Tichys Einblick
Wie im Deutschen Bundestag getrickst wird beschreibt Klaus-Peter Willsch

Griechenland-Hilfe: Tagebuch einer unmöglichen Rettung

Hochsommer. Der parlamentarische Betrieb ruht im Deutschen Bundestag. Nur noch eine Kantine hat geöffnet. Viele Eingänge sind geschlossen. Man braucht weite Wege, um zum Ziel zu kommen. Alle zehn Meter kommt eine Absperrung für Reparaturarbeiten. Viele Abgeordnete halten ihre Büros in Berlin geschlossen und lassen sich die wenige Post in den Wahlkreis nachsenden. Auch Interessenverbände und Lobbyisten hören für einige Wochen mit der Dauerbespielung der Bundestagsabgeordneten auf.

Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und ihren Mitarbeitern sollten sogar noch ruhigere Tage bevorstehen. In einer E-Mail vom 30. Juli kündigte Bundestagspräsident Norbert Lammert seinen Abgeordnetenkollegen an, dass aufgrund der Cyberattacke auf den Bundestag im Frühjahr das gesamte IT-System zwecks Neuaufsetzung für vier bis fünf Tage abgeschaltet werden müsste. Am 13. August ab 17 Uhr sollte es soweit sein. Ohne Internet und Intranet läuft im Bundestag gar nichts mehr. Die Zeiten von mit Drucksachen überhäuften Postfächern sind lange vorbei.

Zwangsurlaub?

Viele freuten sich über den Zwangsurlaub. Endlich konnte man mal abschalten, ohne die Gewissheit zu haben, dass jeder arbeitsfreie Tag ein nicht bearbeitetes E-Mail-Aufkommen im dreistelligen Bereich bedeuten könnte. Aber aus der fast schon nicht mehr gekannten Entschleunigung aus analogen Tagen wurde nichts. Das deutete sich jedoch erst peu à peu an.

Noch am 5. August werden wir Abgeordnete von der Verwaltung über die konkreten Auswirkungen der Abschaltung des Bundestagsnetzwerkes informiert. Besuchergruppen können an diesen Tagen nicht mehr über das entsprechende Portal angemeldet werden; spontane Kuppelbesuche nicht mehr möglich sein. Obwohl die Bundestagsverwaltung voll auf den Abschalttermin fokussiert ist, kommt in den folgenden Tagen eine latente Unruhe auf, die noch von Volker Kauders Kommentar, Euro-Abweichler als Strafmaßnahme in andere Ausschüsse zu versetzen, verstärkt wird.

Griechenland-Hilfe im Informations-Loch

So erkundigt sich zum Beispiel am 12. August der Mitarbeiter eines Abgeordneten in meinem Büro nach dessen Einschätzung, wann denn die Griechenland-3-Abstimmung anstehen könnte. Der Chef mache in den Alpen mit den Kindern eine Hüttenwanderung und befürchte, dass er den Kurzurlaub abbrechen müsse, obwohl er ihn gerade auf die internetfreie Zeit gelegt hätte. Da über die offiziellen Kanäle nichts zu erfahren sei, solle sich der Mitarbeiter einmal bei mir erkundigen, da ich ja ein gutes Näschen in Sachen Euro-Rettung hätte. Der Kollege ist nicht alleine. Ein anderer ist ohne iPad auf Wanderschaft.

„Vertraulich“ – was Wähler nicht wissen sollen

Just am gleichen Tag, um 12:38 Uhr erhalte ich die Haushaltsausschuss-Drucksache 18/2194. Ich darf zwar aus gewissen Gründen kein Mitglied des Haushaltsausschusses mehr sein, kämpfte aber erfolgreich dafür, wenigstens auf dem Dokumentenverteiler zu bleiben. Das ist an Tagen wie diesen Gold wert. Die Drucksache – weder mit einer Erklärung in der E-Mail noch mit einem plausiblen Dateinamen versehen – besteht aus einem 34-seitigen englischsprachigen Dokument, das den Titel „Memorandum of Understanding for a three-year ESM programme“ trägt. Auf jedem Seitenkopf ist rot vermerkt „VS – Nur für den Dienstgebrauch / Die Bundesregierung macht sich den Inhalt nicht zu eigen.“ Die ersten 30 Seiten beinhalten die Vereinbarung zwischen der Troika und der griechischen Regierung über ein neues 86 Milliarden Euro schweres Hilfspaket. Seitenweise sind dort Maßnahmen aufgelistet, wie Griechenland seine Probleme in den Griff bekommen soll und will.

