Am 8. Juni hat das Vereinigte Königreich gewählt. Die politische Sensation ist eingetreten. Wenige Wochen zuvor hatte das Unterhaus auf Antrag der Premier-Ministerin, Theresa May, mit zwei Drittel der Stimmen beschlossen, den regulären Wahltermin im Jahre 2020 doch vorzuziehen, obwohl sie Neuwahlen davor immer ausgeschlossen hatte. Mit dieser Kehrtwende hatte Theresa May vor allem aber auch die Faustregel in den Wind geschlagen: „Geh’ nicht zu deinem Fürst, wenn Du nicht gerufen wirst“. In einer Demokratie geht die Staatsgewalt vom Volk aus. Man soll nicht ohne Not den Volkssouverän um seine Meinung fragen und sich dann wundern, wenn er anderer Meinung ist.
Wahlen sind außerparlamentarische Volksentscheide. Sie haben den Zweck die Personen auszuwählen, die als Volksvertreter den Regierungschef zu wählen und während der Legislaturperiode für das Volk die notwenigen Entscheidungen zu treffen. Auf eine Rückdelegation der politischen Verantwortung reagiert das Volk allergisch. Viele Wähler sehen darin ohnehin nur eine Gelegenheit, der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Die Schadenfreude ist um so größer, wenn es tatsächlich gelingt, Politiker stürzen zu sehen.
Wahlen werden nicht vom Wahlrecht, sondern von den Wählern entschieden. Das hat die vorgezogenen Unterhauswahl einmal mehr bestätigt. Der Wechsel ist auch unter einem Wahlrecht der klassischen Direktwahl möglich und kommt tatsächlich auch vor. Schlimmer noch ist auch die „Mehrheitswahl“ nicht vor einem „hung parliament“ gefeit, weil die Wahl nicht zu einer Entscheidung durch das Volk geführt hat und eine Koalition oder eine Minderheitenregierung gebildet werden muss.
Die Konservativen unter Premierministerin Theresa May galten als die turmhohen Favoriten der Wahl. Ihr Vorsprung schmolz jedoch im Wahlkampf dahin wie Schnee vor der Sonne. Die Tories erzielten nur mehr 318 Mandate der insgesamt 650 Sitze – zwölf weniger als 2015 – und büßten damit die absolute Mehrheit unter den Abgeordneten im „House of Parliament“ ein. Labour konnte nur in 261 Wahlkreisen den Sieg erringen, gewann aber 29 Mandate hinzu. Die Liberalen waren in 12 Wahlkreisen siegreich und gewannen ebenfalls 4 Sitze. Die Schottische National Partei (SNP) büßte mit 35 erzielten Mandaten 21 Sitze gegenüber 2015 ein. Die nordirische „Demokratic Unionist Party“ (DUP) konnte sich in 10 Wahlkreisen behaupten und sich gegenüber 2015 um zwei Mandate verbessern. Die verbleibenden 13 Sitzen entfielen auf die sonstigen Parteien, die zwar 2 Mandate verloren, jedoch im Parlament vertreten sind, weil es in der Direktwahl keine Sperrklausel gibt. Die besonders EU-kritische UKIP hatte schon in der Unterhauswahl von 2015 nur einen einzigen Sitz errungen. Diesmal flog sie ganz aus dem Parlament. Parteichef Paul Muttall trat daraufhin zurück.
Wie man sieht, ist die klassische Direktwahl kein Zwei-Parteien-System. Die Liberalen haben Einbußen erlitten, blieben aber trotz „Mehrheitswahl“ die vierte Kraft Großbritanniens. Sie können also sehr wohl Wahlkreise gewinnen und hatten 2010 als drittstärkste Partei eine Koalitionsregierung gebildet. Seit 1974 hat es davor keine mehr gegeben. Koalitionen sind im Vereinigten Königreich sehr selten. Große Koalitionen wären zwar möglich, kommen praktisch aber nicht vor. Zur Überraschung aller will Theresa May eine Minderheitenregierung bilden, die von DUP geduldet wird. Zusammen haben die Abgeordneten beider Parteien eine Mehrheit im Unterhaus von einem Sitz.
