Tichys Einblick
Die Große Depression von Politik und Öffentlichkeit

Glaubwürdige Pro-Europäer, Anti-Zentralisten und Marktwirtschaftler fehlen

Blut, Schweiß und Tränen als Kosten einer Bereinigung der ökonomischen Lage und als Investition für künftiges Wachstum zu fordern, wagt niemand, weshalb sich die Lage nicht verbessert. Stattdessen wird eine noch stärkere Ladung Freund-Feind-Polemik in die politische Öffentlichkeit geschossen. So dreht sich die Polarisierungs- und Radikalisierungsspirale immer schneller und schneller. Von Norbert F. Tofall

Nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 sollte durch Banken- und Staatenrettungen und unkonventionelle Maßnahmen der Zentralbanken eine Große Depression verhindert werden. Zwar wurde bis heute eine große ökonomische Anpassungsrezession verhindert und damit möglicherweise in die Zukunft verschleppt, im politischen und gesellschaftlichen Bereich ist trotzdem allen Ortens eine große Depression in Form politischer Polarisierung und Radikalisierung zu beobachten.

In Ungarn hat Victor Orbán das Sagen. In Polen schleift Jaroslaw Kaczynski rechtsstaatliche Institutionen. In Frankreich ist Marine Le Pen im Aufwind. In Spanien hat Pablo Iglesias seine Protestbewegung Podemos ins Parlament geführt, die Sozialisten unter Pedro Sánchez sind jedoch heillos zerstritten. Eine neue stabile Regierung ist in Spanien nicht in Sicht, weil es im Parlament keine klaren Mehrheiten gibt. In Griechenland regiert Alexis Tsipras, in der Türkei Recep Erdogan, in Russland Wladimir Putin, der in der deutschen AfD viele Anhänger hat und sich nicht scheut, Marine Le Pen in Frankreich zu unterstützen. Und in Großbritannien könnten die Probleme, die in der EU nicht gelöst und weiterhin verschleppt werden, zum Brexit führen.

In den USA tobt ein Anti-Establishment-Wahlkampf, der von einem rechten Protektionisten, Donald Trump, einem erzkonservativen texanischen Senator, Ted Cruz, und einem demokratischen Sozialisten, Bernie Sanders, angeführt wird. Diese und andere Polarisierer scheinen die Befindlichkeit eines großen Teils der Amerikaner zu treffen, deren Grundvertrauen in den amerikanischen Traum durch die Finanzkrise von 2007/2008 und deren Folgen nachhaltig erschüttert wurde. Heute wird in weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung die wirtschaftliche Entwicklung seit Ende der 70er Jahre als eine Phase der Abwicklung empfunden. Unter Abwicklung wird die zunehmende Desindustrialisierung, Verarmung der Mittelschichten und wachsende Ungleichheit in den USA verstanden.

Lauter Protektionisten: Die Anderen sind schuld! 

Aber weder Sanders noch Trump, noch Putin und Tsipras, weder Podemos noch der Front National glänzen mit Reformvorschlägen, welche der gesellschaftlichen Depression auf den ökonomischen Grund gehen. Sanders ist genauso ein Protektionist wie Trump, der die chinesischen Währungsabwertungen durch Schutzzölle beantworten will. Tsipras verspricht Reformen, gegen die er vorher opponiert hat. Putins Kontroll- und Beherrschungswahn aller gesellschaftlichen Bereiche hat zur Folge, dass Russland seine ökonomischen Strukturprobleme immer noch nicht löst, außenpolitisch immer aggressiver agiert und durch den Ölpreisverfall weiter unter Druck gerät. Und auch China stellt sich nicht notwendigen Strukturanpassungen, sondern will durch Ausweichhandlungen wie die „One Belt, One Road“-Initiative, Kontrolle der Börse und weitere aus dem Nichts geschöpfte Kredite für angeschlagene Unternehmen den Druck zu Strukturreformen ablassen. Gleichzeitig wird China seinen Nachbarn durch Gebietsansprüche militärisch unangenehm. Und auch die Krise der EU zeigt, dass überall innen- und außenpolitische Polarisierungen zunehmen.

