Martin Schulz hat ausnahmsweise Recht. Die Leitkulturdiskussion dieser Tage ist eine Scheindebatte. Möglicherweise aber aus anderen Gründen, als Schulz meint. Denn eigentlich könnte dieser Diskurs die Frage präzisieren helfen, um welche Form von Integration es in Deutschland eigentlich gehen soll. Der durch seinen beliebigen Gebrauch fast völlig entleerte Integrationsbegriff ist nämlich so inhaltsleer, dass bei Migranten gelegentlich schon die dürftige Tatsache, strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten zu sein, als Nachweis einer gelungenen Integration durchgeht.
Aber statt eines ernsthaften Diskurses traktieren Leitkulturbefürworter und Leitkulturgegner die Öffentlichkeit mit vorwiegend seichten Argumenten. Die Banalität dieser Argumente ist es, die die Scheindebatte ausmacht. Sie wird ihrem Gegenstand nicht gerecht. Gegenstand ist das wohl wichtigste Zukunftsthema unseres Landes. Ein wirklicher gesellschaftlicher Diskurs, auf den eine demokratische Gesellschaft Anspruch hat, muss deshalb bei der grundlegenden Frage beginnen: Welche Vorstellung von zukünftiger Gesellschaft haben die Bürger? Daraus folgen weitere Fragen:
Erstens, will die Gesellschaft überhaupt Einwanderung? Wenn ja, in welchem Umfang und welche Einwanderer? In diese Frage eingeschlossen sind z. B. solche Kriterien wie berufliche Qualifikation, geografische und kulturelle Herkunft usw. Ein Blick in Vergangenheit und Gegenwart zeigt, dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten faktisch (wenn auch ungewollt) eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist. Ob das auch für die Zukunft gelten soll, ist eine genuin politische Entscheidung. Diese Entscheidung absichtsvoll und planmäßig zu treffen, ist das demokratische Recht einer Gesellschaft. Und es ist ein zwingendes Gebot der politischen Rationalität. Die Alternative dazu ist, diese Entscheidung dem launenhaften Lauf des Schicksals zu überlassen. Genau das aber ist seit 1990 stillschweigende Politik der Bundestagsparteien und der aus ihnen hervorgegangenen Regierungskoalitionen.
Zweitens, entscheidet sich die Gesellschaft für Einwanderung, dann ist zu klären, welche Form der Integration sich die Aufnahmegesellschaft für ihre Einwanderer vorstellt. Sollen sich Einwanderer kulturell anpassen oder nicht, und wenn ja, wie und wie weit sollen sie Lebensweise und Werte der Aufnahmegesellschaft übernehmen? Alle modernen Wohlfahrtsgesellschaften haben, soweit sie Einwanderung zulassen, die Wahl zwischen zwei Grundmodellen: Das eine ist die kulturell relativ homogene Gesellschaft. Das andere ist eine Gesellschaft, die sich wie etwa Kanada, bewusst für den Multikulturalismus entscheidet. Daraus abgeleitet gibt es zwei Grundtypen von Integration: Die Immigranten übernehmen über kurz oder lang die Kultur der Aufnahmegesellschaft. Oder die Immigranten behalten ihre traditionelle Herkunftskultur bei, eine Anpassung an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft findet, wenn überhaupt, auf kleinstem gemeinsamen Nenner statt.
Das Modell des Multikulturalismus braucht Leitkultur erst recht nicht. Nach multikulturalistischer Auffassung verträgt sich Leitkultur nicht mit dem Dogma der „diversity“ und dem Prinzip der Gleichwertigkeit der Kulturen. Und nach radikalindividualistischem Ansatz verträgt sich der Leitkulturgedanke nicht mit der Vielfalt von Lebensstilen. Vermeidet das Land die Grundentscheidung, ist das Ergebnis ein „faktischer Multikulturalismus“, weil Einwanderung, die sich selbst überlassen bleibt, zwangsläufig in die multikulturelle Gesellschaft mündet. Auch beim „faktischem Multikulturalismus“ geht es ohne Leitkultur. Und genau das scheint der Königsweg zu sein in Merkels an politischen Grundüberzeugungen so armen Welt. Wenn diese Prämissen stimmen, dann ist die neuerliche Leitkulturdiskussion nichts anderes als das neuerliche Symptom einer tiefsitzenden Orientierungslosigkeit über das kulturelle Selbstverständnis der deutschen Mehrheits- und Aufnahmegesellschaft.
