Tichys Einblick
Anspruchsgrundlagen auf dem Prüfstand - Teil 2

Islam: Kein Kampf und keine Eroberung

Es gab keine Muslime, die, von der arabischen Halbinsel kommend, von Eroberung zu Eroberung eilten. Die Araber waren schon da, als ihnen zwei Weltreiche in den Schoß fielen, die implodierten. Sie waren Profiteure der Schwäche zweier Weltreiche. Da war kein Kampf und keine Eroberung.

Das Wissen davon, dass der Islam in der blühenden städtischen Kultur des fruchtbaren Landes Irak entstand, ist geradezu vollständig verschwunden. Man glaubt an seine Entstehung in einer Stammesgesellschaft in der Wüste, und seine radikalen Verfechter glauben darum, Stammesdenken wiederbeleben und kultivierte Länder wieder in Wüsten verwandeln zu müssen. Eine Schwierigkeit bei der Wahrnehmung des Islams als einer städtischen Kultur, entstanden im wasserreichen Zweistromland, ist der Sitz seiner beiden Hauptheiligtümer in der ariden Region Hidschâz im heutigen Saudi-Arabien. Man kommt deswegen nicht umhin, den Islam auf den ersten Blick für eine Beduinenreligion zu halten, gestiftet von einem analphabetischen, halbnomadischen Kaufmann.

Mekka und Medina erlangten jedoch erst lange nach dem überlieferten Leben Mohammeds Bedeutung. Das Haus, in dem er in Mekka geboren sein soll, wurde erst von Chaizuran (gest. 795), der Mutter Harun ar-Raschids, „gefunden“. Dies ist offensichtlich eine Analogie zur Geschichte der „Auffindung“ von Jesu Grab und Kreuzigungsstätte im 4. Jh. durch Helena, der Mutter Kaiser Konstantins. Die neue Religion des Römischen Reiches benötigte Erinnerungsorte und Pilgerstätten, und dies wiederholte sich mit dem neuen Glauben Islam und seinem von Jesus zu Mohammed transformierten Gesandten.

Bei archäologischen Ausgrabungen im Hidschâz wurden Überreste hellenistischer, nabatäischer, römischer und frühbyzantinischer Ansiedlungen gefunden, jedoch keine Spuren einer arabischen Kultur zu Mohammeds Zeiten. Besonders bemerkenswert ist, dass keine heidnischen Heiligtümer vorhanden waren und zudem weder in Medina noch in benachbarten Orten Zeichen einer jüdischen Besiedlung. (Nevo/Koren, S. 13. Dieses Buch ist eine Pionierarbeit bei der Abgleichung der islamischen Tradition mit archäologischen Funden.) Auch jüdische Quellen erwähnen keine jüdischen Niederlassungen im Zentrum der Arabischen Halbinsel.

Dies hat für die Gegenwart große Bedeutung. Wir wenden uns der Vergangenheit immer aus einer bestimmten Gegenwart zu. So befasst sich die westliche Gesellschaft erst intensiv mit dem Islam, seit er politisches Gehör beansprucht und das Alltagsleben mitbestimmt. Früher konnte man Mohammed einen guten Mann sein lassen. Zur Gegenwart des Islams gehört seine Judenfeindschaft, die im muslimischen Milieu quasi durch Osmose erworben wird, legitimiert durch Mohammeds Vorgehen gegen die jüdischen Stämme in Medina. Wenn es in Medina keine Juden gegeben hat, sind die Geschichten von Mohammed und den Juden nicht historisch, also nicht in dem behaupteten empirischen Sinne „wahr“. „Wahr“ sind die Geschichten nur in einem theologischen Zusammenhang, indem sie die Verderbtheit der Juden beispielhaft illustrieren. Es handelt sich um eine normative Aussage: Juden müssen für ihre Widerspenstigkeit, den rechten Glauben anzunehmen, bestraft werden. Solche „Wahrheiten“ sind heute obsolet.

Anspruchsgrundlagen auf dem Prüfstand - Teil 1
Islam: Nicht in Mekka und Medina entstanden
Das neue arabische Reich benötigte eine Offenbarung, einen Propheten und die klare Abgrenzung von den Juden und Christen. Zur Identitätssicherung wählte man einen explizit arabischen Hintergrund und verlegte den Ursprung der neuen Religion in den Hidschâz. Für diese Region an der Peripherie sprachen auch andere Gründe: Das Gebiet war so leer, dass von dort kein Widerspruch zu erwarten war, wie Nevo/Koren anmerken (S. 346), und es waren aus demselben Grunde keine Ansprüche zu befürchten. Hätte man den Ursprung des Islams in ein Kernland des arabischen Reiches gelegt, so hätte dieses sofort Privilegien beansprucht. Man sieht dies heute am Gebaren der Saudis als „Hüter der heiligen Stätten Mekka und Medina“, die daraus sogar den Anspruch ableiten, ihre Auslegung des Islams für alle Muslime verbindlich machen zu dürfen. Zur Zeit der Entstehung des Islams war für das noch ärmliche Mekka nichts zu holen.