Historisch gesehen bleibt das „House of Commons“ die Mutter der Demokratie. Das Parlament in Westminster fußt auf der klassischen Direktwahl. Ein allgemein verständliches Verfahren, das sich rasch auszählen lässt und deshalb auch besonders fälschungssicher ist. Das Wahlgebiet ist in genau so viele Wahlkreise eingeteilt wie es im Unterhaus Sitze gibt. Die Abstimmung ist eine Personenauswahl-Entscheidung. Sie zielt nicht auf eine Partei, sondern unmittelbar auf die Person der zur Auswahl stehenden Wahlkreis-Bewerber. Gewählt ist wer im Wahlkreis die meisten Stimmen erreicht. Die einfache Mehrheit genügt. Die absolute Mehrheit ist nicht erforderlich, kommt aber vor. Es gibt aber auch keine mathematisch hochkomplizierten Umrechnungen von Stimmen in Mandate der Parteien etwa nach d’Hondt, Hare/Niemeyer, Sainte-Lague/Schepers, Puckelsheim I, II oder III. Eine Sperrklausel ist der Personenwahl fremd.
1. Es gilt das Prinzip: „one man one vote“
Das britische Wahlrecht folgt dem klassischen Prinzip: „one man one vote“. In Deutschland ist das ganz anders. Hier wird nach den Grundsatz: „one man two votes“ abgestimmt. Man wird allerdings keinen Briten finden, dem man klar machen kann, dass man zwei Stimmen braucht: eine für den Kandidaten der Konservativen und noch eine für den Bewerber von Labour oder einer kleineren Partei? Das Panaschieren ist die Sache der Briten nicht. Aber auch in Deutschland gibt es ernst zu nehmende Zweifel daran. So hat kein Geringerer als der ehemalige Bundesverfassungs-Richter Ernst Gottfried Mahrenholz unter dem Titel: „Bigamie im Wahlrecht?“ in der Festschrift für seinen Richterkollegen Winfried Hassemer (2010, S 111 ff.) Bedenken gegenüber der Doppelwahl nach dem sogenannten Grabensystem vorgetragen, das vom BVerfG niemals auf Herz und Nieren geprüft worden sei.
Würde man den Bundestag nur mehr mit der Erststimme wählen, wäre der ganze Spuk des dualen Wahlsystems mit zwei Stimmen auf einen Schlag verschwunden.
Das setzt allerdings voraus, dass die Zahl der 299 Wahlkreise durch Halbierung verdoppelt und so auf die gesetzliche Zahl von 598 Plätze im Bundestag angehoben wird. Denn niemand kann 598 Plätze im Berliner Parlament mit unmittelbar gewählten Personen besetzen, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt.
Wer dagegen mit zwei Stimmen wählt, holt sich den Teufel ins Haus: die leidigen Überhänge, „negative“ Stimmengewichte, gespaltene Abstimmung (Stimmensplitting), Ausgleichsmandate, Doppelkandidaturen im Wahlkreis und auf der Liste, Zweitstimmen-Abzug und Ergänzungsmandate, Listennachfolge für Direktmandate, Erschöpfung der Landeslisten, leer stehende Wahlkreise und anderes mehr. Das alles gibt es nicht, wenn man wie die pragmatischen Briten nur mit einer Stimme wählt. Doch die Deutschen sind ein Volk der Dichter und Denker. Sie sehen nicht ein, etwas zu vereinfachen, wenn man es auch kompliziert machen kann.
2. Die Direktwahl der Parlamentarier
Die klassische Direktwahl der Mitglieder im „House of Commons“ kann in Großbritannien seit 1429 in den Urkunden nachgewiesen werden. Zwar hat es in seiner langen Geschichte zahlreiche Änderungen erfahren, das Verfahren ist aber immer eine Personenwahl in überschaubaren Wahlkreisen geblieben. Gegen die Verwässerung ihres Wahlsystems, haben die Bürger des „United Kingdom“ (UK) in einer Volksabstimmung vom 6. Mai 2011 mit großer Mehrheit basisdemokratisch zur Wehr gesetzt. Ganz anders als die „continentals“ sehen die Briten das althergebrachte Verfahren zur personellen Besetzung ihres Parlaments mehrheitlich als fair und gerecht an. Sie stören sich auch nicht daran, dass die Konservativen Stimmen hinzugewonnen, aber Wahlkreise verloren haben.
In Deutschland gilt im Bund und in 13 Ländern die „personalisierte“ Verhältniswahl, bei der „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ abgestimmt wird. Beide Stimmen, die Erststimme für den örtlichen Wahlkreis-Bewerber (Wahlkreis-Stimme) und die Zweitstimme für dessen Partei (Landesstimme) sind also im Verbund abzugeben. Das tun die meisten Wähler auch, doch ein von Wahl zu Wahl schwankender Teil der Wähler tut das nicht. Sie wählen mit der Zweitstimme eine bestimmte Partei, vergeben die Erststimme aber an einen Kandidaten einer anderen, einer Konkurrenzpartei (Stimmensplitting).
