Tichys Einblick
Altes vergeht, damit Neues entsteht

Herausforderung US-Präsidentschaftswahl – der mühselige Weg in die Realität

Es gehört zu den nur auf den ersten Blick unerfreulichen Nachrichten, dass eine Präsidentschaft Trumps, vermutlich aber ebenso die seiner demokratischen Herausfordererin, in Europa führungs- und entscheidungserzwingend ist. Von Ulrich Blum

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Matt Kelley

Altes vergeht, damit Neues entsteht. Das gilt auch für Imperien, Unternehmen, Ideologien. Imperien gehen an territorialer Überdehnung zugrunde, Großunternehmen an wirtschaftlicher Überdehnung, Ideologien an einer kognitiven Überdehnung.

Über Jahrzehnte festigte eine linksliberale Strömung den gesellschaftlichen Konsens des Westens. Ihre Übertreibungen, zu denen „Wokeness“ und „Postkoloniale Theorie“ einen wesentlichen Beitrag geleistet haben – letztere erstaunlicherweise koloniale Länder wie China und Russland ausklammernd – entfremdet inzwischen große Teile der Bevölkerung von alten, oft für überkommen gehaltenen Gewissheiten. Die Folgen sind viele Zerfallserscheinungen: eine Stadt-Land-Dichotomie, eine Dichotomie zwischen produktionsnahen und produktionsfernen, oft staatlich alimentierten Berufen, eine Dichotomie zwischen eher klassischen und den Berufen in der Hochtechnologie- oder Finanzwelt.

Neues muss entstehen. Angesichts der existentiellen Probleme der Welt – aktuell Krieg in Europa, langfristig die Bewältigung der Folgen klimatischer Veränderungen sowie der Systemkonflikt zwischen regelgebundenen Ordnung und einer Welt mit chinesischen Charakteristika, der die USA zu einer Schwerpunktverlagerung nach Asien zwingt – ist zu fragen: Können sich westliche Gesellschaften vor diesem Hintergrund derartige, durchaus kostenträchtige Spielwiesen noch leisten? Vermutlich nein, aber Entwöhnung und Umsteuern fällt schwer, Innovationen stören und das Verzichten auf Macht noch schwerer. Die US-Präsidentschaftswahl wirkt bereits heute – unabhängig von den Kandidaten – als Katalysator, weil die Bündnis- und Wirtschaftsbeziehungen zu Europa auf den Prüfstand stehen.

Oben genannte Milieus besaßen über Jahre die Lufthoheit über den mental maps, also den mentalen Orientierungen der Gesellschaften. Da nichts so erfolgreich ist wie der Erfolg, eskalierten sie. Allerdings stoßen alle Expansionen an ressourcenbedingte Grenzen, so auch diese. Der selbst gesetzte „level of ambition“ überstieg schließlich die eigenen, oft die intellektuellen Fähigkeiten der Protagonisten dieser Entwicklung, aber auch die Fähigkeit der Volkswirtschaften, die daraus folgende politische und wirtschaftliche Umsetzung zu verdauen. Wer die Folgen dieser Entwicklung in den USA kritisch verfolgt, kennt das Buch „Deaths of Despair“ von Anne Case und Angus Deaton aus dem Jahr 2018, in dem sie den Niedergang der amerikanischen Arbeiterklasse und die völlige Indifferenz der amerikanischen Regierung und der digitalen Eliten beschrieben. Trump kann man, wenn man das Wahlergebnis vom November 2016 – und übrigens auch das vom November 2020 sieht, als Reaktion der Wähler, als politische Innovation, sehen. Sein Auftreten ist eine massive Herausforderung, ein Menetekel: Sich um Globalisierungsverlierer rechtzeitig zu kümmern! Daran schließt sich an: Wie umgehen mit dieser Entwicklung?

Von Alfred Hirschman stammt aus dem Jahr 1970 das Konzept des Exit – Voice, also Abwanderung und Widerspruch, und ihrer Beziehung zur Loyalität, um den Niedergang von Institutionen zu erklären. Loyalität in einem System stabilisiert sich entweder durch Widerspruch, eine Möglichkeit, die gerade in Demokratien gegeben ist und gelegentlich Überraschungen an der Wahlurne erzeugt, oder Abwanderung – geographisch oder Rückzug in die innere Emigration. In autoritär-totalitären Systemen wie der DDR waren die Datscha oder das „Mittags um eins, macht jeder Seins“ bekannte Ausformungen. Dem erzwingenden Staat setzt dies Grenzen – vom „Großen Sprung“ in China über das kurzfristige Durchsetzen einer Klimaneutralität in Deutschland bis hin zu Minderheitenrechten für alle. Gerade letztere wirken für viele Bürger des Westens identitätsbedrohend. Und auch wenn sie auch möglicherweise nicht persönlich wirklich betroffen sind: Sobald etwas Irreales zu realen Handlungen führt, ist es Teil der Realität.