Bangert nennt diese Verlegung des Ursprungs des Islams vom Fruchtbaren Halbmond in die Wüste „Translokation“. (S. 732ff) Der erste Islamforscher, der diesen Schritt nachvollzog, war der eingangs erwähnte John Wansbrough in seinem sehr schwer lesbaren Buch „Quranic Studies“. Er trennte als erster die Verbindung von Mohammed, dem Koran und der Arabischen Halbinsel und entzog damit dem Islam seine historische Basis, woraus die Islamwissenschaft aber keine Konsequenzen zog.

Rückprojektion

Es fand jedoch nicht nur eine Verlegung der Schauplätze statt, sondern auch eine Projektion in die Vergangenheit. Nach Münzfunden zu urteilen, erlangte Mekka erst in der 2. Hälfte des 9. Jhs. seine geplante Bedeutung als neues Pilgerzentrum (Popp, Ugarit). Die numismatischen Entdeckungen widersprechen der Tradition. Bisher stammen die frühesten Münzfunde, die in Mekka geprägt wurden, aus dem Jahr 817, die früheste Goldprägung aus dem Jahr 863. Dieses Ergebnis fügt sich ein in das Problem der nachrichtenlosen zweihundert Jahre: Aus den ersten zwei Jahrhunderten nach Mohammed gibt es keine außerislamischen Zeugnisse, die die Existenz einer neuen Religion mit dem Namen Islam belegen.

Die Theorie der Rückprojektion ist die plausibelste Erklärung dafür. Man wählte als Dreh- und Angelpunkt der Geschichte vom Ursprung des Islams das Jahr 622. Es wurde in der Tradition das Jahr der Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina und damit der Beginn seines Aufstiegs als weltlicher und religiöser Führer.

In der Geschichte, wie sie der Westen schreibt, war das Jahr 622 das Jahr des Sieges des byzantinischen Kaisers Heraklius über das persische Reich der Sassaniden. Heraklius musste handeln, weil die Perser im Jahre 614 Jerusalem erobert, die Bevölkerung verschleppt, Kirchen zerstört und die Kreuzesreliquie nach Persien entführt hatten. Es war ein verheerendes Ereignis. Am 5. April 622 zog Heraklius an der Spitze seiner Armee aus Konstantinopel in den „Heiligen Krieg“. Noch im selben Jahr schlug er die feindliche Armee in Armenien vernichtend. Dies war für Persien der Anfang vom Ende. Das Sassanidenreich kollabierte innerhalb weniger Jahre. Nutznießer dieser Entwicklung wurden die Araber, die auf byzantinischem und iranischem Staatsgebiet ansässig waren.

Es gibt ein paar interessante Parallelen zwischen Historie und islamischer Tradition.

622: Sieg des Heraklius – Beginn der islamischen Zeitrechnung.

627: Sieg der Byzantiner über die Perser bei Ninive. – In der Tradition ereignete sich die „Grabenschlacht“.

628: Friedenvertrag zwischen Byzanz und Persien. – In der Tradition „Vertrag von Hudaibiya“, der Friedensvertrag Mohammeds mit dem Stamm der Quraisch von Mekka.

630: Wiedererrichtung der Grabeskirche in Jerusalem und Wiederaufstellung des Heiligen Kreuzes. – In der Tradition Mohammeds Sieg über Mekka und Reinigung der Kaaba von Götzenbildern.

Nach seinem Sieg konzentrierte sich Heraklius auf ein neues Reich im Westen. An Syrien hatte er kein Interesse mehr und stellte die Sicherung der Grenzen ein. Dies war nur die Fortsetzung der Politik, die Byzanz schon länger betrieb. Der Kampf um Jerusalem war nur ein Intermezzo gewesen, dem sich Heraklius als religiöser Führer der Christenheit nicht hatte verweigern können. Nach archäologischen Ausgrabungen zu urteilen, hatte Byzanz schon vor dem Jahr 500 begonnen, sich aus Syrien zurückzuziehen.