Hinzu kommt, dass die Zahl der Sitze im Parlament nicht mit der Zahl der Wahlkreise übereinstimmt. Im Bundestag gibt es regulär 598 Sitze, aber nur 299 Wahlkreise (Grabensystem). Selbst wenn alle Wähler treu beide Stimmen im Verbund abgäben – was die Splittingwähler ja nicht tun – könnten sie damit auf keinen Fall erreichen, dass alle Abgeordneten mit beiden Stimmen gewählt werden. Neben 299 direkt gewählten Abgeordneten gibt es also mindestens 299 von ihnen, die nicht direkt gewählt wurden, sondern allein über eine Landesliste in das Parlament eingezogen sind. Die Abgeordneten gelangen also über zwei grundverschiedene Wege in das Berliner Parlament. Die einen werden mit beiden Stimmen gewählt, die anderen nur mit einer. Und werden beide Stimmen getrennt vergeben, haben sie sogar einen doppelten Erfolgswert. Denn es ist ein großer Unterschied, man einen Abgeordneten mit beiden Stimmen oder zwei Abgeordnete jeweils mit einer Stimmen auswählt.
Erschwerend kommt hinzu, dass 299 Abgeordnete zweimal kandidieren können: im örtlichen Wahlkreis und auf der Landesliste ihrer Partei. Verlieren sie in ihrem Wahlkreis, können sie über einen sicheren Listenplatz trotzdem in das Parlament einziehen. Der prominenteste Wahlkreis-Verlierer, der über einen sicheren Listenplatz gleichwohl in den Bundestag einzog, war der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück. Er verlor seinen Wahlkreis Nr. 104 (Mettmann I), zog aber über die SPD-Landesliste in NRW trotzdem in den Bundestag ein. In Großbritannien könnte sich niemand im Parlament zum Premier wählen lassen, der nicht zuvor in seinem Wahlkreis gewonnen hat. Peer Steinbrück hatte also zwei Wahlchancen. Die meisten Abgeordneten haben aber nur eine. – Und so geht es natürlich nicht.
Diejenigen Abgeordneten, die über die Landeslisten in den Bundestag einziehen, sind aber nicht selbst und unmittelbar gewählt worden, wie es das Grundgesetz in Art. 38 verlangt, sondern mittelbar über die Listen der Parteien in das hohe Haus gelangt. Denn mit der Zweitstimme wird auf den Stimmzetteln ja keine Person, sondern eine Partei gekennzeichnet. Damit stehen gleich zwei Problem im Raum: Das deutsche Wahlrecht entspricht nicht den Grundsätzen einer Wahl unter gleichen Bedingungen und auch nicht der unmittelbaren Abstimmung über die Person der Volksvertreter, was beides in Art. 38 GG verbürgt ist.
3. Das Quorum der einfachen Mehrheit
Warum auch immer wird das englische System auf dem europäischen Kontinent abfällig als „relative Mehrheitswahl“ bezeichnet. Ein triftiger Grund dafür ist nicht zu erkennen. Der örtlichen Wahlkreis- Bewerber mit dem besten Wahlergebnis zieht in das Unterhaus ein. Wurde er mit absoluter Mehrheit gewählt, erhält er dafür keinen Bonus. Das demokratische Grundprinzip: „Mehrheit entscheidet“ bleibt als unangetastet. Trotzdem hat sich in Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Gegenmodell der „Verhältniswahl“ eingebürgert. Dabei werden auf den Stimmzetteln nicht die in den Wahlkreisen kandidierenden Personen angekreuzt – wie es das Grundgesetz verlangt – , sondern die in den 16 Bundesländern gegeneinander kandidierenden Parteien gekennzeichnet. Diese ziehen dann im Verhältnis der von ihnen erlangen Zweitstimmen, also mit den Stimmen, die den Parteien in den Wahlgebieten der 16 Bundesländer gelten, in den Bundestag ein (Föderatives Wahlsystem).
Die Kritiker der klassischen Direktwahl stoßen sich vor allem am Quorum der einfachen Mehrheit. Sie akzeptieren nicht, wenn es passiert, dass der Gewählte mehr Stimmen gegen sich hat, als er für sich gewinnen konnte. Sie verkennen dabei, dass es bei einer Wahl gar keine Gegenstimmen gibt. Wer gegen einen bestimmten Kandidaten abzustimmen versucht, macht den Stimmzettel ungültig. Das Quorum der einfachen Mehrheit hat jedoch den herausragenden Vorteil, dass man regelmäßig nur einen Urnengang braucht, um eine Entscheidung durch die Wähler herbeizuführen, was die Unterhauswahl vom 8. Juni 2017 ja erneut gezeigt hat.