Wer sich bis zum Ende des Dokumentes durchgearbeitet hat, wird belohnt. Die folgenden vier Seiten sind zwei mit dem MoU zu einem PDF zusammengefügte Anlagen, die beide nochmals mit einem dicken Querbalken als „CONFIDENTIAL“ gekennzeichnet sind. Bei den Anlagen handelt es sich um zwei Zeitpläne für den bevorstehenden Bailout. Für den Zeitraum zwischen dem 14. und 18. August sind dort „National procedures on the MoU, the MD proposal for FFA, the draft FFA, and on first disbursement”, also die Beschlussfassung in den nationalen Parlamenten für das neue Programm sowie die Auszahlung der ersten Tranche, vorgesehen! Am Ende des Ablaufplans steht der 20. August. An diesem Tag werden bei der EZB griechische Staatsanleihen in Höhe von 3,188 Milliarden Euro fällig. Um diesen Termin auf keinen Fall zu reißen, fahren die Euro-Retter zweigleisig. Die zweite Anlage beinhaltete den Ablaufplan für eine erneute Brückenfinanzierung über den EU-Topf EFSM.

Mein Mitarbeiter fragt daraufhin im Büro des Bundestagspräsidenten nach, wann denn die Einberufung der Sondersitzung des Deutschen Bundestags erfolgen und die Verschiebung der Internet-Abschaltung verlautbart würde. Das Präsidialbüro gibt sich bedeckt, verkündet dann doch aber wenige Stunden später: „Um Vorbereitungen für mögliche Sitzungen in der kommenden Woche nicht zu beeinträchtigen, werden die vorgesehenen Arbeiten zunächst verschoben.“ Von einer Sondersitzung ist keine Rede.

Keine Schuldentragfähigkeit

Am Dienstagnachmittag berichtet BILD Online unter der Überschrift „Bundesregierung lehnt Griechen-Rettungsprogramm ab“ über ein Papier aus dem Finanzministerium. In dem Dokument soll das BMF einige kritische Punkte zum ausgehandelten MoU aufgezeichnet haben. Wenn die BILD den Inhalt des BMF-Papiers richtig wiedergibt, kann der Bundestag dem dritten Griechenland-Hilfspaket unmöglich zustimmen. So besteht laut BMF keine Schuldentragfähigkeit, die Rolle des IWF ist offen, hinter den von griechischer Seite versprochenen Privatisierungen sieht das BMF ein großes Fragezeichen. Auch wird bemängelt, dass Griechenland zwar sofort auf eine milliardenschwere erste Tranche schielt, die vereinbarten Maßnahmen aber nicht vor Oktober bzw. November umsetzen will.

Mein Mitarbeiter bittet das Büro des neuen und für die „Euro-Rettung“ zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär Jens Spahn telefonisch um die Übermittlung des Dokuments. Das BMF ist dazu gemäß Art. 7 Abs. 2 ESMFinG verpflichtet. Im Gesetz heißt es: „Die Bundesregierung übermittelt dem Deutschen Bundestag alle ihr zur Verfügung stehenden Dokumente zur Ausübung der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages.“

Das Büro des Staatssekretärs versichert meinem Mitarbeiter, dass es das Dokument „in dieser Form“ nicht gebe. Es gebe nichts zum Übermitteln. Unter der Hotline des bundestagsinternen Europa-Informationssystem EuDoX ist leider am späten Nachmittag niemand mehr zu erreichen. EuDox wurde einst geschaffen, um die Flut von EU-Dokumenten zu kanalisieren. Ich habe dort mehrere Newsletter zu den Themen „ESM“, „Haushalt“, „Griechenland“ usw. eingerichtet. Wer keinen Newsletter eingerichtet hat, muss theoretisch gezielt in der Datenbank nach Dokumenten suchen. Der komplizierte Umgang mit EuDoX stellt Abgeordnete und ihre Mitarbeiter immer wieder vor Probleme, sodass die Verwaltung sogar Schulungen dazu anbietet.

