Seit vielen Jahren propagiert der Verband der Chemischen Industrie (VCI) gemeinsam mit anderen europäischen Industrieverbänden und unterstützt vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ein „Innovationsprinzip“. Diese Initiative zielt in erster Linie auf die Regulierungspraxis in der EU. Bei neuen Gesetzen sollen in der „politischen Abwägung nicht nur die Risiken, sondern auch die Chancen durch Innovationen gesehen werden“.
Entsprechend sollen auch die zuweilen eher negativen gesetzgeberischen „Auswirkungen auf die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft“ Berücksichtigung finden. Die Einladung Sigmar Gabriels zur Konferenz „Zukunftsperspektive Industrie 2030“ Anfang 2016 nutzte der damalige Präsident des VCI, Marijin Dekkers, um diesen Wunsch näher zu erläutern. Dabei rückte er das Prinzip Innovation in den Kontext eines notwendigen Kulturwandels hin zu einer „offenen Kultur für Innovationen“. In Deutschland und Europa bemängelt er eine Schlagseite durch das Vorsorgeprinzip. Es sei daher dringend notwendig, eine Ergänzung durch einen „Ansatz zum Umgang mit Chancen“ vorzunehmen.
Die schier überschäumende allgemeine Innovationseuphorie, die noch dazu dem Glauben verfallen scheint, dass mehr Innovationen einfach mit mehr Fördergeldern zu kaufen wären, ist jedoch nur eine Kulisse. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein dramatischer Rückgang von bedeutenden Innovationen, die in der Lage wären, den materiellen Wohlstand zu steigern. Begleitet wird diese Entwicklung von einer inzwischen tief verwurzelten Abneigung derartiger Neuerungen die zuweilen in offene Innovationsfeindlichkeit umschlägt und obendrein von den meinungsführenden Schichten kontinuierlich gefördert wird.
Innovation ist kein Selbstzweck
In den Wirtschaftswissenschaften wurde der Innovationsbegriff maßgeblich durch den Ökonomen Joseph Schumpeter zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt. Schumpeter stellte einen kausalen Zusammenhang her zwischen Produkt- und Prozessinnovationen und den daraus resultierenden Produktivitätssteigerungen. Die Produktivitätssteigerungen bewirken, dass immer weniger menschliche Arbeit zur Herstellung einer Ware oder Dienstleitung benötigt wird. Diese wird dadurch günstiger und der allgemeine Wohlstand steigt. Die bessere Produktionsweise setzt sich durch und führt zu einer schöpferischen Zerstörung der nicht innovativen Unternehmen und mitunter ganzer Wirtschaftsbereiche. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist zu erwarten, dass eine innovative Wirtschaft mehr oder weniger starke Fortschritte bei der Erhöhung der Arbeitsproduktivität macht.
Das ist in Deutschland jedoch nicht der Fall. Der jährliche Anstieg der Arbeitsproduktivität ist, wie auch in anderen entwickelten Volkswirtschaften, seit Jahrzehnten kontinuierlich rückläufig. Wie tiefgreifend das Problem tatsächlich ist, zeigt der Sachverständigenrat mit einer Analyse der westlichen Industrieländer. Alle untersuchten Länder verzeichneten nicht nur in den letzten knapp 20 Jahren erhebliche Rückgänge beim Anstieg der Arbeitsproduktivität, sondern schon seit Anfang der 1970er Jahre. Damals lag die jährliche Steigerung in Frankreich, Spanien und Italien noch über der hohen deutschen Rate von fünf Prozent. Bis 2014 sackte sie in den USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien bei weiter rückläufiger Tendenz auf unter 1 Prozent ab.
Man kann diese Entwicklung unproblematisch finden. Der Sachverständigenrat verweist beruhigend darauf, dass Deutschland keinen „Sonderfall“ darstelle, denn „für nahezu alle großen Industrieländer war spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre ein Rückgang beim Anstieg der Arbeitsproduktivität zu beobachten“. Die Innovationsschwäche wird aber nicht dadurch besser, dass andere entwickelte Länder nicht innovativer sind und sich mit den gegenwärtig recht wettbewerbsfähig in Deutschland produzierten Gütern noch mancher Euro auf den Weltmärkten verdienen lässt.
