Tichys Einblick
Aufsteigende Lügenkurve

In der EU wächst der Widerstand gegen die Schuldenunion

Gestern forderte Emmanuel Macron in flammender Rede vor dem Europa-Parlament die „Wiedergeburt Europas“ und ein Schließen der Kluft zwischen Nord- und Südeuropa. Deshalb ein nüchterner Blick auf die wirklichen Ziele und Risiken der „Vertiefung“.

© LUDOVIC MARIN/AFP/Getty Images

Hinter den europäischen Kulissen bahnt sich eine heftige Kontroverse über die von Macron vorgeschlagene Neuausrichtung der EU an. Der Widerstand gegen den unter dem Deckmantel der „Vertiefung“ und „Solidarität” geplanten Marsch in die Schuldenunion nimmt nicht nur in Deutschland zu.

EU in den Medien

Die European Constitutional Group, ein renommierter Zusammenschluss europäischer Ökonomen, hat den Ratspräsidenten der Europäischen Union offiziell davor gewarnt, die Vorschläge der EU- Kommission zur „Vertiefung“ der Wirtschafts- und Währungsunion in die Tat umzusetzen, weil sie nur Fehlanreize für die Regierungen und Banken bewirken würden. Außerdem kritisieren die Volkswirtschaftsprofessoren die Absicht Junckers, potenzielle Neumitglieder durch zusätzlich bereitzustellende Finanzhilfen zum EU-Beitritt zu motivieren. Eine weitere Aufweichung der ohnehin nicht hinreichend strikten Konvergenzkriterien für Beitrittskandidaten sei prinzipiell nicht sachgerecht.

Merkelismus
Die EU am Scheideweg
Erstaunlicher- oder bezeichnenderweise ist dieser international verfasste Aufruf zur Einhaltung der ursprünglich vereinbarten EU-Prinzipien von den deutschen Medien kaum beachtet worden. Ohnehin erscheint die öffentliche Diskussion über EU- und Euro-Themen hierzulande merkwürdig verklärend, genormt und limitiert, als gäbe es in manchen Redaktionsstuben eine Art von stillschweigendem Konsens im Sinne einer vorwegeilenden Akklamation und Problemvernebelung. Außerdem pflegt man vor allem in öffentlich-rechtlichen Medien das Ritual, Kritiker der völlig entgleisten Euro-Rettung sowie Mahner zur Einhaltung der Maastricht-Verträge pauschal als „Europa-Gegner“ zu diffamieren. Damit werden die Tatsachen und Inhalte auf den Kopf gestellt. Denn die, die sich für die konsequente Beachtung der vereinbarten Spielregeln einsetzen, dürften sich letztlich als die wahren Freunde einer dauerhaften europäischen Einigung erweisen. Daher sollten ihre Argumente der Bevölkerung nicht vorenthalten werden.
Schwere Geburt

Schon die politische Vorbereitung der Währungsunion in Deutschland war geprägt durch fragwürdige Machenschaften. Obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung unstrittigerweise eindeutig gegen eine Aufgabe der DM war, ist dieses Projekt vor allem von Helmut Kohl („Der Euro ist eine Frage von Krieg und Frieden“) und dem damaligen Finanzminister Theo Waigel mit aller Macht durchgeboxt worden. Ob es sich hierbei wirklich um ein Zugeständnis Kohls an den französischen Präsidenten Mitterrand für dessen Billigung der Wiedervereinigung gehandelt hat, werden Historiker nach Öffnung der Geheimakten herauszufinden haben.

Ouzo für alle
Das deutsche 900 Mrd. Euro-Risiko
Von höchster Bedeutung zur Überzeugung namhafter Gegner wie Edmund Stoiber und Kurt Biedenkopf sowie zur Überwindung der Widerstände in der breiten Bevölkerung war seinerzeit die Herbeiführung einer Art Unbedenklichkeitserklärung durch die Deutsche Bundesbank, die zuvor insbesondere die Aufnahme Italiens und Belgiens wegen deren hoher Staatsschulden beanstandet hatte. Die FAZ hat kürzlich berichtet, dass die gewünschte Formulierung „Die Währungsunion ist stabilitätspolitisch vertretbar“ nach einer sechzehnstündigen, offenbar sehr kontrovers geführten Sitzung des Zentralbankrats erst nachträglich in die offizielle Stellungnahme eingefügt worden sei. Damit war der Widerstand weitgehend gebrochen. Am 1. Januar 1999 startete die Währungsunion mit elf Mitgliedern, darunter Italien. Schon damals wurde auf den Beitritt Griechenlands gewettet, der ja dann 2001 – nach Vorlage gefälschter Haushaltsstatistiken – erfolgt ist.
„Zerreissprobe“