Transparenz und Offenheit statt Bevormundung
Das Gift Misstrauen
Weltweit geht die ökonomische Problemverschiebung weiter. An die Stellen von schöpferischer Zerstörung, Neuaufbau und Strukturwandel treten moralische Diskreditierungen des politischen Gegners und von geographischen Nachbarn – ein Freund-Feind-Denken, welches eine einfache Erklärung für die eigene desolate wirtschaftliche Situation zu bieten scheint. Die Anderen sind schuld! Politische Polarisierungen und Politikblockaden sind damit vorprogrammiert. Wenige trauen sich, Blut, Schweiß und Tränen als Kosten für eine Bereinigung der ökonomischen Lage und als Investition für zukünftiges Wachstum zu fordern, weshalb sich die Lage auch nicht verbessert. Das führt abermals dazu, eine noch stärkere Ladung Freund-Feind-Polemik in die politische Öffentlichkeit zu schießen. So dreht sich die Polarisierungs- und Radikalisierungsspirale immer schneller und schneller.

Am Beginn dieses Prozesses steht der Vertrauensverlust in die Eliten in Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. Sie haben die Finanzkrise nicht vorausgesehen und auf die damit verbundenen und nachfolgenden Herausforderungen ängstlich und defensiv reagiert. Man hat nicht den Eindruck, dass sie aus den vergangenen Fehlern viel gelernt hätten und nun entschlossen wären, diese zu korrigieren.

Keine Lösungsvorschläge ist unpolitisch

Versagen, vor allem politisches Versagen liegt aber auch vor, wenn bei der Kritik am Establishment stehengeblieben wird, um sich im Kulturpessimismus einzurichten. Zur politischen Kompetenz gehört nicht nur die Fähigkeit zur argumentativen Kritik der herrschenden Verhältnisse und an Fehlentwicklungen. Zur politischen Kompetenz gehört vielmehr – und das macht das eigentliche Politische aus -, alternative Problemlösungen so zu formulieren und die Unterstützung für diese Lösungswege mit Geduld, Mäßigung und Klugheit so zu organisieren, dass Polarisierungen und Politikblockaden überwunden werden. Wer sich dieser Aufgabe nicht stellt, ist politisch inkompetent, ja im Grunde unpolitisch. Denn in der Politik geht es darum, „was hinten rauskommt“. Sonst geht die Problemverschleppung munter weiter und nichts ist gewonnen.

Zur Überwindung von Polarisierung und Politikblockaden gehört natürlich auch der Aufbau von Gegenmacht. Demokratie ist nach Karl Popper nichts anderes als die Chance, die jeweils Regierenden unblutig loszuwerden. Dazu benötigt man entweder neue Mehrheiten in den Parlamenten oder Männer und Frauen in den bestehenden Parlamenten, die diese Aufgabe, unfähige oder nicht mehr gewünschte Regierungen abzusetzen, mit Verantwortung wahrnehmen. Auch der Druck von außen durch neue Bewegungen oder Parteien gehört dazu.

Strategisch zum Rohrkrepierer wird der verkündete Aufbau von Gegenmacht aber dann, wenn zum Beispiel Parteineugründungen dazu führen, die derzeitige Politik zu zementieren, weil alternative Koalitionen unwahrscheinlicher werden. In Österreich haben wir es seit Jahren mit einer großen Koalition aus ÖVP und SPÖ zu tun. In Deutschland waren bei der Bundestagswahl 2013 die größten Nutznießer der neugegründeten AfD – kontraintuitiv – Merkel und Schäuble, die in der neuaufgelegten großen Koalition mit der SPD ihre Politik zur Rettung Griechenlands und des Euro viel ungehinderter durchsetzen konnten. 20 Abweichler zwischen 2009 und 2013 konnten Merkel in größte machtpolitische Bedrängnis bringen, wenn die Opposition Bundeskanzlerin Merkel vor die Wand laufen lassen wollte. Die Kanzlermehrheit betrug 19 Stimmen. Die über 60 Abweichler im Sommer 2015 waren für Merkel zwar ärgerlich, aber machtpolitisch irrelevant.