Über die unkontrollierte, offene Grenze kam in der Zeit um 490 der arabische Stamm der Ghassaniden ins Land. Ihre Herkunft ist unbekannt. Die Ghassaniden waren syrische Christen und wurden 502/3 Bündnispartner von Byzanz. In dieser Eigenschaft als foederati kämpften sie an der Seite Heraklius’ gegen die Perser. (Foederati heißt syro-aramäisch qarisha, arabisiert quraisch. In der islamischen Tradition sind die Quraisch der Stamm, dem Mohammed angehörte.)

Die Araber bezogen Subsidien, Hilfsgelder, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Faktisch waren sie schon zu dieser Zeit die eigentlichen Herren des Landes. Die Zahlungen wurden im Jahre 632, als Byzanz seinen Südosten definitiv aufgab, eingestellt. (In der Islamischen Tradition starb Mohammed im Jahre 632)

Ein weiterer arabischer Stamm in Mesopotamien, aber auf der persischen Seite, waren die Lachmiden. Ihr Zentrum war die Stadt Hira. (In der islamischen Tradition zog sich Mohammed oft in eine Höhle in einem Berg mit dem Namen Hira zurück.) Auch dieser Stamm wurde christianisiert, was der Perserkönig Chosrau II. nicht hinnehmen konnte. Er ließ den zum Christentum übergetretenen Lachmidenkönig im Jahre 602 hinrichten. Der Sieg des Heraklius bedeutete für die Christen in Iran die Befreiung.

Die Araber blieben einfach übrig

Nach der Implosion des Sassanidenreiches und der Räumung der ehemals byzantinischen Gebiete übernahmen nun kampflos die Araber die Macht. Es handelte sich um einen klassischen Elitenwechsel. Die Araber blieben bis zum Tode des Heraklius im Jahre 641 dessen foederati, danach begann ihre Selbstherrschaft unter dem Umaiyaden Muawiya, was durch numismatische Befunde belegt werden kann. (Popp, Ugarit) Ihre Zeitrechnung, die „Ära der Araber“ ließen sie im Jahre 622 beginnen, dem Jahr, in dem der Sieg des Heraklius den Grund für ihre Erfolgsgeschichte gelegt hatte.

Es gab keine Muslime, die, von der arabischen Halbinsel kommend, von Eroberung zu Eroberung eilten. Die Araber waren schon da, als ihnen das Reich in den Schoß fiel. Sie waren Profiteure der Schwäche zweier Weltreiche. Die Dschihadisten legitimieren sich heute mit dem historischen Kampf und Sieg des Islams gegen den Rest der Welt. Dazu besteht kein Anlass.

„Es standen sich zur Zeit Muawiyas nicht arabisch-islamische Eroberer und byzantinisch-christliche Kaiser gegenüber, wie es die spätere, historisierende Literatur der Abbasidenzeit uns glauben machen will, sondern ausweislich der Dokumente in Form von Inschriften der arabischen Herrscher die Christen des ehemals byzantinischen Orients als natürliche Verbündete der nestorianischen Christen Irans auf der einen Seite und des Kaisers in Konstantinopel als Herrn der griechisch-römischen Christenheit auf der anderen Seite. Es handelte sich demnach um einen Religionskrieg zwischen den orientalischen Anhängern eines semitischen Verständnisses vom Christentum und den Vertretern der hellenistischen und römischen Sonderentwicklung. Das zentrale Problem waren immer noch Fragen der Christologie. Daher wendet sich die Inschrift vom Jahr 72 der arabischen Ära (694) im Felsendom in Jerusalem an die Christenheit insgesamt: Yâ ahla al-kitâb/ Oh ihr Leute der SCHRIFT! Mit der Schrift ist selbstverständlich die Bibel gemeint und nicht die Botschaft des Propheten der Araber, dessen Lebensbeschreibung im Stil eines arabischen „Heiland“ eineinhalb Jahrhunderte später nachgereicht wurde. (Popp, Die frühe Islamgeschichte, S. 55)

Der arabische Staat bestand schon vor dem Islam. Der Islam war nicht der Grund und die motivierende Kraft der Entstehung eines arabischen Großreiches, sondern die Folge. Er war Teil der Konsolidierung und Machtsicherung. Die Abbasiden machten Schluss mit der Parusie-Erwartung, die das Volk ständig in Aufruhr versetzt hatte. Der neue Wallfahrtsort Mekka und das Grab des Propheten Mohammed in Medina wurden zum Symbol der Absage an die Parusie-Erwartung. Stattdessen verordneten die Abbasiden die Hinwendung zum Chiliasmus des Tausendjährigen Reiches. Der ordnungsbedürftige Staat benötigte zwei Theologien: die politische und die mythische. Beide Voraussetzungen erfüllte der Islam.

