Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
in Ihrer gestrigen Rede (21.05.2021) zum Jahrestag des Grundgesetzes sagten Sie:
„Ein Prinzip unserer Verfassung ist unumstößlich: Die Grundrechte sind in ihrem Kern von Freiheit und Gleichheit, sind in ihrem Kern nicht verhandelbar. Das heißt aber nicht, dass unser Grundgesetz etwas Statisches wäre. Es wurde manches verändert, weil sich unsere Gesellschaft verändert. Es wird sich auch weiter verändern. Vor zwei Jahren, zum siebzigsten Geburtstag unserer Verfassung, haben wir hier draußen im Park zweihundert Gäste aus ganz Deutschland eingeladen, und die Gäste haben mit der gesamten Staatsspitze über dieses Grundgesetz und das Zusammenleben unter diesem Grundgesetz diskutiert. Und ich kann Ihnen sagen: Es ging dabei sehr lebhaft, durchaus kontrovers zu. Und genau so muss es auch sein.“
Die Veränderbarkeit des Grundgesetzes ist formal natürlich nicht zu beanstanden, und dennoch basierte die freiheitlich-demokratische Grundordnung – verbunden mit Wohlstand, Frieden und Freiheit – der Bundesrepublik Deutschland viele Jahrzehnte lang darauf, dass das Grundgesetz auch jenseits der Grundrechte nur selten verändert wurde.
Schon in der jüngeren Vergangenheit kam es fast schon zu inflationären Grundgesetzänderungen, die man nicht nur mit der Schnelllebigkeit unserer Zeit erklären kann, denn gerade in Zeiten des Wandels, zumal in turbulenten und krisenhaften Zeiten, soll ja gerade eine Verfassung (hier: unser Grundgesetz) für eine stabile Grund- und Werteordnung sorgen, um Schäden zu verhindern, mindestens zu begrenzen.
Wenn Sie nun weitere Änderungen des Grundgesetzes fast schon nahelegen, Bezug nehmend auf „lebhafte“ und „kontroverse“ Diskussionen, so wirft das Fragen auf.
Es ist ja nicht so, dass geladene Gäste einer Veranstaltung Ihres Hauses spontan Vorschläge für Grundgesetzänderungen entwickeln würden, vielmehr deuten Ihre heutigen Äußerungen darauf hin, dass es im Bundespräsidialamt bzw. in seinem Umfeld bereits Vorstellungen dafür zu geben scheint, wie das Grundgesetz künftig geändert werden sollte.
Offenkundig wird Bedarf gesehen für weitere und möglicherweise sehr grundlegende Grundgesetzänderungen, sonst würden Sie wohl kaum solche Andeutungen machen!?
In der Vergangenheit haben Bundespräsidenten und andere führende Persönlichkeiten dieses Staates in erster Linie die Bedeutung des Grundgesetzes als Stabilitätsanker betont, als existenzielle Stütze unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zur Abwehr undemokratischer Tendenzen, gerade auch in turbulenten Zeiten.
Wenn Sie nun gerade in einer Zeit, in der erstmalig zahlreiche Grundrechte für jetzt schon extrem lange – und ungewisse weitere – Zeit weitreichend außer Kraft gesetzt wurden (mit der extrem befremdlichen Ankündigung, die alte Normalität käme nicht mehr zurück!!!) und in der viele um den Bestand unserer freiheitlichen Demokratie bangen, in der sich selbst ehemalige Verfassungsrichter und hochrangige Verfassungsrechtler mit Besorgnis zu Wort melden, ohne erkennbaren Anlass und ohne eine nachvollziehbare Begründung und Konkretisierung pauschal weitere Grundgesetzänderungen in den Raum stellen, so ist das sehr irritierend.
Gerade im Kontext der inzwischen alles beherrschenden „Klimapolitik“ sind grundlegende Veränderungen all dessen im Gespräch, was diese freiheitliche Republik in den vergangenen Jahrzehnten auszeichnete. Sprach man gestern noch – angeblich lapidar nur – über den Verzicht auf SUVs oder Shopping Trips nach New York, so geht es längst darum, existenzielle Grundbedürfnisse wie das Beheizen von Wohnungen, die zuverlässige Versorgung mit Strom, die Freiheit des Reisens und generell die Mobilität in Frage zu stellen.
Im Kontext dessen zeichnet sich in gewissen ideologischen Eliten zunehmend eine Bereitschaft ab, derart substanzielle Wohlstands- und Freiheitsverluste notfalls mit undemokratischen, insofern also mit totalitären Mitteln durchzusetzen.
Jetzt ist die Warnung vor einem möglichen „Klima-Lockdown“ schon in den politischen Talkshows angekommen und etliche politische Beobachter sprechen von einer möglichen „Öko-Diktatur“. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei nicht um Verschwörungstheorien handelt, da der öffentlich-rechtliche Rundfunk genau das ankündigt:
Am 24. Juni 2019 sagte Prof. Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, im Fernsehsender Phoenix, die Umsetzung der künftigen globalen Klimapolitik werde „nicht mehr demokratisch geschehen“. Die Phoenix-Programmgeschäftsführerin Michaela Kolster, die das Interview mit Prof. Merkel führte, hatte dazu keinerlei kritische Nachfragen, vielmehr nickte sie beständig zustimmend (Phoenix, Geteiltes Deutschland – Wie halten wir unsere Gesellschaft zusammen? Unter den Linden, 24.06.2019, 22.15 Uhr, ab Minute 19.28).
