Hinter den europäischen Kulissen bahnt sich eine heftige Kontroverse über die von Macron vorgeschlagene Neuausrichtung der EU an. Der Widerstand gegen den unter dem Deckmantel der „Vertiefung“ und „Solidarität” geplanten Marsch in die Schuldenunion nimmt nicht nur in Deutschland zu.
EU in den Medien
Die European Constitutional Group, ein renommierter Zusammenschluss europäischer Ökonomen, hat den Ratspräsidenten der Europäischen Union offiziell davor gewarnt, die Vorschläge der EU- Kommission zur „Vertiefung“ der Wirtschafts- und Währungsunion in die Tat umzusetzen, weil sie nur Fehlanreize für die Regierungen und Banken bewirken würden. Außerdem kritisieren die Volkswirtschaftsprofessoren die Absicht Junckers, potenzielle Neumitglieder durch zusätzlich bereitzustellende Finanzhilfen zum EU-Beitritt zu motivieren. Eine weitere Aufweichung der ohnehin nicht hinreichend strikten Konvergenzkriterien für Beitrittskandidaten sei prinzipiell nicht sachgerecht.
Schwere Geburt
Schon die politische Vorbereitung der Währungsunion in Deutschland war geprägt durch fragwürdige Machenschaften. Obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung unstrittigerweise eindeutig gegen eine Aufgabe der DM war, ist dieses Projekt vor allem von Helmut Kohl („Der Euro ist eine Frage von Krieg und Frieden“) und dem damaligen Finanzminister Theo Waigel mit aller Macht durchgeboxt worden. Ob es sich hierbei wirklich um ein Zugeständnis Kohls an den französischen Präsidenten Mitterrand für dessen Billigung der Wiedervereinigung gehandelt hat, werden Historiker nach Öffnung der Geheimakten herauszufinden haben.
„Zerreissprobe“
Im Juni 1992 haben 60 bekannte Wirtschaftswissenschaftler, darunter der frühere Superminister Karl Schiller, mit der Vorlage ihres Manifestes „Die EG-Währungsunion führt zur Zerreissprobe“ aus heutiger Sicht seherische Qualitäten bewiesen. Im Februar 1998 folgte ein weiterer, diesmal von 160 Professoren unterzeichneter Aufruf mit der Überschrift „Der Euro kommt zu früh“. Die seinerzeit vorgetragenen Befürchtungen sind mittlerweile von den Realitäten übertroffen worden. Im Mittelpunkt stand damals wie heute die Sorge, die Gemeinschaftswährung werde sich letztlich zur Transfer- und Haftungsunion entwickeln. Davon völlig unbeeindruckt stellte die CDU auf Plakaten zur Europa-Wahl 1999 die rhetorischen Fragen: „Was kostet uns der Euro? Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen?“, um diese dann nachhaltig so zu beantworten: „Ein ganz klares Nein! Der Maastricht-Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die EU oder die EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedslandes haften.“
„Whatever it takes“
Unter der Überschrift Euro-Rettung sind nach der Schuldenkrise bekanntlich vielfältige Hilfsprogramme gestartet worden, um die EU-Schuldenländer über Wasser zu halten. Später stieg die EZB in den systemwidrigen Ankauf von Staatsanleihen ein. Im Jahr 2012, als die Euro-Krise kurz vor der Explosion stand, übernahm Mario Draghi de facto eine Haftung für alle Staatsschulden der Mitgliedsländer („Whatever it takes“). Seit 2015 hat die EZB für mittlerweile 2,5 Billionen Euro mehr oder weniger faule Anleihen gekauft und sich damit – unter Verletzung des Maastricht-Vertrags – in die Abwärtsspirale einer monetären Staatsfinanzierung begeben.
„Keine Alleingänge“
Mittlerweile haben sich mit der Slowakei und Tschechien zwei weitere Staaten der von acht nordeuropäischen Ländern gebildeten Initiative angeschlossen, die französisch-deutsche Alleingänge zur „Vertiefung“ der Wirtschafts- und Währungsunion verhindern will. Nicht nur das Vorpreschen von Macron hat in diesem Sinne offenbar für Beunruhigung gesorgt, sondern auch der schwarz-rote Koalitionsvertrag. Vor allem der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat klare Grenzen der Belastbarkeit aufgezeigt. Das gilt für die geforderte Erhöhung des EU-Haushalts und die Überführung des Rettungsschirms ESB in das Gemeinschaftsrecht ebenso wie für die Implementierung eines europäischen Finanzministers mit eigener Budgethoheit.
Gegenbewegung im Bundestag
Während die neue Bundesregierung noch belastbare Festlegungen in Sachen Reformen vermeidet, stellt man sich derzeit ganz neu auf in EU-Europa. Der Widerstand gegen die von Macron und Juncker angestrebte Transfer- und Währungsunion wächst. Das gilt auch für die CDU. Führende Haushaltspolitiker der Bundestagsfraktion sind mit einem Positionspapier deutlich auf Distanz gegangen. Die Kritik wendet sich vor allem gegen die Umwandlung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (welch eindrucksvolle Wortschöpfung!) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) mit deutlich weiterreichenden Rechten und Eingriffsmöglichkeiten. Damit würde sich die EU-Kommission ein zusätzliches Instrument zur massiven, von den nationalen Parlamenten nicht mehr zu kontrollierenden Umverteilung schaffen. Abzuwarten bleibt, ob die parteiinterne Opposition Bestand haben wird.
Rückbesinnung auf Maastricht
Die alte Mär, dass Deutschland am meisten vom Euro profitiere, taugt angesichts der bereits getätigten finanziellen Engagements zur „Euro-Rettung” und vor dem Hintergrund der Target2-Risiken nicht mehr als Rechtfertigung für immer weitere Zahlungen. Wer das verkennt, unterschätzt die Wirkungsmacht einer proeuropäischen Bevölkerungsmehrheit, die sich allerdings eine Rückbesinnung auf die mittlerweile zur Disposition gestellten Grundsätze von Maastricht, Lissabon und Schengen wünscht. Die langjährig praktizierte Masche, Kritiker der permanenten Vertragsverletzungen in die Ecke der Europa-Feinde zu stellen und so mundtot zu machen, funktioniert nicht mehr. Die bisherigen Schwarz-weiß-Schemata der politischen und medialen Keulen-Argumentation reichen nicht mehr aus.
Wer den Reform-Begriff irreführend nutzt, um damit eine weitergehende Übertragung nationaler Rechte auf Brüssel sowie eine Vergemeinschaftung der Schulden mit der Fixierung Deutschlands als Hauptzahlmeister zu kaschieren, wird sich der Mühe unterziehen müssen, gute Argumente zu liefern. Die Bürger möchten schon wissen, warum sich die EU nicht zunächst einmal auf die Einhaltung der gemeinsam beschlossenen, vernünftigen Spielregeln besinnt, bevor die finanzielle Selbstbedienung der Schuldenländer unter dem Deckmantel der „Vertiefung“ und „Solidarität“ zum vertraglichen Normalzustand wird.
Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Geldanlage.