Im Juni 1992 haben 60 bekannte Wirtschaftswissenschaftler, darunter der frühere Superminister Karl Schiller, mit der Vorlage ihres Manifestes „Die EG-Währungsunion führt zur Zerreissprobe“ aus heutiger Sicht seherische Qualitäten bewiesen. Im Februar 1998 folgte ein weiterer, diesmal von 160 Professoren unterzeichneter Aufruf mit der Überschrift „Der Euro kommt zu früh“. Die seinerzeit vorgetragenen Befürchtungen sind mittlerweile von den Realitäten übertroffen worden. Im Mittelpunkt stand damals wie heute die Sorge, die Gemeinschaftswährung werde sich letztlich zur Transfer- und Haftungsunion entwickeln. Davon völlig unbeeindruckt stellte die CDU auf Plakaten zur Europa-Wahl 1999 die rhetorischen Fragen: „Was kostet uns der Euro? Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen?“, um diese dann nachhaltig so zu beantworten: „Ein ganz klares Nein! Der Maastricht-Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die EU oder die EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedslandes haften.“

„Whatever it takes“

Unter der Überschrift Euro-Rettung sind nach der Schuldenkrise bekanntlich vielfältige Hilfsprogramme gestartet worden, um die EU-Schuldenländer über Wasser zu halten. Später stieg die EZB in den systemwidrigen Ankauf von Staatsanleihen ein. Im Jahr 2012, als die Euro-Krise kurz vor der Explosion stand, übernahm Mario Draghi de facto eine Haftung für alle Staatsschulden der Mitgliedsländer („Whatever it takes“). Seit 2015 hat die EZB für mittlerweile 2,5 Billionen Euro mehr oder weniger faule Anleihen gekauft und sich damit – unter Verletzung des Maastricht-Vertrags – in die Abwärtsspirale einer monetären Staatsfinanzierung begeben.

Neuer Sand im Brüsseler Getriebe
EU und Euro-Zone nach der Italien-Wahl
Am Rande: Die Bundesrepublik haftet – ihrem EZB-Anteil von 27 % entsprechend – aktuell mit etwa 675 Mrd. Euro. Rechnet man die Target-2-Risiken hinzu, so stehen derzeit für Deutschland fast 1,6 Billionen Euro im Feuer. Hinzu kommen die kaum noch überschaubaren Beiträge für die „Griechenland-Rettung” und den „Stabilitäts- Mechanismus“. Nur zum Vergleich: Der Bundeshaushalt 2018 sieht Ausgaben von 337,5 Mrd. Euro vor. Ein einigermaßen erträglicher Ausweg aus dieser Misere ist derzeit kaum erkennbar. Die Bundesregierung hält die Euro-Krise übrigens – zumindest offiziell – für weitgehend gelöst.
„Keine Alleingänge“

Mittlerweile haben sich mit der Slowakei und Tschechien zwei weitere Staaten der von acht nordeuropäischen Ländern gebildeten Initiative angeschlossen, die französisch-deutsche Alleingänge zur „Vertiefung“ der Wirtschafts- und Währungsunion verhindern will. Nicht nur das Vorpreschen von Macron hat in diesem Sinne offenbar für Beunruhigung gesorgt, sondern auch der schwarz-rote Koalitionsvertrag. Vor allem der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat klare Grenzen der Belastbarkeit aufgezeigt. Das gilt für die geforderte Erhöhung des EU-Haushalts und die Überführung des Rettungsschirms ESB in das Gemeinschaftsrecht ebenso wie für die Implementierung eines europäischen Finanzministers mit eigener Budgethoheit.