Bei einem Quorum von mehr als der Hälfte der Stimmen (absolute Mehrheit) ist die Stichwahl der Normalfall. Diesem Modell, der Personenwahl mit absoluter Mehrheit folgen die Franzosen. Bei einer Zwei-Drittel-Mehrheit mit qualifizierter Mehrheit, die bei der Papstwahl angewendet wird, ist man schon erstaunt, wenn nach fünf Wahlgängen „weißer Rauch“ aufsteigt, also die Entscheidung gefallen ist. Bei einer Volkswahl wäre das Quorum der qualifizierten Mehrheit und mit fünf Wahlgängen oder mehr absolut untauglich. Daher ist der Wahlgesetzgeber gut beraten, das Quorum nicht zu hoch anzusetzen und damit zu riskieren, dass der Urnengang ergebnislos ausgeht.
Natürlich muss man einräumen, dass man mit der einfachen Mehrheit der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate erlangen kann und deshalb die Regierung zwar die absolute Mehrheit der Mandate, aber nicht der Stimmen hinter sich hat. (Accidental bias) Tatsächlich ist das ein Wesensmerkmal des „Westminster-Modells“. Die Briten stört es aber nicht, dass die Regierung mit einfacher Mehrheit der Stimmen gebildet werden kann, solange sie mit einfacher Mehrheit abgelöst werden könnte. Der politische Wechsel ist mit einfacher Mehrheit sogar leichter zu erreichen als mit absoluter und kommt tatsächlich ja auch vor. Es herrscht also volle Waffengleichheit zwischen Regierung und Opposition. Das ausschlaggebende Argument wird jedoch sein: Bei einer Direktwahl mit einfacher Mehrheit gibt es keine undemokratische Sperrklausel.
5. Keine Sperrklausel
Die „Verhältniswahl“ heißt nur so. Bei Landtags- und Bundestagswahl ist der Anteil an den Mandaten regelmäßig größer als der Anteil an den Zweitstimmen. So erreichte die CDU im Bund 2013 mit 34,1 % der Zweitstimmen 40,4 % der Mandate.
Die CSU erzielte mit 7,1 % für ihre Liste 8,9 % der Sitze im Parlament. Die SPD freute sich natürlich, mit 25,7 % der Zweitstimmen 31,0 % der Sitze zu erlangen. Bei den Linken stand ein Stimmenanteil von 8,6 % einem Mandatsanteil von 10,1 % gegenüber. Und auch den Grünen sind mit 8,4 % der Stimmen 10,0 % der Mandate in den Schoß gefallen. Die Ursache dafür ist der sogenannte Sperrklausel-Zugewinn.
Den berühmten „accidental bias“ gibt es nicht nur in der klassischen Direktwahl mit einfacher Mehrheit, sondern auch in der Verhältniswahl mit Sperrklausel. Mit der Fünf-Prozent-Hürde hat die Verhältniswahl ihre Unschuld verloren. Wegen der Sperrklausel-Zugewinne ziehen die Parteien eben gerade nicht im Verhältnis ihrer Zweitstimmen in den Bundestag ein. Sieht man davon ab, dass die Personenwahl ein Gebot der Verfassung ist, kommt hinzu, dass die indirekte Wahl der Abgeordneten über die Listen der Parteien also keineswegs gerechter ist als die klassische Direktwahl der Abgeordneten mit einfacher Mehrheit. Denn in beiden Fällen ist der Anteil an den Stimmen mit dem Anteil an den Mandaten nicht identisch.
Man kann also festhalten: Die Sperrklausel gibt es nur bei der Parteienwahl. Sie ist ein nachträglicher Eingriff in das Wahlergebnis. Und das ist die Personenwahl mit einfacher Mehrheit nicht. Wer seinen Wahlkreis mit einfacher Mehrheit gewonnen hat, zieht also auch dann in das Parlament ein, wenn seine Partei weit weniger als fünf Prozent aller Stimmen erreicht. Die Direktwahl mit einfacher Mehrheit bietet also einen überzeugenden Minderheitenschutz, verhindert aber weitgehend, dass Minderheiten als Koalitionspartner die Rolle einer undemokratischen Sperrminorität erlangen, durch die der Grundsatz: „Mehrheit entscheidet“ geradezu auf dem Kopf gestellt wird.