Der öffentliche Diskurs in Deutschland wird besonders unerfreulich immer dann, wenn es um Begriffe geht, die auf der Fahndungsliste des Aufsichtspersonals der politischen Korrektheit stehen. Zu den schlimmsten Reizbegriffen zählt die Leitkultur. Seit Friedrich Merz, damals Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, den Begriff im Jahre 2000 zum ersten Mal in die öffentliche Diskussion warf, kann in den Mainstream-Medien über „Leitkultur“ fast nur höhnisch oder mit Schaum vor dem Mund diskutiert werden. Dieses Mal übernahm Bundesinnenminister Thomas de Maizière die undankbare Rolle, sich an dem Begriff abzuarbeiten. Dabei ist ein buntes Sammelsurium herausgekommen, das durchaus etwas Richtiges meint. Aber statt mit der Grundfrage zu beginnen, in was für einer Gesellschaft die Deutschen leben wollen, mischen die Thesen munter kulturelle Elemente („Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“) mit politischen Einstellungen („Die Nato schützt unsere Freiheit“) und bloßen Selbstverständlichkeiten („Wir sind Erben unserer deutschen Geschichte“).
Mögen de Maizières Thesen einstweilen noch nicht das angemessene Diskursniveau erreicht haben, die Argumente der Gegenseite sind freilich nicht minder flach. Zudem ist der Leitkulturbegriff emotional so aufgeladen, dass selbst „Linksliberale“ spielend zu schäumenden Wutbürgern mutieren. Was wäre eine Leitkulturdiskussion ohne den im ewigen Empörungsmodus schreibenden Heribert Prantl von der SÜDDEUTSCHEN. Für ihn ist Leitkultur „kein integrierender, sondern ein polarisierender Begriff, ein spaltendes Kampfwort, ein Wort der Überhebung und der Überheblichkeit“, der Schlüsselbegriff der „Ausgrenzungssemantik“, wo es doch eigentlich darum gehen müsse, „eine Kultur des Zusammenlebens zu etablieren: Sie heißt Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte.“ Eben, genau darum geht es: um eine Kultur des Zusammenlebens. Prantl freilich scheut sich nicht, die im Lauf von zwei Jahrzehnten Leitkulturdiskussion ausgelaugten Standardargumente der Leitkulturgegner ein weiteres Mal zu strapazieren. Aber seine Argumente sind schwach, weil sie die kulturellen Bedingungen des Zusammenlebens ausblenden.
Deutsche Kultur, nein danke?
Wer der Leitkulturfrage auf den Grund gehen will, muss zunächst Ordnung ins Begriffsdurcheinander bringen. Leitkulturgegner behaupten, niemand könne wirklich sagen, was deutsche Kultur überhaupt sei. Es sei also unsinnig, von Einwanderern zu verlangen, sich an etwas anzupassen, was gar nicht existiere oder zumindest niemand definieren könne. Eine prominente Vertreterin dieser These ist die Staatsministerin Aydan Özoguz. Sie ist die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und Bundeskanzlerin Merkel unmittelbar unterstellt. Die Staatsministerin machte kürzlich die ziemlich skurrile Entdeckung, dass eine „spezifisch deutsche Kultur […] jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“ sei. Und weiter: „Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt.“ Bemerkenswert an solchen Sprüchen ist allerdings lediglich das Selbstbewusstsein, mit dem ein Mitglied der Bundesregierung sein historisches Halbwissen als Wahrheit in die Öffentlichkeit hinausposaunt.