METZGERS ORDNUNGSRUF 3-2018
Target2: Italiens "goldene Kreditkarte"
Stattdessen pocht Rutte auf die strikte Einhaltung des Stabilitäts- und Währungspakts durch alle Euro-Länder. Und mit Blick auf den zunehmend eigenmächtig agierenden Juncker mahnt der Niederländer an: „Die Kommission soll den EU-Mitgliedern dienen, nicht umgekehrt.“ Der für Klartext bekannte Ökonom Hans Werner Sinn hat schon 2017 darauf hingewiesen, dass es sich bei der sogenannten Fiskalunion um nichts anderes handele als eine Transfer- und Schuldenunion. So bedeute die von Macron vorgeschlagene Bankenunion, dass die nördlichen Euro-Länder, also vor allem Deutschland, in den südlichen Ländern und in Irland Sicht- und Spareinlagen in Höhe von 3,69 Billionen Euro abzusichern hätten.
Gegenbewegung im Bundestag

Während die neue Bundesregierung noch belastbare Festlegungen in Sachen Reformen vermeidet, stellt man sich derzeit ganz neu auf in EU-Europa. Der Widerstand gegen die von Macron und Juncker angestrebte Transfer- und Währungsunion wächst. Das gilt auch für die CDU. Führende Haushaltspolitiker der Bundestagsfraktion sind mit einem Positionspapier deutlich auf Distanz gegangen. Die Kritik wendet sich vor allem gegen die Umwandlung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (welch eindrucksvolle Wortschöpfung!) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) mit deutlich weiterreichenden Rechten und Eingriffsmöglichkeiten. Damit würde sich die EU-Kommission ein zusätzliches Instrument zur massiven, von den nationalen Parlamenten nicht mehr zu kontrollierenden Umverteilung schaffen. Abzuwarten bleibt, ob die parteiinterne Opposition Bestand haben wird.

Weiteres Not-Opfer für Griechenlands Lebensstil
Griechenland-Retterei: Schweigen und zahlen
Allzu lange hat der Deutsche Bundestag in demokratisch fragwürdiger Weise die in Brüsseler Nachtsitzungen entwickelten Euro-„Rettungsprogramme” nahezu widerstandslos abgenickt. Es wird Zeit, dass das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten wieder selbstbewusst und vollumfänglich wahrnimmt. EU- Haushaltskommissar Günther Oettinger hat bereits seine widerspenstigen Parteifreunde wissen lassen, sie gefährdeten „den Aufbruch für Europa“. Auf Sicht wird es Frau Merkel nicht mehr allen Recht machen können. Auch das bisherige Verfahren der Konfliktlösung via Bundeshaushalt ist längst an seine Grenzen gestoßen. Ein Weiter-so im Sinne von faulen Kompromissen und vollendeten Tatsachen ist kaum vorstellbar. Die Stunde der Wahrheit kommt.
Rückbesinnung auf Maastricht

Die alte Mär, dass Deutschland am meisten vom Euro profitiere, taugt angesichts der bereits getätigten finanziellen Engagements zur „Euro-Rettung” und vor dem Hintergrund der Target2-Risiken nicht mehr als Rechtfertigung für immer weitere Zahlungen. Wer das verkennt, unterschätzt die Wirkungsmacht einer proeuropäischen Bevölkerungsmehrheit, die sich allerdings eine Rückbesinnung auf die mittlerweile zur Disposition gestellten Grundsätze von Maastricht, Lissabon und Schengen wünscht. Die langjährig praktizierte Masche, Kritiker der permanenten Vertragsverletzungen in die Ecke der Europa-Feinde zu stellen und so mundtot zu machen, funktioniert nicht mehr. Die bisherigen Schwarz-weiß-Schemata der politischen und medialen Keulen-Argumentation reichen nicht mehr aus.

Wer den Reform-Begriff irreführend nutzt, um damit eine weitergehende Übertragung nationaler Rechte auf Brüssel sowie eine Vergemeinschaftung der Schulden mit der Fixierung Deutschlands als Hauptzahlmeister zu kaschieren, wird sich der Mühe unterziehen müssen, gute Argumente zu liefern. Die Bürger möchten schon wissen, warum sich die EU nicht zunächst einmal auf die Einhaltung der gemeinsam beschlossenen, vernünftigen Spielregeln besinnt, bevor die finanzielle Selbstbedienung der Schuldenländer unter dem Deckmantel der „Vertiefung“ und „Solidarität“ zum vertraglichen Normalzustand wird.

Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Geldanlage.

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