Die Europäer sekundierten diesem Weltmachtstreben, indem sie einen naiven Humanitarismus propagierten. Es ist den USA tatsächlich gelungen, die ehemals imperialismuskritische Linke für ihr Anliegen zu gewinnen. Der moralisierende Trick bestand darin, die Vision einer „One World“ (unter Führung des Westens) mit der Diskreditierung jeglichen westlichen Nationalismus als „rechts“ zu verbinden. Der Sieg der höheren Moral über die geopolitische Urteilskraft war vollständig.
Die heute geradezu eifernde Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine – von den Grünen bis zu den Atlantikern der CDU – erfolgt aufgrund einer Moral, der Gerechtigkeit als höherer Wert gilt als Frieden. Manche ihrer Rufe, den Krieg auch mit deutscher Hilfe nach Russland hineinzutragen, erfüllen – so Harald Kujat –, den Straftatbestand der Kriegshetze und des Landesverrats an unseren eigenen Interessen. Denn im Fall einer Eskalation drohe nicht weniger als die atomare Auslöschung Deutschlands.
Und schließlich war es das pausenlose Trommelfeuer fast gleichgeschalteter Medien, die zwei Jahre konsequent nur Gutes über die Ukraine und nur Schlechtes über Russland berichtet haben und damit ihren Zuschauern pausenlos die Frage zuriefen: „Wollt ihr den Gerechten Krieg?“ Die Fernsehberichterstattung könnte ohne Umwege aus Kiew übernommen worden sein. Schultze-Rhonhof äußert sogar den Verdacht, dass die Bilder aus Buschta von ukrainischen Kameras gestellt worden seien und es sich in Wirklichkeit um ermordete Russen gehandelt habe.
Die Kriegslust der Grünen verdient eine gesonderte Betrachtung. Ihre Außen- und Sicherheitspolitik bestand jahrzehntelang im Kinderreim des „Frieden schaffen ohne Waffen“. Heute geißeln sie Nationalismus im eigenen Land als „rechtsextrem“, den Nationalismus der Ukraine hingegen interpretieren sie als Befreiungskampf. Während die Grenzen der Ukraine auch durch unsere Waffen beschützt werden sollen, bleiben unsere Grenzen offen, auch für Terroristen und Islamisten. Die Empörungspolitik der Grünen gilt aber nicht primär dem Überfall auf die Ukraine, denn dann müssten sie sich auch über den Überfall auf Armenien empören. Sie fühlten sich in ihrem naiven Weltbild entblößt, von einem weißen alten Diktator, der ihre woken Werte nicht achtet. Durch die Aggression Russlands wurde der Regenbogen als Fata Morgana entlarvt.
Wie ist das Wunder ihrer mehrfachen Bekehrung zu erklären? Ihr Hunger und Durst nach „Gerechtigkeit“, den sie lange nur auf Partei- und Kirchentagen rhetorisch stillen konnten, fand mit dem Krieg endlich einen unmittelbaren Handlungsauftrag. Der ersatzreligiöse Charakter ihrer Gesinnung rechtfertigt jedes Opfer. Aber je mehr ihre verstiegenen Hoffnungen auf Gerechtigkeit scheitern, desto mehr müssen innen wie außen Sündenböcke her.
Hinter ihrem Glauben an Gleichheit und Gerechtigkeit für alle verbirgt sich der westliche Glaube an die Universalität unserer Werte. Damit ist „gerecht“, was der Westen zur Ausbreitung seiner Werte unternimmt. Die Grundrechtscharta der Europäische Union erklärt die europäischen
Werte zu universellen Werte. Aus dieser Haltung ergibt sich die Pflicht zu einem Moralimperialismus und zum Interventionismus – von Afghanistan bis zur Ukraine.
Dieses Denken führt zu schweren militärischen Fehleinschätzungen. Mit jeder neuen Wunderwaffe beschworen sie den Endsieg. Mit dem Ausbleiben einer multipolaren Neuordnung zwischen den Weltmächten wächst das Chaos zwischen den mittleren und kleineren Mächten. „Wer mit jedem verbündet ist, ist mit niemanden verbündet.“ Diese Erfahrung machte Armenien, welches sich seit 2018 zu Lasten der alten Partnerschaft mit Russland dem Westen zugewandt hatte und dann 2023 bei dem Angriff des Nato-Partners Aserbaidschan allein dastand.
Realpolitik des Waffenstillstands
Im Nahen Osten zeigt sich, dass das Fehlen jeder Ordnung schlimmer ist als eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im Eurasischen Raum hervorrufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern.