Die gesellschaftliche Funktion der Kultur
Im Zentrum von Kulturen stehen Werte. Für den Soziologen Hans Joas sind Werte emotional stark besetzte Vorstellungen über das individuell oder kollektiv Wünschenswerte. An ihren Werten erkennt man die Kultur einer bestimmten Gesellschaft. Die Verschiedenheit der Werte bzw. die unterschiedliche Gewichtung und Zusammensetzung derselben Werte unterscheidet die Kulturen voneinander. Die eine Gesellschaft legt tendenziell höchsten Wert auf individuelle Selbstbestimmung, eine andere auf den materiellen Wohlstand des Individuums. In einer Gesellschaft steht der Wohlstand der Familie an erster Stelle der kollektiven Wertepräferenz, in einer anderen Gesellschaft ist der Wohlstand der Familie nur zweitrangig usw.
Gesellschaften sind auf die Integration ihrer Mitglieder angewiesen, unabhängig davon, ob Einwanderungsgesellschaft oder nicht. Unter den Bedingungen des religiösen, weltanschaulichen und politischen Pluralismus bleiben aber als Grundlage der sozialen Integration grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten: das Recht oder die gesellschaftliche Kultur eines Landes. Das Recht ist dieser Aufgabe nicht gewachsen, wie später noch zu zeigen ist. Bleibt die gesellschaftliche Kultur. Sie verfügt über den Vorrat an Gemeinsamkeiten, auf den funktionierende Gesellschaften angewiesen sind: eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Werte und Symbole. Bei Einwanderungsgesellschaften ist deshalb sinnvollerweise die Kultur der Aufnahme- oder Mehrheitsgesellschaft die gesellschaftliche Kultur des ganzen Landes. Frage ist nur, ob die Einwanderer die kulturellen Werte der Mehrheitsgesellschaft teilen, und falls nicht, wie mit Abweichung umgegangen wird. Sind die kulturellen Werte der Mehrheitsgesellschaft im Streit- oder Zweifelsfall der verbindliche Maßstab für die Auflösung von Wertekonflikten auch gegen den Willen der Minderheit? Oder sind sie Gegenstand interkultureller Aushandlung wie im Falle der multikulturellen Gesellschaft?
Ist das Integrationsziel die allmähliche Assimilation der Einwanderer, stellen sich die normativen Fragen nicht. Sie erledigen sich von selbst, weil sich die Einwanderer von den Einheimischen in sozialer und kultureller Hinsicht gar nicht unterscheiden (wollen). Alle Unterschiede, die es gibt, sind individuelle Unterschiede, ein ethnokulturelles Sonderbewusstsein existiert nicht (mehr). Die gemeinsame kulturelle Identität erzeugt ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit. Das Wir-Gefühl, das daraus entsteht, bringt jenseits des sozialen Status der Individuen, jenseits ihrer politischen Überzeugungen, ihres religiösen Bekenntnisses oder ihrer Freizeitgewohnheiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt hervor, ohne den funktionierende Demokratien nicht bestehen können.
Was meint eigentlich, wer Leitkultur sagt? Ein kurzer Rückblick
Nicht alle, die Leitkultur sagen, meinen dasselbe. Friedrich Merz‘ Begriff einer „deutschen Leitkultur“ kam seinerzeit nicht über das diffuse Schlagwort hinaus. Gleichwohl konnte es so verstanden werden, dass Einwanderer die Kultur der Mehrheitsgesellschaft übernehmen und Deutsche werden sollten. Die Medien und die politischen Gegner reagierten allerdings dermaßen hysterisch, dass sich die CDU-Spitze gezwungen sah, den Begriff wieder aus dem Verkehr zu ziehen. Merz hatte das Erregungspotenzial des Begriffes offensichtlich unterschätzt. Er suchte daraufhin den Begriff durch Relativieren und Abschwächen zu retten. Damit war seine Glaubwürdigkeit aber erst einmal dahin.