Die Schwäche wird auch dadurch überdeckt, dass die Produktivitätsentwicklung zumindest in den Schwellen- und Entwicklungsländern einige Dynamik aufweist. Dies führt hierzulande zu einem Angebot günstiger importierter Waren und zu entsprechend niedrigeren Preisen. Besonders profitieren davon die Höherqualifizierten, deren Jobs nicht mit der Produktion in Niedriglohnländern in Wettbewerb stehen. Daher können sie trotz der geringen inländischen Arbeitsproduktivitätssteigerungen in der Regel noch steigende Reallöhne und -gehälter erzielen, also echte Wohlstandszuwächse. Anders sieht es bei geringer qualifizierten Arbeitnehmern aus, die zwar ebenfalls von den niedrigen Preisen profitieren, aber andererseits einem Lohndruck ausgesetzt sind, da sie direkter dem Wettbewerb mit den Niedriglohnregionen der Schwellen- und Entwicklungsländer ausgesetzt sind. Diese sozialen Schichten spüren die Innovationsschwäche materiell am deutlichsten und mussten seit Anfang der 90er Jahr im Schnitt Reallohnverluste hinnehmen. Aufgrund der eben nicht von Innovationsdynamik geprägten Natur der Arbeitsmarktentwicklung, können sich die Arbeitnehmer zudem kaum in höher qualifizierte Positionen hineinarbeiten. Wohlstandsgewinne aus Arbeit werden in den sozial schwächeren Schichten daher meist nur noch erreicht, indem sie überhaupt in Arbeit kommen, Überstunden leisten oder Zweitjobs annehmen.
Transformation statt Disruption
Die derartige materielle Abfederung der Mittelschicht hat einen schleichenden Paradigmenwechsel begünstigt. Denn wer sich materiell trotz des kontinuierlichen Rückgangs der Innovationsfähigkeit immer besser stellt, kann Wohlstand auf einer breiteren Grundlage definieren. Die durch die rückläufigen Produktivitätssteigerungen resultierenden Wohlstandsverluste werden daher eher achselzuckend hingenommen oder gar mit dem Verweis auf die aus niedrigem Wirtschaftswachstum resultierende nachhaltige Ressourceneinsparung begrüßt. Folgerichtig hat die Große Koalition bei ihrer Aktualisierung der High-Tech Strategie 2014 bereits beteuert, sie setze auf einen „erweiterten Innovationsbegriff, der nicht nur technologische, sondern auch soziale Innovation umfasst“ und „die Gesellschaft als zentralen Akteur“ einsetze. Diese Erweiterung bedeutet jedoch die faktische Loslösung von der ursprünglichen Bedeutung von Innovation. Im Eckpunktepapier zur Forschungs- und Innovationsstrategie des CDU-geführten Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) vom Juli 2017 wird diese Abkehr noch deutlicher. Das Ministerium will „Forschung und Innovation zielgerichtet auf gesellschaftlichen Nutzen ausrichten: sicher, gesund und nachhaltig“.
Dieser Paradigmenwechsel ist auch auf der Ebene der EU erkennbar. Die Lissabon Strategie aus dem Jahr 2000 zielte noch auf wirtschaftliches Wachstum ab, um die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Das zehn Jahre später formulierte Wirtschaftsprogramm Europa 2020 knüpfte Bedingungen an die wirtschaftliche Entwicklung, denn es gehe nun um „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“.
Wachstum, Innovation und Forschung sollen offenbar nicht mehr darauf ausgerichtet sein, den materiellen Wohlstand zu steigern, sondern in erster Linie eher weiche Ziele wie Nachhaltigkeit, Sicherheit, Inklusion, Glück oder soziale Gerechtigkeit gewährleisten. Dadurch stehen Innovationen inzwischen unter diversen Vorbehalten, die diesen einen veränderten und vor allem limitierenden Rahmen setzen.
Innovationen, die es verdienen, so bezeichnet zu werden, sind jedoch notwendigerweise disruptiv, denn sie ersetzen oder verbessern bisherige Produkte oder Prozesse und bieten den Anwendern so deutliche Vorteile, dass sich diese Innovationen durchsetzen und anderes verdrängen. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich nicht um eine Innovation im klassischen Sinn. Die ängstliche Ablehnung von Disruption kommt daher dem Verzicht auf die wohlstandsteigernde Kraft von echten Produktivitätssprüngen gleich.