6. Das deutsche Wahlrecht muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden
Im Bund und in 13 Bundesländern gilt das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme: personalisierte Verhältniswahl. Als 1949 das Grundgesetz aus der Taufe gehoben wurde, wollte niemand von der Urhebern der Verfassung zur Verhältniswahl zurückkehren, die in Art 22 der Weimarer Reichsverfassung verankert war. Den Mitgliedern des parlamentarischen Rates steckte das Trauma noch in den Knochen, dass es zwischen Februar 1919 und März 1930 insgesamt 16 Regierungen gab, die im Durchschnitt nur acht Monate im Amt waren. Viel zu frisch war außerdem die Erinnerung, dass die Nazidiktatur, die den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, unter der Geltung der Weimarer Verhältniswahl regulär an die Macht gekommen war. Trotzdem konnte man sich nicht auf die klassische Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen verständigen. Und die Siegermächte mit Großbritannien in ihrer Mitte verlangten das auch nicht.
In dieser Situation verständigte man sich auf den Kompromiss, die Verfassungsgarantie der Verhältniswahl fallen zu lassen und die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts dem einfachen Gesetzgeber zu überlassen. Der Wechsel zur Direktwahl der Abgeordneten blieb damit – ohne verfassungsändernde Mehrheit – in Reichweite, falls man sich im Parlament darauf verständigen sollte, und damit gab man sich bis auf Weiteres zufrieden. Es gibt also keine Verfassungsgarantie für die Verhältniswahl. Der Wechsel zur Direktwahl ist jederzeit möglich, wenn das Parlament ihn beschießt.
Grundsätzlich ist eine Wahl keine Sachentscheidung, sondern eine „Personenauswahl-Entscheidung“. (Vgl. Strelen/Schreiber, BWahlG 9. Aufl. 2013, Rdnr 4.) Und das wird durch den Wortlaut von Art 38 GG grundrechtlich „verbürgt“ (Vgl. Hahen/Schreiber, aaO, § 48, Rdnr 13.) Denn dort heißt es keineswegs: „Die Parteien werden in (…) unmittelbarer (…) Wahl gewählt.“ Der Wortlaut ist ein anderer. In Art. 38 GG heißt es vielmehr: „Die Abgeordneten werden in (…) unmittelbarer (…) Wahl gewählt.“ Die Personenwahl steht also dem Grundgesetz viel näher als die Parteienwahl. Und das hat eine sehr einfache Konsequenz: Wie auch immer das Wahlrecht konkret ausgestaltet ist, muss auf dem Stimmzettel von den Wählern immer eine Person gekennzeichnet werden. Dem verlangt auch das Verfassungsgericht in Karlsruhe. In der „Nachrücker-Entscheidung“ v. 26.2. 1998, BVerfGE 97, 317 (323) hält das Gericht fest: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Und diese Position hat das Gericht schon in seiner „4 : 4 Grundsatz-Entscheidung“ v 10.4.1997 eingenommen. 95, 349 (355).
Die Doppelwahl im Bund und in 13 von 16 Bundesländern geht also in Ordnung insoweit dort „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ gewählt wird. Und das ist bei 299 Abgeordneten der Fall, die mit der Erststimme in überschaubaren Wahlkreisen gewählt werden. Diese Zwillingswahl geht nicht in Ordnung, insoweit die bloße Parteienwahl zu Anwendung kommt. Und das ist bei mindestens 299 Abgeordneten der Fall, die nicht unmittelbar, sondern mittelbar über die Listen der Parteien in den Bundestag gelangen. Denn hier wird auf dem Stimmzettel nicht mit der Erststimme, also der Wahlkreisstimme eine Person, sondern allein mit der Zweitstimme, also der Landesstimme, eine Partei gekennzeichnet. Und das schließt die Verfassung aus.
Das deutsche Wahlrecht muss also insoweit vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Die Zahl der Wahlkreise und der Sitze im Parlament muss übereinstimmen, und alle Abgeordneten müssen durch die Bank mit beiden Stimmen gewählt werden. Wenn alle Volksvertreter immer auch mit der Erststimme namentlich gewählt werden müssen, fragt man sich natürlich, wozu man die Zweitstimme überhaupt braucht.
Zwei Stimmen sind zwei Wahlen und eine davon, „die bloße Parteienwahl“, kann man sich dann sparen.