Den nächsten Anlauf im deutschen Leitkulturdiskurs machte fünf Jahre später Bundestagspräsident Norbert Lammert. Sein Leitkulturbegriff war zwar unverbindlich, schränkte dafür aber das politische Risiko ein. In einem ZEIT-Interview sprach Lammert nur noch von „gemeinsam getragenen Grundüberzeugungen“ und „allgemein akzeptierten Orientierungen“. Damit befand er sich nahe am Leitkultur-Verständnis des Politikwissenschaftlers Bassam Tibi. Dessen Verständnis von Leitkultur gilt bis heute auch den ausgewiesenen Gegnern des Begriffes als Richtschnur. Verdruss bereitet ihnen lediglich der Begriff als solcher. Für Tibi, der die Urheberschaft des Leitkulturbegriffes für sich reklamiert und allzeit eifersüchtig über den rechten Gebrauch des Begriffes wachte, aber war Leitkultur auf keinen Fall deutsch, sondern europäisch. Er verstand darunter einen Konsens, der anknüpft an den Werten der „kulturellen Moderne“ (Jürgen Habermas), die wiederum ein Produkt der europäischen Aufklärung ist. Ihr Inhalt sei: Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung; Demokratie, die auf der Trennung von Politik und Religion basiert; die individuellen Menschenrechte; Pluralismus; Toleranz. In seinem Aufsatz „Leitkultur als Wertekonsens“ hatte sich Tibi, die Grenzen der Selbstüberschätzung großzügig überschreitend, nichts Geringeres vorgenommen, als mit „seinem Konzept einer europäischen Leitkultur (oder auch europäischen Identität) für Deutschland eine Grundlage zum friedlichen Miteinander (…) zwischen Einwanderern und Deutschen zu schaffen.“
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass Tibis Leitkultur ein terminologischer Missgriff war. Denn das, was Tibi zur „Leitkultur“ aufgeblasen hatte, hatte wenig mit Kultur in seiner herkömmlichen Bedeutung zu tun. Tibis Leitkultur bestand in Wirklichkeit aus der Aufzählung einiger in Europa anerkannter Grundsätze zur Gestaltung des öffentlichen Lebens. Zudem betonte er immer, dass diese Grundsätze „kulturübergreifende Gültigkeit“ hätten, also gerade über den empirisch vorfindlichen Kulturen Europas stünden. Was Tibi mit seinem Leitkulturbegriff beschreiben wollte, war folglich so etwas wie ein kulturübergreifender Wertekonsens. Tibi übersah aber einen entscheidenden Punkt. Die von ihm beschworenen Werte der „kulturellen Moderne“ sind keineswegs kultur-unspezifisch, sondern sie sind selbst Früchte einer bestimmten Kultur, nämlich der europäischen. Einer Kultur also, die historisch vom Christentum geprägt wurde und sich im Konsens, aber auch in Auseinandersetzung mit ihm zu ihrer heutigen Gestalt ausgeformt hat.
Wozu Gesellschaftskultur?
Die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Wertekonsenses wird gemeinhin nicht in Abrede gestellt. Umstritten sind freilich Reichweite, Umfang und Grenzen dieses Wertekonsenses. Tibi schreibt, es sei eine in allen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass Gemeinwesen „einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung“ benötigten. Das sei „die unerlässliche Klammer zwischen den in diesen Gemeinwesen lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder Ursprungskultur.“ Klingt einleuchtend, nur so einfach ist die Sache nicht. Denn die Menschen haben gerade in Abhängigkeit von Religion, Ethnie und Ursprungskultur ihre jeweils spezifischen Werte und Normen. Fraglich ist, ob es einen über Lippenbekenntnisse und Leerformeln hinausreichenden Basiskonsens zwischen Menschen aus Kulturen mit verschiedenen oder gar gegensätzlichen Werten überhaupt geben kann, wenn diese Menschen ihren jeweiligen Kulturen verhaftet bleiben.