Unternehmen als Risikoschleudern
Dem gewandelten Innovationsbegriff liegt eine innovationsfeindliche Haltung zugrunde. Diese zeigt sich auch an den Erwartungen an die Unternehmen. Es steht nicht mehr deren nützliche Funktion bei der Steigerung des Wohlstands im Zentrum. Stattdessen sollen sich die Unternehmen als moralische Institutionen beweisen. Es gilt heute als selbstverständlich, dass Unternehmen neben wirtschaftlichen Interessen auch soziale und ökologische Ziele verfolgen und somit ihrer sozialen Verantwortung, neudeutsch Corporate Social Responsibility (CSR) nachkommen.
Das Paradigma des Adam Smith, wonach die Unternehmer in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft mit ihrem Interesse an größtmöglichem Gewinn eine objektiv im Interesse der gesamten Gesellschaft liegende Aufgabe wahrnehmen, gilt durch die Moralisierung der Unternehmen nicht mehr. Diese Moralisierung führt auch dazu, dass das von Smith als legitim und funktional im Sinne der Marktwirtschaft angesehene Gewinnstreben heute vielfach als schädlich betrachtet wird. Gewinnstreben erscheint zunehmend als Gier und diese wird dafür verantwortlich gemacht, dass vermeintlich zu hohe Risiken eingegangen werden.
Die Überfrachtung der Unternehmen mit sozialer Verantwortung reicht viel weiter als die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben. Dies hat dazu beigetragen, dass sie in einem politischen Umfeld, in dem Stabilität und Risikovermeidung die wichtigsten Ziele sind, als wahrhafte Risikoschleudern wahrgenommen werden. In der öffentlichen Diskussion erscheinen sie kaum mehr als Wohlstandsproduzenten, sondern zunehmend als Produzenten von Umwelt- und Gesundheits- oder auch sozialen Risiken.
Den Unternehmen bleibt wenig anderes übrig, als sich diesen regulatorischen und kulturellen Trends anzupassen. CSR ist inzwischen ein zentraler Aspekt der Unternehmenskommunikation geworden. Viele Unternehmen kooperieren mit ihren ärgsten Kritikern, um Reputationsrisiken zu minimieren, was die problematischen Trends weiter vorantreibt.
Kulturwende in Richtung Risikokultur
Mit seinem Hinweis auf „kulturelle Prägungen“ in Deutschland und Europa, die einer innovationsfreundlichen gesellschaftlichen Stimmung entgegenstehen, impliziert Dekkers, dass wir die Aversion gegenüber großen, innovationsgetriebenen Veränderungen gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, da wir diese längst verinnerlicht haben. Tatsächlich nimmt das Vertrauen, dass wir Veränderungen meistern, Risiken beherrschen und Hürden überwinden können, seit Jahrzehnten stetig ab. Entsprechend gering ist die Neigung, vermeintlich stabile Verhältnisse gegen die Ungewissheit technologiegetriebener Veränderungen zu tauschen. Diese Grundstimmung beeinflusst unser tägliches Handeln, aber auch unser politisches Denken. Wir glauben nicht mehr wie die Humanisten der Aufklärung an das kreative Potenzial der Menschheit. Stattdessen dominiert ein Risiko- und Grenzendenken, bei dem Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeit ins Zentrum gerückt sind.
Wenn politische Kultur und das Denken und Handeln der relevanten Akteure in Politik, Staat, Wirtschaft und Medien darauf ausgerichtet ist, Risiken und disruptive Veränderungen möglichst zu vermeiden, ist es kein Wunder, dass den Unternehmen die Lust am Forschen, Entwickeln und Innovieren einigermaßen vergangen ist. So wird die steigende staatliche Förderung von Forschung und Innovation wohl den F&E-Anteil am BIP weiter nach oben treiben. Dies ist jedoch nur Augenwischerei, denn dies läuft darauf hinaus, eine Kennzahl hinzubiegen, ohne das zugrundeliegende Problem zu lösen. Dringend erforderlich wäre eine Kehrtwende. Eine Kulturwende, hin zu einer Risikokultur, die disruptive Innovationen begrüßt und nicht behindert. Die öffentliche Auseinandersetzung um das Innovationsprinzip könnte dazu einen Beitrag leisten.
Alexander Horn lebt und arbeitet als selbstständiger Unternehmensberater in Frankfurt. Er ist Geschäftsführer des Novo Argumente Verlags und Novo-Redakteur mit dem Fokus auf wirtschaftspolitischen Fragen.