In den westlichen Demokratien sind diese Effekte sichtbar und führen gerade bei linksliberalen Regierungen zu Überraschungen. In diesen sehen sie eine Gefährdung der Demokratie, die eigentlich aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit eine der stabilsten Ordnungen sein kann. Im Sinne des Evolutorischen Institutionalismus gibt es dann zwei Möglichkeiten: Anpassung oder Untergang. Die dänischen Sozialdemokraten haben sehr erfolgreich eine Neuorientierung geleistet, in Deutschland fehlt diese: Die SPD als älteste Partei Deutschland kämpft ums Überleben als relevanter politischer Akteur. Plötzlich taucht als evolutorische Innovation Sarah Wagenknecht als Synthese aus linker und AfD-Programmatik auf und beunruhigt die CDU in den östlichen Bundesländern in einem Maße, dass sie bereits über Koalitionen mit der ehemaligen Chefin der Kommunistischen Plattform nachdenkt.

Auch Trump war – nolens-volens – eine solche Innovation, gerade auch an der eigenen Überraschung über den Wahlsieg im November 2016 sichtbar. Die durchaus, gerade gegenüber Europa, ehrenwerte Politik von Präsident Biden Bidens trug zugleich trumpistische Züge wie den Inflation Reduction Act (IRA) und die Zollpolitik. Präsident Biden scheitert inzwischen an der Überzeugung der Wähler, er werde mental und körperlich keine zweite Amtszeit durchstehen, und einer quasi Heiligsprechung von Trump nach überstandenem Attentat. Es ist mindestens unklug seitens der deutschen Politik und erheblichen Teilen der Öffentlichen Meinung, im harmlosen Fall über eine „drohende“ zweite Amtszeit von Trump zu klagen oder in radikaler Ausformung gar vom „Faschisten im Weißen Haus“ zu sprechen. Drei Argumente raten zur sprachlichen De-Eskalation:

Nüchtern betrachtet lag Trump in seiner ersten Amtszeit – jenseits einer dem Amt oft unangemessenen Rhetorik – nicht überall falsch. Friedrich Merz erwähnte erst kürzlich das Abraham-Abkommen oder die klare Positionierung gegen das Nuklearprogramm des Iran. Vier Aspekte einer „drohenden“ zweiten Amtszeit sollten nüchtern betrachtet werden:

Es gehört zu den nur auf den ersten Blick unerfreulichen Nachrichten, dass eine Präsidentschaft Trump, vermutlich aber ebenso die seiner demokratischen Herausforderin, in Europa führungs- und entscheidungserzwingend ist. Dass eine Regierung Angst davor hat, dem Wähler in die Augen zu sehen, ihm gerne die Realität, vor allem angesichts nahender Wahlen, vorenthalten will, ist verständlich, aber nicht zu vermeiden. Die letzten Kanzler, die in Deutschland unter Eingehen hoher politischer Risiken geführt haben, waren Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Deutschland ist seitdem entwöhnt, denn Führung geschieht von vorne, von hinten ist es ein Spazierengehen. Der Spaziergang der letzten 20 Jahre ist vorbei. Das Land muss unangenehme Entscheidungen treffen. Diese Folge der „Bedrohung Trump“ – und mit gewisser Sicherheit auch einer „Bedrohung“ durch einen demokratischen Präsidenten – sollte als Chance genutzt werden, auch wenn sie in manchen urbanen Milieus mit extremen Phantomschmerzen verbunden sein dürfte. Denn die globale Lage ist massiv prekärer geworden, erfordert Anpassung. Oder, wie Kia Vahland in der Süddeutschen Zeitung schreibt: „Während viele in Westeuropa hingebungsvoll einen Kulturkampf der Nichtigkeiten pflegen, tobt ein wirklicher um Geschichte, Gegenwart und Zukunft der ukrainischen Nation.“

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