Bei den Kriegsbefürwortern fehlt es aufgrund starker Überzeugung an Dialektik. Sie sind Unwillens, die Ausweitung der eigenen Sicherheit als Ausweitung der Unsicherheit des anderen zu erkennen. Umgekehrt wird jede sicherheitspolitische Maßnahme Russlands als Verstoß gegen die westliche Sicherheit gesehen. Mit einer solchen Konfliktanalyse lässt sich nicht einmal ein Schulhofstreit bewältigen.
Schon Carl Schmitt war beunruhigt über den Kampf für „die Menschheit“, der einem das Recht verleihe, seine Feinde als Unmenschen zu betrachten. Der Eifer, für die Menschheit zu streiten, endet in der bloßen Moralisierung, die alle partikularen Interessen übergeht.
Friede entsteht – pathetisch gesprochen – durch Vergebung, realpolitisch gesprochen durch Anerkennung der Realität, in der sich Schwächere dem Stärkeren dann anpassen, wenn dies ihrem Überleben dient. Der Ruf nach einem „Gerechten Frieden“ ist fast eine Garantie für Unfrieden, da unterschiedliche Werteordnungen der Kulturen ganz Unterschiedliches unter Gerechtigkeit verstehen. Russland hält es für gerecht, wie andere Großmächte auch, eine Einflusssphäre zu besitzen, in der sich andere Großmächte nicht breit zu machen haben.
Realpolitiker streben statt eines gerechten Krieges den „gehegten Krieg“ an (Carl Schmitt). Dafür müssten sich die kriegführenden Parteien als Feinde respektieren und nicht als Verbrecher ansehen. Zur Lehre vom „Gehegten Krieg“ gehört, dass eine Aussicht auf Frieden mit dem Gegner gegeben ist. Auf den Schlachtfeldern der Ukraine ist dieser mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen. Das vom Papst angeratene Hissen der weißen Fahne hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, wohl aber mit der Weisheit, auf Gerechtigkeit zu verzichten, wenn schon der Versuch ihrer Erringung unverhältnismäßige Opfer erfordert. Dies gilt umso mehr, wenn im Atomzeitalter nur der Friede die Minimalvoraussetzung für spätere Formen von Gerechtigkeit offenhält.
Diese Weisheit würde dem physischen Überleben der West-Ukraine dienen, auch wenn die territoriale Integrität der Ukraine verloren ist. Sie würde den Wiederaufbau einer Weltordnung ermöglichen, in der Russland seinen Platz findet. Weisheit läge auch darin, solange auf eine Friedensordnung zu verzichten, wie nur ein Waffenstillstand möglich ist.
Islamismus als einigende Gefahr?
Die größte Gefahr liegt in der Leugnung der größten Gefahr – und in der damit verbundenen Wahrnehmung der falschen Gefahr. Die vergleichsweise marginalen Unterschiede zwischen den korrupten Oligarchien der Ukraine und Russlands werden vom Westen für wichtiger erachtet als der Kulturkampf, der vom Nahen Osten nach Europa übergreift.
Die geschilderten mangelnden begrifflichen Unterscheidungen führen zu einer falschen Feind-Bestimmung auf beiden Seiten. Das Massaker in einer Moskauer Konzerthalle Ende März zeigte, wo langfristig die größeren Bedrohungen Russlands lauern. Die Warnungen amerikanischer Geheimdienste wurden offenbar für eine Kriegslist gehalten. Die Kampfansage eines neuen „Islamischen Staates“ aus den Weiten des zentralasiatischen Raumes ist schon deshalb eine existentielle Herausforderung, weil in Russland Millionen von Muslimen und Gastarbeitern aus zentralasiatischen Ländern leben, unter denen die Terroristen Helfer rekrutieren können.
Für die islamistischen Terroristen sind Russland und die Ukraine zwei Seiten einer Medaille. In der Ukraine finde ein Krieg zwischen den «orthodoxen Kreuzfahrern» statt. Auch der Krieg zwischen den USA und Russland sei ein Krieg von «Kreuzfahrern gegen Kreuzfahrer». Die Welt teilt sich in das Lager der Muslime und ihrer Glaubenskämpfer, auf der anderen Seite liege das Lager der «Juden, Kreuzfahrer und ihrer Verbündeten». Sie haben mit Russland viele Rechnungen offen, von der sowjetischen Besetzung in Afghanistan (1979–1989) über die Kriege in Tschetschenien (1994–1996 und 1999–2009) bis zu Russlands militärischem Eingreifen in Syrien.