Auffällig ist, dass es bislang weder in Deutschland und Europa noch in den USA gelungen ist, ein ökonomisches Bereinigungsprogramm im Rahmen einer freiheitlichen Gesellschaftspolitik in einer Art und Weise zu formulieren, die das Knüpfen von tragfähigen, gesellschaftlich breiten Netzwerken zum Aufbau von Gegenmacht ermöglichen. Nur so dürfte eine Chance bestehen, Polarisierungen und Politikblockaden zu überwinden.

Kampagnenfähige Pro-Europäer, Anti-Zentralisten und Marktwirtschaftler fehlen

In Deutschland und Europa fehlt eine europaweite, kampagnenfähige Bewegung aus glaubwürdigen Pro-Europäern, die sich gegen Planwirtschaft und Zentralismus in der EU einsetzen. In den USA ignorieren sowohl Hillary Clinton als auch Bernie Sanders die grundlegende Reformbedürftigkeit des fiskalischen und geldpolitischen Systems, obwohl gerade in diesen reformbedürftigen Systemen die Hauptursachen für die steigende Ungleichheit in den USA zu finden sind, die sowohl Sanders als auch Clinton bekämpfen wollen. Auf republikanischer Seite gibt es mit einigen Vertretern der Tea Party Bewegung und insbesondere bei Rand Paul, der die Kampagne abgebrochen hat, zwar Ansätze eines Verständnisses für diesen systemischen Zusammenhang, aber noch längst keine Mehrheiten für durchgreifende Reformen. Rand Paul spielt im Kampf um die republikanische Präsidentschaftskandidatur keine Rolle mehr. Ob es Ted Cruz gelingen wird, aus seiner Freund-Feind-Polemik auszusteigen und Mehrheiten innerhalb der Republikanischen Partei als auch im Kongress für durchgreifende Strukturreformen zu organisieren, ist fraglich. Donald Trump ist ohnehin ein Protektionist, dem man mit grundlegenden Strukturreformen des fiskalischen und geldpolitischen Systems erst gar nicht zu kommen braucht. Die USA dürften deshalb vorerst weiterhin in Polarisierung und Politikblockaden gefangen sein.

Mittel- bis langfristig könnten in den USA aber politische Bewegungen und Politiker wachsen, die den Mut, die Kompetenz und die Ausdauer mitbringen, die Reform des fiskalischen und geldpolitischen Systems als überparteiliches Projekt zu formulieren und zu organisieren, so dass die derzeitigen Politikblockaden überwunden werden.

Selbst George Packer, der in seinem Bestseller „Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika“ die desolate Lage der USA anschaulich beschreibt, versinkt nicht in Fatalismus, denn:

„Jeder Zusammenbruch hat eine Erneuerung hervorgebracht, jede Implosion hat Energie freigesetzt, jede Abwicklung hat zu neuem Zusammenhalt geführt.“

Festzuhalten bleibt, dass sowohl in den USA als auch in Europa derzeit die Stellen der politischen Führer noch zu vergeben sind, die den Mut, die Kompetenz und die kraftvolle Ausdauer haben, jenseits von Polarisierungen politische Programme zu formulieren, welche die breite Zustimmung der Bevölkerung für schmerzhafte ökonomische Bereinigungsprogramme gewinnen. Die große Depression im politisch-gesellschaftlichen Bereich frisst sich sonst weiter Bahn und die Problemverschleppungen erweitern sich zur Gesellschaftskrise des Westens.

„Doch die moderne Kultur wird nicht untergehen, wenn sie sich nicht selbst aufgibt. Kein auswärtiger Feind kann sie zerstören… Nur innere Feinde können ihr gefährlich werden; sie kann nur sterben, wenn die gesellschaftsfeindliche antiliberale Ideologie die liberalen Ideen verdrängt“

schreibt bereits 1927 Ludwig von Mises.

Und mit Hölderlin ist hinzuzufügen: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“


Norbert F. Tofall, Analyst

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