Solche Ankündigungen mit potenziell weitreichendsten Folgen für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung werden heutzutage in Andeutungen „häppchen-artig“ – und wie man unterstellen muss, sehr bewusst und zielgerichtet – in die mediale Berichterstattung eingestreut, ohne wie in den vergangenen Jahrzehnten über vieles öffentliche Debatten zu führen, bevor grundlegende Änderungen auch nur in Erwägung gezogen werden.
Zugespitzt könnte man als These formulieren: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kündigte 2019 eine unmittelbar bevorstehende „globale Klimadiktatur“ an.
Es ist nicht so, dass es dazu keinerlei warnende und mahnende Stimmen gegeben hätte. Gerade auch Sie, Herr Steinmeier, haben in einer Rede am 27. Oktober 2019 in Mannheim mit deutlichen Worten Ihre Sorge um den Fortbestand unserer Demokratie zum Ausdruck gebracht. Eindrücklich warnten Sie vor einer „Expertokratie“ und warben für eine maßvolle Umwelt- und Klimapolitik:
„Aber denen, die jetzt an der Demokratie Zweifel säen, will ich entgegenrufen: Welche andere Staatsform trägt in sich überhaupt eine solche Kraft zur Erneuerung? Kein Einzelkämpfer, kein Autokrat, kein selbsternannter „starker Mann“ wird diese Stärke der Demokratie je aufbringen können!
Und auch das: Kein Kabinett von Experten und Wissenschaftlern, auch kein Kabinett von Klimaforschern, könnte uns – bei allen unum-stößlichen Erkenntnissen – die Zielkonflikte, die schmerzhaften Abwägungen und Aushandlungen abnehmen, die jetzt anstehen.
Natürlich, wir brauchen eine ökologische Transformation, die den Erkenntnissen der Kli-mawissenschaft gerecht wird. Aber wie bei jedem tiefgreifenden Strukturwandel – denken Sie an die Kohleregionen – gibt es Menschen, die von diesem Wandel besonders stark betroffen sind. Menschen, die Sorge haben, ihre Arbeitsplätze zu verlieren. (…)
Gemeinsam muss es uns gelingen, dass aus Umwelt- und Klimaschutz keine polarisierende Identitätspolitik wird, keine Spaltung zwischen den Arbeitnehmern der Autoindustrie und den Blockierern von Straßen, zwischen Landwirten und Naturschützern, zwischen denen, die es sich leisten können, und denen, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen. (…)“
In der Gesamtschau erscheinen die Ankündigungen und Warnungen des Jahres 2019 (es gab viele weitere, bedeutsame Einlassungen) wie ein intensives Ringen, während sich nun im Jahr 2021 schon eine weit fortgeschrittene Entwicklung präsentiert.
Die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller, mahnte am 26. Januar 2021:
„Das Jahr 2021 wird über die Zukunft der Industrie in Deutschland und Europa entscheiden: Wir stehen an einem Wendepunkt, der die Richtung der folgenden Dekaden vorgibt.“
Große Teile der Bevölkerung und viele politische Beobachter haben kein gutes Gefühl, was die kommenden Monate und Jahre angeht. Vielen Politikern ist anzumerken, dass sie in den politischen Talk-Shows nicht mehr entspannt sagen können, wie sie die Situation wirklich einschätzen. Oftmals werden sie von den öffentlich-rechtlichen Medien regelrecht „vorgeführt“. Kaum setzen sie zu einem möglicherweise inhaltlich überzeugenden Argument an, werden sie hektisch unterbrochen. Von einer pluralen Besetzung der politischen Talk-Shows ganz zu schweigen.
„Haltungs-Journalisten“ steuern und manipulieren die politische Debatte in diesen Zeiten, in denen immer mehr Menschen den Eindruck haben, dass unsere Demokratie extrem gefährdet ist.
Es ist nicht völlig auszuschließen, dass inzwischen selbst ein Bundespräsident zunehmend weniger das sagen kann, was er denkt.
Umso mehr sei an Ihre Rede vom 27. Oktober 2019 in Mannheim erinnert. Man sollte die wesentlichen Passagen dieser Rede verbreiten und ernsthaft darüber diskutieren:
Trotz aller Propaganda ist davon auszugehen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in unserem Land auch künftig von Ihnen erwartet, dass Sie in erster Linie die freiheitlich-demokratische Grundordnung, dass sie Demokratie, Freiheit, Wohlstand und Frieden verteidigen, und dass weitere Grundgesetz-Änderungen gerade jetzt in Krisenzeiten in gar keiner Weise angezeigt sind.
Wir stehen tatsächlich an einem Wendepunkt, der möglicherweise die Richtung der folgenden Dekaden vorgibt. Gerade Sie als Bundespräsident stehen in der Verantwortung, mit geeigneten Worten mit dafür zu sorgen, Schaden abzuwenden.
Mit freundlichen Grüßen
Henrik Paulitz