Erstens: Die Forderung, Einwanderer hätten lediglich das Grundgesetz und die Gesetze des Landes zu kennen und zu befolgen, trifft nicht den Kern der Sache. Können Grundgesetz und Gesetze der Erwartung überhaupt gerecht werden, verbindliche Geschäftsgrundlage für die Integration von Einwanderern zu sein? Oder wird ihre Rolle dabei nicht heillos überschätzt? Zu erwarten, dass das Recht allein aus sich heraus verhaltenssteuernde Kraft entfalten könne, heißt seine Leistungsfähigkeit überfordern. Hätten Verfassung und Gesetze tatsächlich die ihnen zugeschriebene verhaltenssteuernde Kraft, dann müssten z.B. die Verhältnisse in der Türkei, die 1926 das Schweizer Zivilrecht übernommen hat, denen in der Schweiz wesentlicher ähnlicher sein, als sie es in Wirklichkeit sind.
Rechtssoziologisch formuliert: Das Recht ist besonders wirksam dort, wo es Ausdruck einer ohnehin schon bestehenden sozialen Praxis ist. Die soziale Praxis, so sei hinzugefügt, wird aber entscheidend von ihren jeweiligen kulturellen Gegebenheiten bestimmt.
Zweitens: Die Vertreter eines Basiskonsenses gehen davon aus, die Werteordnung des Grundgesetzes stehe über den Kulturen und eigne sich deshalb als Grundlage des Zusammenlebens in der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft. Das freilich ist ein Irrtum. Verfassungen sind keineswegs kulturneutral. Auf den Weimarer Justizminister und Rechtsphilosophen Gustav Radbruch geht die Einsicht zurück, dass Recht Kulturerscheinung ist. Recht ist das Resultat kultureller Wertentscheidungen, im besten Fall sogar eines kulturellen Wertkonsenses (Talcott Parsons).
Aber nicht allein Verfassung und Gesetze sind kulturspezifische Phänomene, sondern vor allem auch ihre Auslegung und Anwendung im Rechtsalltag. Das Recht bedient sich unbestimmter Rechtsbegriffe. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind aber wertausfüllungsbedürftig, wie es im juristischen Jargon heißt. Zu konkretem Inhalt verhelfen ihnen die spezifischen kulturellen Werte eines Landes. Denn nur in ihrer kulturell ausgefüllten Form sind Rechtsbegriffe überhaupt verständlich und auf konkrete Lebenssachverhalte anwendbar. In Abwandlung der bekannten Kantischen Formel kann man sagen, dass Begriffe ohne Anschauung keine Bedeutung haben. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde usw. sind ohne die kulturelle Anschauung, was sie konkret sein können oder sein sollen, leere Begriffe. Hinter den Anschauungen aber stehen die Vorstellungen über das Wünschenswerte, die Werte. Und sie wiederum machen in ihrer Gesamtheit die Kultur einer Gesellschaft aus.
Allen diesen Einreden zum Trotz: In Deutschland ist der Glaube an die integrationsschaffende Kraft des Rechts unerschütterlich. Um Einheimische zu beruhigen, verkünden die Bundestagsparteien, die Grundwerte des Grundgesetzes seien unverhandelbar. Aber selbst im liberalen Multikulturalismus gilt der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Kulturen. Wo aber Kulturen gleichwertig sind, da sind auch ihre Werte gleichberechtigt. Folglich müssen auch die Werte der Rechtsordnung zwischen den verschiedenen kulturellen Gemeinschaften grundsätzlich verhandelbar sein. Ein konsequenter Multikulturalismus sieht im Grundgesetz nämlich keineswegs einen Fixpunkt gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Hakki Keskin, 2005 bis 2009 Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, bis 2005 Vorsitzender der einflussreichen „Türkischen Gemeinde in Deutschland“ (TGD), bringt das sehr prägnant zum Ausdruck. Gerade die Multikulturalität der Gesellschaft, so Keskin, dynamisiere das Grundgesetz, das heißt, öffne es für Änderung und Weiterentwicklung. Änderung und Weiterentwicklung seien die logische Konsequenz der Einwanderung neuer kultureller und religiöser Werte, die mit den herkömmlichen Werten der Aufnahmegesellschaft konkurrierten. So sei es „völlig inakzeptabel“, wenn die Werteordnung des Grundgesetzes gleichgesetzt werde mit der Werteordnung einer zwar säkularen, aber historisch christlich geprägten Kultur. Denn wie soll „ein Nicht-Christ, ein Muslim, Jude, Hindu etc. die christlich-abendländische Kultur akzeptieren, um integriert zu werden? Und noch dazu die eigene Kultur bewahren können.“ Aus seiner Sicht liegt der wirkliche Grundkonsens folglich nicht in der vorbehaltlosen Anerkennung des Grundgesetzes, sondern in der Übereinkunft, dass der Minimalkonsens, der in der Verfassung zum Ausdruck kommt, Gegenstand interkultureller Aushandlung ist. Dieser Ansicht ist auch Staatsministerin Aydan Özoguz.