Koexistenz statt Globalität
Im Kalten Krieg wurden die beiden inkompatiblen Weltanschauungen dieser Zeit durch fast unüberwindbare Grenzen getrennt. Die Mauer und der Zaun zwischen Israel und den Palästinensern hat überhaupt erst das Fortbestehen Israels ermöglicht. Die mangelnde Bewachung der Grenzen wurde am 7. Oktober Israel zum Verhängnis. In beiden Fällen geht es zugleich um die Grenzen sowohl des Westens als auch Europas.
Deutschlands und Europas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg verdanken sich in erheblichem Maße der Einfügung in die sich selbst behauptenden, aber auch selbstbegrenzenden Strukturen des Kalten Krieges. Die Welt hat den Kalten Krieg nur überlebt, weil sich die Mächte zu jener Zeit an ihre Einflusssphären hielten und sich auch nicht eingemischt haben, als in Ostberlin, Ungarn und Prag die Panzer rollten. Hätten sie sich eingemischt, hätte es spätere Entwicklungen hin zur Freiheitlichkeit Osteuropas nicht mehr geben können. Die Grenzen zwischen Ost und West waren die wichtigste Friedensvoraussetzung überhaupt.
Ihre strikte Einhaltung war die Voraussetzung für eine Entspannungspolitik, für die sich die SPD nicht schämen, sondern die sie reaktivieren sollte. Die Entspannungspolitik im Kalten Krieg beruhte auf der Anerkennung der Grenzen, selbst der ihnen zugrundeliegenden Vertreibung von 14 Millionen Deutschen nach Westen, die natürlich auch völkerrechtswidrig war. Sie beruhte auf der Einsicht in die Grenzen des Möglichen. Die Erhaltung des Friedens schien wichtiger als der Anspruch auf Gerechtigkeit.
Insbesondere die Anerkennung einer russischen Einflusssphäre wäre die Grundlage für eine multipolare Welt und für eine Politik der Koexistenz zwischen den Mächten. Aus der Verbindung einer Koexistenzpolitik zum Autoritarismus und zur Eindämmung des Totalitarismus könnte eine bessere wirtschaftliche und wissenschaftliche Kooperation hervorgehen.
Der entscheidende Maßstab für diese Realpolitik wäre nicht die Universalität unserer Werte, sondern die Koexistenz des Verschiedenen. Daraus würde ein neuer Sinn für die Notwendigkeit von Grenzen erwachsen.
Grenzen sind ungerecht, dienen aber dem Frieden
Auf der regionalen Ebene erwuchs der Krieg aus ungeklärten, undefinierten und ungesicherten Grenzen in der Ukraine, weltpolitisch aus den ungeklärten Grenzen zwischen den USA und Russland.
Realpolitik beginnt mit der Einsicht in die Grenzen unserer Werte. Die naheliegendste Variante ist die Teilung der Ukraine und ein daraus erwachsender dauerhafter, sich selbst verstärkender Waffenstillstand. Nord- und Südkorea haben seit 1954 nie einen Friedensvertrag unterzeichnet. Formal gesehen befinden sie sich im Kriegszustand, aber die koreanische Halbinsel ist seither friedlich. Ebenso haben die Türkei und Griechenland nie ein Friedensabkommen über Zypern geschlossen.
Auf dem Wiener Kongress 1815 wurden – unter Einbeziehung des Kriegsverlierers Frankreich – die Ordnung der Mächte neu bestimmt. Die Schweiz wurde zur Neutralität gezwungen, da sie ansonsten unvermeidlich zum Zankapfel der Großmächte geworden wäre. Selbiges müsste auf einem neuen Wiener Kongress mit der Ukraine geschehen.
Die „Finnlandisierung“ hat Finnland den Frieden und der Sowjetunion die Gesichtswahrung ermöglicht. Der kulturellen Integration Finnlands in den Westen hat sie nicht geschadet. Die Trennung von Kulturkreisen ist einem Kampf der Kulturen und dem Kampf der Weltmächte vorzuziehen. Sie entspricht nicht den globalen Idealen von der „Einheit der Welt“ oder auch nur eines eurasischen Europas. Sie bringt uns keinen „Gerechten Frieden“, sondern oft nur einen Waffenstillstand, aus dem vielleicht eine neue Ordnung hervorgehen wird.
Es handelt sich um das kleinere Übel im Sinne der Realpolitik. Da wir heute am Ende des Regenbogens angelangt sind, muss die Einsicht wachsen, dass es in der Sicherheitspolitik nicht um ersatzreligiöse Wunschträume wie die von „der Gerechtigkeit“, sondern um die Akzeptanz
und Gestaltung kleinerer Übel geht. Ohne diese Einsicht könnte sich der Krieg in der Ukraine zum Urknall der Katastrophen des 21. Jahrhunderts auswachsen.