Vor acht Jahren änderte sich an einem Montag die Welt. Ein bis dahin unbekannter Senator aus dem amerikanischen Kongress gewann in Iowa die Vorwahl zur Nominierung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten gegen die haushohe Favoritin Hillary Clinton. Erst ab diesem Zeitpunkt reagierte die deutsche Öffentlichkeit auf diese tektonische Verschiebung in der amerikanischen Innenpolitik. Deutschland stand damals noch unter dem Eindruck der Präsidentschaft des jüngeren Bush, der alles verkörperte, was man an den USA verabscheute. Barack Obama geriet so in Deutschland in die Rolle des Messias, der Amerika vom Bösen erlösen sollte. Die spätere Enttäuschung war absehbar. Kein Präsident einer Supermacht kann metaphysische Erlösungsphantasien auf dem alten Kontinent befriedigen.
Erst in späteren Jahren wird man die Bedeutung von Obama einzuordnen wissen. Etwa seine Bereitschaft zur internationalen Kooperation in der Außenpolitik und seine Skrupel gegenüber der unilateralen Intervention in Konflikten wie in Syrien. Obama setzte gegen massive Widerstände eine Krankenkassenreform durch, an der alle demokratischen Präsidenten seit 1945 gescheitert waren. In der Ukraine, beim Einsatz von Drohnen oder der NSA vertrat er dagegen robust die Interessen der USA als Weltmacht. Das erzeugte Konflikte mit Gegnern wie Verbündeten. Die gab es im Verhältnis zu den USA zu allen Zeiten. Daran wird sich auch nichts ändern, gleichgültig wer in den USA der nächste Präsident werden sollte.
+++ Ob es Donald Trump wird? Der Spiegel macht ihn mit Beginn der Vorwahlen zum Titelbild. Darauf stehen folgende Worte: „Wahnsinn. Amerikas Hetzer Donald Trump.“ Dessen Wahlkampfstrategie kann man so beschreiben. Er mobilisierte in seiner bisherigen Kampagne die Teile der Wählerschaft, die den gegenwärtigen Präsidenten aus vollen Herzen hassen. Trump steht für Maßlosigkeit und maximale Polarisierung. Er radikalisiert damit eine politische Strategie der konservativen Republikaner, die schon seit Jahrzehnten den Kulturkampf zur Grundlage ihrer Hegemonie in der amerikanischen Politik gemacht haben. Da war das Recht auf Waffenbesitz wichtiger als der Zugang zu einer Krankenversicherung. Trumps Kampagne lebt allerdings bisher vom Widerwillen gegen ein politisches Establishment, wo es vor einem Jahr noch nach einer Neuauflage des Duells zweier politischer Patrizier-Familien aussah: Clinton gegen Bush.
Davon haben viele Wähler in den USA erkennbar die Nase voll. Deshalb wurde jetzt sogar ein linker Flügelmann der Demokraten wie Bernie Sanders für Frau Clinton zu einer ernsthaften Bedrohung. Vielleicht sollten die Medien besser die anstehenden Vorwahlen abwarten. Die Wähler haben in der Vergangenheit keinen Kandidaten zum Präsidenten gewählt, der nicht den Mainstream der amerikanischen Politik traf. Die Nominierung von Außenseitern wie Trump oder Sanders könnte daher etwas anderes einläuten: Das Ende des bisherigen Parteiensystems. Die Aufgabe der Medien kann es aber in den kommenden Monaten nicht sein, das deutsche Unverständnis über die amerikanische Politik zum Ausdruck zu bringen. Sie sollten vielmehr ihrem Publikum deren Mechanismen erläutern.
+++ Die Debatte um Trump grenzt an Hysterie. Diese folgt einer paradoxen Logik. Je maßloser Trump argumentiert, um so mehr Resonanz findet er in den Medien. Was einen Kandidaten zu früheren Zeiten diskreditiert hätte, verschafft ihm jetzt einen Mobilisierungsvorteil in den ihm zugänglichen Wählermilieus. Das sind in seinem Fall nicht die Leser der New York Times. In einem durch das Internet hoch fragmentierten Mediensystem erzeugt eine Warnung der Times vor Trump das Gegenteil von dem, was erreicht werden soll. Es bestätigte dessen Wähler, weil sie für deren Argumente nicht mehr zugänglich sind. Das klassische Mediensystem wird zunehmend durch fragmentierte Medienangebote ersetzt, wo das Publikum vor allem in seinen Erwartungen bestätigt wird.