Das Nicht-Dokument taucht elektronisch doch auf

In der Nacht zum Donnerstag um 1:07 Uhr wird auf EuDoX erst das MoU mit den beiden Zeitplänen eingestellt. Obwohl die Zeitpläne – theoretisch – nun allen Abgeordneten zugänglich sind und die Internet-Abschaltung verschoben ist, verkündet die südhessische Presse am Morgen des 13. August: „5 Tage lang ist das Bundestagsbüro von Dr. Michael Meister offline“. Michael Meister ist Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen.

BILD Online berichtet indessen wieder über das besagte Papier aus dem BMF und einen daraus resultierenden Streit mit dem Wirtschaftsministerium. Das BMWi bewerte die Vereinbarung im Gegensatz zum BMF positiv. Die BILD schreibt: „Das Finanzministerium erklärte unterdessen: ,Wir haben Fragen formuliert. Diese sind Teil des Prüfprozesses, der noch nicht abgeschlossen ist.´“

Die Auskunft aus dem Büro des Finanzstaatssekretärs an meinen Mitarbeiter war also nachweislich falsch. Alle Anrufe im Bundestagsreferat „PE 5 Europa-Dokumentation“ laufen aufgrund einer dortigen Besprechung ins Leere. Erst ab 11:30 Uhr geht jemand ans Telefon. Mein Mitarbeiter bittet das Europareferat darum, die Herausgabe des BMF-Papiers zu erzwingen. Das Europareferat verwechselt das Papier zunächst mit dem bereits in der Nacht übersandten MoU, stellt dann aber die gewünschte Anfrage beim BMF.

Im Verlauf des 13. Augusts verdichten sich indes die Signale, dass eine Sondersitzung Anfang der Folgewoche bevorsteht. Die Geschäftsführung der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, ein Abgeordnetenclub, verkündet in einer Rundmail vom 17. bis 19. August, geöffnet zu haben. Um 15:31 Uhr teilt uns der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer mit einem „Balkenschreiben“ mit, dass „nach derzeitigem Sachstand für Dienstag […] oder Mittwoch […] eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages möglich“ ist. Jeweils am Vortrag um 19 Uhr würde entsprechend eine Fraktionssitzung stattfinden. Offiziell ist noch nichts. Alle Planungen stehen unter Vorbehalt. Flüge müssen trotzdem gebucht werden.

Das Spiel, ob der IWF doch noch mitspielt?

Um 15:38 Uhr erhalte ich über den Verteiler des Haushaltsausschusses weitere Informationen zu Griechenland 3. Man hofft, dass der IWF die noch ausstehenden 16 Milliarden Euro aus dem zweiten Hilfsprogramm in ein neues Drei-Jahres-Programm umwandelt. Ich vermute, auf diese Weise soll den Abgeordneten vorgegaukelt werden, der IWF sei weiterhin mit frischen Milliarden an Bord. Der IWF könnte den Bruch seiner Statuten damit kaschieren, dass es sich bei den 16 Milliarden um bereits einmal bewilligtes Geld handelt. Niederschmetternd ist vor allem die beigefügte Schuldentragfähigkeitsanalyse mit drei Szenarien. Selbst beim besten würde Athen 2016 auf eine Schuldenstandsquote von 198,9 Prozent zusteuern. Im Jahr 2020 würde sich der griechische Schuldenberg bei erfolgreichem Programmvollzug auf 166,1 Prozent belaufen. Als es im Februar 2012 um Griechenland 2 ging, wurde die Marke von 120 Prozent ausgegeben. Würde der errechnete Schuldenstand darüber liegen, könne kein Programm beschlossen werden, argumentierten damals die Euro-Retter.

Um 18:05 Uhr erhalte ich endlich das BMF-Papier mit der Bewertung der Vereinbarung zwischen der Troika und Athen. Im Übermittlungsschreiben an die Bundestagsverwaltung schreibt das BMF beschwichtigend: „Das Papier formuliert insbesondere Fragen, die Teil des andauernden Prüfprozesses des MoU-Entwurfes sind und diente der mündlichen Erörterung offener Punkte, die in der Eurogruppe zu besprechen sein werden. Ergänzend hierzu ist festzuhalten, dass die Pressemeldung, die Bundesregierung lehnt das Griechen-Rettungsprogramm ab´ nicht zutrifft.“

Hilfe ohne jede Basis

In dem Papier listet das BMF neun problematische Punkte auf, u.a. sei der Finanzbedarf höher als erwartet. Für ein drittes Griechenland-Hilfspaket fehlt jegliche Voraussetzung. Anscheinend hat das mittlerweile auch das BMF begriffen.