Wer also will, dass das Grundgesetz an die Werte der deutschen und europäischen Kultur anknüpft, der muss daran festhalten, dass in Deutschland die deutsche Kultur Gesellschaftskultur ist.
Die Pointe ist, dass beide Seiten, Leitkulturgegner wie Leitkulturbefürworter, falschen Vorstellungen aufsitzen. Leitkulturgegner, weil sie glauben, es gäbe so etwas wie ein kulturneutrales Verfassungsrecht, das als „Hausordnung“ einer individualisierten und kulturpluralistischen Gesellschaft ausreiche. Und die Leitkulturbefürworter, die ein paar dürre Grundsätze öffentlichen Verhaltens und eine Handvoll Selbstverständlichkeiten im zwischenmenschlichen Umgang mit der Kultur eines Landes verwechseln und darüber hinaus nicht den Mut haben, selbstbewusst die Anpassung der Einwanderer an die gesellschaftliche Kultur der Mehrheitsgesellschaft als ausdrückliches Ziel der Integration zu fordern.
Im Übrigen lässt sich zeigen, dass Menschen nur dann wirklich gesellschaftlich integriert sind, wenn sie an einer gemeinsamen Kultur teilhaben. Und nur, wenn Menschen gesellschaftlich integriert sind, sind sie auch wirklich gleichberechtigt und haben gleiche Chancen. Die Bildungsmisere zahlloser junger Migranten sollte zu denken geben. In diesem Zusammenhang spricht einiges für die These, dass dafür weniger die angebliche Inkompetenz der deutschen Schulen verantwortlich ist als vielmehr die Nichtteilhabe vieler Immigranten an der gesellschaftlichen Kultur der Aufnahmegesellschaft.
Gesellschaftskultur, was sonst!
Auch moderne Gemeinwesen sind auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Bürger angewiesen. Verfassungen und Gesetze schaffen jedoch keine emotionalen Bindungen. Sie reichen deshalb als Grundlage für ein Zusammenleben zwischen Einheimischen und Einwanderern nicht aus. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit entsteht auf der Grundlage einer gemeinsamen Kultur. Die Gesellschaftskultur Deutschlands bietet sich konsequenterweise als Grundlage für ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von Einheimischen und Einwanderern an. Ohne dieses Bewusstsein gibt es keine gesellschaftliche Integration, keine echte Solidarität, keine soziale Gerechtigkeit, keine wirkliche Demokratie.
Berhold Löffler studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Osteuropäische Geschichte in Tübingen und Warschau. Der Professor an der Hochschule Ravensburg-Weingarten lehrt Politische Soziologie, Politikwissenschaft, Empirische Sozialforschung. Sein Hauptarbeitsgebiet: „Probleme der Integration von Einwanderern“. Löffler unterhält partnerschaftliche Beziehungen zur Soziologischen Fakultät der Uni Breslau und zur Tadeusz-Kosciuszko-Offiziershochschule der Landstreitkräfte der Republik Polen in Breslau.