Die USA waren in dieser Entwicklung ein Vorreiter. Mittlerweile hat das Europa und Deutschland erreicht. Der Spiegel nennt Donald Trump einen Hetzer. Dieser Begriff war schon fast aus der Mode gekommen, weil er etwa in Diktaturen wie der DDR diskreditiert worden war. Dort gehörte der Vorwurf der Hetze zum Repertoire staatlicher Propaganda, um abweichende Meinungen strafrechtlich zu sanktionieren. Es ist erstaunlich, wie dieser Begriff in den vergangenen Monaten ein selbstverständlicher Teil des politischen Umgangston werden konnte, trotz der nachvollziehbaren Abscheu vor den rhetorischen Ausdünstungen in den sozialen Netzwerken. Bundesjustizminister Heiko Maas hat den Kampf gegen die Hetze im Netz sogar zu seinem wichtigsten Anliegen gemacht. In einem Gastbeitrag für die FAZ erläuterte er den Sinn demokratischer Verhältnisse:
„Wer seinem politischen Gegner die demokratische Legitimität abspricht und dessen Tun in den Ruch des Unrechts rückt, der meint, über Inhalte nicht mehr diskutieren zu müssen. Wir sollten uns hüten, durch verbale Hysterie auch in Deutschland unser politisches Klima zu demolieren.“
Maas erklärt anschließend, was darunter zu verstehen ist. Es geht in Wirklichkeit darum, die Rechtsposition der Bundesregierung dem demokratischen Meinungsstreit zu entziehen. Maas hat den Kritikern dieser Rechtsposition, darunter ehemalige Bundesverfassungsrichter, geistige Mittäterschaft vorgeworfen:
„Das Gerede vom angeblichen Rechtsbruch des Staates ist Wasser auf die Mühlen von Pegida und Verschwörungstheoretikern im Internet. Wenn selbst honorige Juristen suggerieren, dass eine Regierung permanenten Rechtsbruch begehe, ja gar kriminell handele, müssen sich dann rechte Wirrköpfe nicht ermutigt fühlen, zur Tat zu schreiten und dagegen ‚Widerstand‘ zu leisten? … Niemand sollte dieses Augenmaß verlieren, und jeder muss sich der Verantwortung für seine Thesen und Worte bewusst bleiben. Auch ein juristischer Diskurs kann entgleiten und zur geistigen Brandstiftung beitragen.“
Damit wurden die ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio und Hans-Jürgen Papier in die Haftung genommen, „Wirrköpfe ermutigt“ und „zur geistigen Brandstiftung“ beigetragen zu haben. Es ist schon erstaunlich, wie wenig Aufsehen diese Passagen erzeugt haben. Sie dokumentieren die Verwahrlosung in der Debatte.
+++ Daher muss sich niemand mehr darüber wundern, wenn sich Journalisten nicht mehr als Berichterstatter, sondern als Akteure im politischen Meinungskampf definieren. An diesem Wochenende ging es um die Frage, ob deutsche Grenzpolizisten gegenüber Flüchtlingen von der Schußwaffe Gebrauch machen dürfen. Solche Gewaltphantasien über erschossene Flüchtlinge findet man in den sozialen Netzwerken, auch im Umfeld der AfD. Allerdings nicht nur dort. Die Befürworter der Politik der Grenzöffnung benutzen ebenfalls dieses Argument. Wie wolle man den Zustrom von Flüchtlingen sonst stoppen, außer sie zu erschießen?
Beide Lager sind sich in dieser Hinsicht in gespenstischer Weise einig. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Niemand wird deutschen Grenzpolizisten befehlen können, ein Massaker an unschuldigen Flüchtlinge zu verüben. Ein anderer Fall wäre der Versuch, mit Gewaltanwendung die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu erzwingen. Dann könnten deutsche Grenzpolizisten, wie jeder andere Polizeibeamte auch, im Rahmen der geltenden Gesetze Gewalt anwenden. Aber wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario? Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry war dazu vom Mannheimer Morgen befragt worden.
„Was passiert, wenn ein Flüchtling über den Zaun klettert?
Petry: Dann muss die Polizei den Flüchtling daran hindern, dass er deutschen Boden betritt.
Und wenn er es trotzdem tut?
Petry: Sie wollen mich schon wieder in eine bestimmte Richtung treiben.
Noch mal: Wie soll ein Grenzpolizist in diesem Fall reagieren?
Petry: Er muss den illegalen Grenzübertritt verhindern, notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.
Es gibt in Deutschland ein Gesetz, das einen Schießbefehl an den Grenzen enthält?
Petry: Ich habe das Wort Schießbefehl nicht benutzt. Kein Polizist will auf einen Flüchtling schießen. Ich will das auch nicht. Aber zur Ultima Ratio gehört der Einsatz von Waffengewalt. Entscheidend ist, dass wir es so weit nicht kommen lassen und über Abkommen mit Österreich und Kontrollen an EU-Außengrenzen den Flüchtlingszustrom bremsen.“
Lediglich Falk Steiner vom Deutschlandfunk machte sich die Mühe, diese Aussagen von Frau Petry einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Ansonsten dominierte die Schlagzeile, Frau Petry wolle Flüchtlinge an der Grenze erschießen lassen. Davon konnte nicht die Rede sein, schon eher bei der späteren Stellungnahme ihrer Stellvertreterin Beatrix von Storch. Steiner erläutert das in seinem Update. Politiker dürfen die Aussagen der AfD-Politikerinnen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das ist ihr Job. Aber der journalistische Umgang mit dem Interview wirkt wie der empirische Beleg für die These, die Peter Sloterdijk im aktuellen Cicero formulierte.
„Journalisten sollten sich klarmachen, dass sie immer die dritte Partei sind, nicht Ankläger, nicht Verteidiger, nicht Darsteller, nicht Gegendarsteller. Ohne den Dritten sind die streitenden Zwei a priori verloren. Heute treten die Verwahrlosung im Journalismus, die zügellose Parteinahme allzu deutlich hervor. Wo gibt es noch eine Bemühung um Neutralisierung, um Objektivierung, hoch ausgedrückt um Vergeistigung? Die angestellten Meinungsäußerer werden für Sich-Gehen-Lassen bezahlt, und sie nehmen den Job an.“
Das ist ein Pauschalurteil. Falk Steiner ist nämlich ein gutes Beispiel für die „dritte Partei“. Man sollte sich ihn zum Vorbild nehmen. Ansonsten geraten wir in die Verhältnisse, wo Hysterie und Hetze nicht nur Merkmale unserer politischen Debatte werden, sondern am Ende den Journalismus bestimmen.
Aber jetzt warten wir gespannt auf die Ergebnisse der Vorwahlen in den USA.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf evangelisch.de