Am Freitagmorgen schreibe ich dem Staatssekretär eine geharnischte E-Mail: Ich erwarte nicht, dass das BMF mir um den Hals fällt, aber doch, dass sich das Ministerium an die gegebenen Gesetze hält. Dadurch, dass ich die Herausgabe des Dokumentes über die Bundestagsverwaltung erzwingen musste, wurde die Einsicht um einen ganzen Tag verzögert. Vielleicht war dies auch das Ziel. Eine Antwort auf meine E-Mail erhalte ich nicht. Auch nicht vom Fraktionsgeschäftsführer Kauder, den ich „cc“ gesetzt hatte. (Am Montagabend ruft mich der Staatssekretär schließlich an und bittet um Entschuldigung, seine Mitarbeiter hätten das Papier nicht gekannt und insofern nicht mit Absicht fehlinformiert.)

Am Samstagmorgen kommt endlich die Einladung für die Sondersitzung. Sie soll am Mittwoch um neun Uhr stattfinden. Für den Vortag werden die üblichen Gremiensitzungen angekündigt. Da werden dann üblicherweise die „Abweichler“ bearbeitet und Probeabstimmungen durchgeführt. Am Montagmorgen erhalten wir die Dokumente zur Abstimmung. Insgesamt sind es 207 Seiten. Einige davon sind wieder als vertraulich gekennzeichnet. Der IWF ist nicht mit im Boot. IWF-Chefin Lagarde begrüßt zwar in einem Schreiben den fortgesetzten Bailout, mahnt aber zugleich:

„Jedoch bin ich weiterhin der festen Überzeugung, dass die Verschuldung Griechenlands untragbar geworden ist und dass Griechenland seine Schuldentragfähigkeit nicht allein durch eigene Maßnahmen wiederherstellen kann. Deshalb ist es für die mittel- und langfristige Schuldentragfähigkeit genauso entscheidend, dass die europäischen Partner Griechenlands im Zusammenhang mit der ersten Überprüfung des ESM-Programms konkrete Verpflichtungen eingehen, um eine erhebliche Schuldenerleichterung zu gewähren, die weit über das bisher in Betracht gezogene Maß hinausgeht.“

Der IWF spielt doch nicht mit

Der IWF drängt auf einen Schuldenschnitt. Gleichzeitig betreiben die Euro-Retter weiter Konkursverschleppung. Die Mahnungen sind bereits aus dem BMF-Papier bekannt, das immer noch nicht allen Abgeordneten zugänglich gemacht wurde. Trotzdem legt Schäuble morgens der Öffentlichkeit dar, dass den Bedenken nun Rechnung getragen sei. Dabei hat die FAZ noch am Wochenende enthüllt, dass Athen mit allerlei Tricks die vereinbarten Privatisierungen hintertreibt. Der Privatisierungsfonds soll nicht in Luxemburg, sondern in Griechenland angesiedelt werden. Das Spitzenpersonal wird aus Syriza-Leuten rekrutiert. Der Klientelismus feiert wieder einmal fröhliche Urstände.

Der Druck im Kessel steigt. Einige Kollegen rufen in meinem Büro an und offenbaren, das erste Mal mit „Nein“ stimmen zu wollen. Ob ich eine Empfehlung geben könnte, wie man den Druck der Fraktionsführung am besten pariert und wie man sein abweichendes Abstimmungsverhalten anzeigen muss. Es geht schon lange nicht mehr um Argumente. In den nächsten Tagen werden nur noch Ja- und Nein-Stimmen gezählt. Worüber abgestimmt wird, scheint nachrangig zu sein.

PS: Rechtzeitig zu Griechenland III kommt mein Buch „Von Rettern und Rebellen“ heraus, das aus der Perspektive des Beteiligten die Eurokrise seit Beginn dieses Jahrzehnts nachzeichnet. Die zentralen Probleme werden dargestellt: die Machtlosigkeit des Parlaments gegenüber der Regierung, mangelnder ökonomischer Sachverstand im Bundestag und die mal subtile, mal rigorose Machtsicherung der Führung.

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