Die scheinmuslimische Dynastie der Umaiyaden diente den Abbasiden als Prügelknabe. Sie sollte die Schuld daran tragen, dass Mohammed und seine Offenbarung nicht schon viel früher bekannt waren: Diese gottlose Sippe hatte sie unterdrückt – die Abbasiden holten sie ans Licht. Die Ähnlichkeit mit den Josianischen Reformen im Judentum ist deutlich: Laut dem Bericht in 2Kg. 22, 2-13 „fand“ der Hohepriester Hilkia im Tempel von Jerusalem bei Renovierungsarbeiten ein in Vergessenheit geratenes Buch, das König Josia zur Grundlage eines von ihm neu geschlossenen Bundes zwischen Volk und Gott dienen sollte. Bei diesem „gefundenen“ Buch soll es sich um eine Vorform des Deuteronomiums, des 5. Buch Moses, gehandelt haben. Das Ereignis fand statt im Jahre 622 v. Chr., eine merkwürdige Koinzidenz mit dem Beginn der islamischen Zeitrechnung im Jahre 622 n. Chr.

Die Abbasiden machten Politik auf lange Sicht. Die koranischen Regelungssuren, auch „medinensisch“ genannt, entstanden jetzt. Sie setzten den christlichen Teil des Korans, der mit dem sogenannten „mekkanischen“ so gut wie identisch ist, weitgehend außer Kraft. Diesen Vorgang nennt man Abrogation. Insgesamt sollen 225 Verse durch neuere Offenbarungen abrogiert worden sein. (Goetze, S. 238) Die Regelungssuren sind postmillenarisch. Sie rechnen mit dem Überdauern der Menschheit auf unbestimmte Zeit. Dafür mussten Vorkehrungen getroffen werden, die realistisch und einhaltbar waren.

So kann die Aufforderung „Tötet eure Feinde“ (Sure 2:19) auch als Negation der Botschaft Jesu in der Bergpredigt „Liebet eure Feinde“ gelesen werden, oder, wenn man hier nicht „tötet“, sondern „schlaget“ übersetzt, als Negation des Jesus-Wortes: „Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm auch die linke hin“. Jesu Predigt erging in der Gewissheit, das Reich Gottes stehe unmittelbar bevor. Nach der vielfach enttäuschten Messias-Erwartung war die Aufforderung „Tötet (schlaget) eure Feinde“ Ausdruck der Rückkehr zur pragmatischen Realpolitik ohne Endzeitnaherwartung. Mit der Bergpredigt ließ sich schlecht regieren.

Die Herrschaft der Abbasiden endete im Jahre 1258 im sogenannten „Mongolensturm“. Der Koran ist somit die Verfassung und ideologische Grundlage der Herrschaft einer vergangenen Dynastie. Die darin festgeschriebene Ungleichheit der Menschen, abgestuft nach Religionszugehörigkeit und Geschlecht, ist mentalitätsgeschichtlich grundsätzlich überwunden und gilt heute als faschistisch.

Noch nicht einmal die Islamisten berufen sich auf das Kalifat von Bagdad. Ihr Sehnsuchtsort ist Medina. Dort war das goldene Zeitalter der Altvorderen, der salâfiyûn. Doch Mohammeds Schlichterrolle in Medina, womit er dort faktisch zum politischen Führer aufstieg, spiegelte lediglich die Situation der Araber im byzantinischen Orient: die Länder gehörten ihnen nicht, aber sie hatten das Sagen. Sie eroberten wie Mohammed und seine Helfer, die mit der Zeit die angestammten Medinenser ins Abseits manövrierten, die Macht von innen.

Gastautorin Barbara Köster hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert.

Teil 3 folgt.

KURT BANGERT: Muhammad. Eine historisch-kritische Studie zur Entstehung des Islams und seines Propheten, Wiesbaden 2016

ANDREAS GOETZE: Religion fällt nicht vom Himmel. Die ersten Jahrhunderte des Islams, Darmstadt 2014

YEHUDA NEVO/JUDITH KOREN: Crossroads to Islam. The Origin of the Arab Religion and the Arab State, New York 2003

VOLKER POPP: Die frühe Islamgeschichte nach inschriftlichen und numismatischen Zeugnissen, in: OHLIG, KARL-HEINZ/ PUIN, GERD-R. (Hg.): Die dunklen Anfänge, Berlin 2005,  S. 16-123

VOLKER POPP: Von Ugarit nach Sâmarrâ, in: OHLIG, KARL-HEINZ. (Hg.) Der frühe Islam, S. 14-222

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