dass Trumps Traum einer Zusammenarbeit mit Russland, vielleicht sogar eines Kondominiums, am Widerstand der Geheimdienste, des Kongresses oder des Pentagon scheitert. Der schnelle Rücktritt Flynns könnte ein Vorzeichen für das Scheitern des Versuchs einer amerikanisch-russischen Versöhnung sein.
Über die relative Größe der chinesischen und amerikanischen Volkswirtschaft kann man verschiedener Meinung sein. Je nachdem, ob und wie die Kaufkraft berücksichtigt wird, variieren die Schätzungen zwischen Parität und einer chinesischen Wirtschaft, die nur wenig mehr als halb so groß wie die amerikanische ist. Aber weil die chinesische Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten immer sehr viel schneller als die amerikanische gewachsen ist, sind die Trends eindeutig. Schon 2040 könnte die chinesische Volkswirtschaft doppelt so groß wie die amerikanische sein. Es fällt leichter sich vorzustellen, was die chinesische Dynamik brechen könnte, als wie die Amerikaner durch eigene Anstrengungen ein derartiges Ergebnis verhindern könnten. Das könnte ein langjähriges Wachstum nicht unter 5% und Exportwachstum nicht unter 10% pro Jahr erfordern. Daneben müssen die Schulleistungen und der Einsatz am Arbeitsplatz verbessert, die Fettleibigkeit und die daraus resultierenden Gesundheitskosten massiv reduziert werden. Ob die USA ihre gewohnte Vormachtstellung gegenüber China noch lange halten können, ist also durchaus offen. Falls es zu einem neuen kalten Krieg, aber jetzt zwischen den USA oder dem Westen und China käme, muss man nicht nur die Frage stellen, wer mit der stärkeren wirtschaftlichen Basis hineingeht, sondern auch, ob die Menschheit den letzten kalten Krieg nur zufällig überlebt hat und das nächste Mal weniger Glück haben könnte. Weil die amerikanische und chinesische Volkswirtschaft jedenfalls vor und bis Trump recht eng verflochten waren, durfte man bisher auf Konfliktdämpfung durch Freihandel und wirtschaftliche Interdependenz hoffen.
Wenn man – wie Trump und manche seiner Berater – den Kampf zwischen der westlichen und der islamischen Zivilisation für unvermeidbar hält, dann wird die Befriedung der amerikanisch-chinesischen Rivalität umso dringender. Auch wenn weniger als jeder tausendste Muslim das Bedürfnis hat, möglichst viele Ungläubige zur Hölle zu schicken – wie in New York, Cannes oder Berlin geschehen – könnte eine sehr kleine Zahl von Glaubenskriegern ausreichen, den Kampf der Kulturen zu entfachen. Für den Frieden braucht man zwei Seiten, dafür den Krieg auszulösen reicht eine. Gerade weil weder die realistische noch die liberale Denkschule ein Rezept für die Vermeidung dieses Konflikts zwischen zwei Zivilisationen anbietet, sollte man wenigstens den Konflikt zwischen der aufstrebenden Weltmacht China und dem Westen vermeiden. Das Rezept dafür ist Freihandel, nicht Protektionismus.
Erich Weede ist Soziologe, Psychologe, Politikwissenschaftler und emeritierter Lehrstuhlinhaber für Soziologie der Universität Bonn.