Nun also auch die Familienministerin. Franziska Giffey, SPD, ist das dritte Mitglied eines Merkel-Kabinettes, das seinen Doktortitel unredlich erworben hat. Das ist nicht weiter bemerkenswert. Bei jährlich knapp 30.000 Promotionen in Deutschland spielt es keine Rolle, ob ein Doktortitel mehr oder weniger aberkannt wird. Es sind noch genug da, und man gewöhnt sich daran.
Man darf den Beteuerungen wahrscheinlich Glauben schenken, dass die Betroffenen sich keiner Schuld bewusst sind und sie, wie Giffey gerade wieder versichert hat, nach „bestem Wissen und Gewissen“ gehandelt haben. Mit beidem ist es wohl nicht weit her, und offensichtlich ist es so, dass sie die Regeln gar nicht gekannt haben, an die sie sich hätten halten sollen.
Die Fälle Guttenberg, Schavan, Giffey, Baerbock sind Symptome einer Übergangsphase, in der die Welt der Akademiker noch ihre über Jahrhunderte hin-weg aufgebaute Reputation bewahrt, ihr Ethos aber verloren hat. Die kleinen oder größeren akademischen Schwindeleien gelten in dem Milieu, in dem sich Giffey und Baerbock bewegen, allenfalls als lässliche Sünde.
Bundeskanzleraspiranten sollten diesen Bildungsstand eines bayerischen Realschülers nicht unterschreiten; wer sich um eines der wichtigsten politischen Ämter der westlichen Welt bewirbt, sollte also zumindest über gründliche Kenntnisse in Politik, Geschichte, Zeitgeschichte, Geographie, Naturwissenschaft, Wirtschaft, Kultur verfügen. Das hilft, sich in der Welt zurechtzufinden.
Der Lohn der Mühen
Warum eigentlich nehmen Politiker die Mühe auf sich, akademische Titel zu erschwindeln oder universitäre Laufbahnen zu simulieren? Zunächst einmal hilft es im politischen Betrieb: Knapp 82 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben einen Hochschulabschluss; in der Bevölkerungsgruppe der 25- bis 65-jährigen sind es dagegen nur 22 Prozent. Rund 17 Prozent der Parlamentarier haben einen Doktortitel, und etwas mehr als zwei Prozent sind habilitiert; der größte Anteil der Habilitierten findet sich übrigens in der AfD-Fraktion. Die deutsche Bundeskanzlerin kann neben ihrem echten Doktortitel auf immerhin 17 Ehrendoktorate verweisen. Ihr türkischer Migrationspaktpartner Erdogan indes überbietet sie um ein Vielfaches mit seinen 44 Ehrendoktortiteln. Zweifellos repräsentieren akademische Laufbahnen und Titel also auch in der Politik „symbolisches Kapital“, um es mit dem Soziologen Bourdieu auszudrücken.
Baerbock ist es deshalb, genauso wie Giffey, nicht schwer gefallen, ihre ohnehin nur halbherzig erworbenen und zweifelhaft gebliebenen akademischen Meriten wieder abzustreifen. Sie haben ihren Zweck erfüllt. Für ihr Londoner Ein-Jahres-Studium hat Baerbock eigenen Angaben zufolge rund 11.000 Euro an Studiengebühren bezahlt. Eine lohnende Investition. Denn mit einem Studienabschluss erhöht sich die Chance, sich den profanen Anforderungen des alltäglichen Arbeitslebens entziehen zu können und in irgendeinem parteipolitischen Biotop, etwa als Büroleiterin einer Bundestags- oder Europaparlamentsabgeordneten, Unterschlupf zu finden, wo es nicht so darauf ankommt. Dazu benötigt man aber zumindest ein simuliertes Studium. Dass jemand mit einer abgeschlossenen Ausbildung als Spenglermeister oder Fliesenleger Leiter eines Abgeordnetenbüros geworden sei, hat man jedenfalls noch nicht gehört. Können würden sie es sicher auch.
Aber es reicht nicht. Man muss sich selbst zusätzlich einen Bonus für erfolgreiche Wahlen und eine Corona-Zulage für erschwerte Arbeitsbedingungen während der Pandemie – damit kann eigentlich nur das Maskentragen gemeint sein – genehmigen, in einer Situation, in der ganze Branchen um ihr Überleben kämpfen und Mitarbeiter mit Kurzarbeit Null, also bis zu 40-prozentigen Lohnkürzungen, auskommen müssen.
Im Niemandsland der Anywheres
Baerbock und die ihren sind längst im Land der globalen Eliten, der „Anywheres“, angekommen; im Niemandsland von Menschen, die Deutschland regieren wollen – und es auch schon tun – und die längst jeden Kontakt zur Lebenswirklichkeit derer verloren haben, die sie regieren wollen. Eine kurze 30-Sekunden-Szene aus der NDR-Dokumentation „45 Minuten“ vom 23. November 2020 mit dem Titel „Kurs aufs Kanzleramt? Baerbock und Habeck“ gibt Aufschluss über das Weltbild, das dahinter steckt. Im Doppelinterview mit Habeck erläutert Baerbock die Rollenverteilung: Hier der dröge Parteifreund Robert mit Gummistiefeln und Melkschemel, dort die Globalistin Annalena, die sich selbst bescheinigt, „eher vom Völkerrecht“ – und nicht etwa nur aus Hannover – zu kommen, aber faktenwidrig glaubt und im „WDR Europaforum“ vom 20.05.2021 verkündet, eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union sei die Vereinheitlichung der Steckdosen gewesen.
Wie wird man so?
Aber Baerbock ist Kanzlerkandidatenaspirantin und Habeck nicht. Wie muss ein Bildungssystem aussehen, das diesen Typus hervorbringt, oder, vornehmer ausgedrückt: Wie funktioniert die politische Elitenrekrutierung in dieser Generation?
Die Universitäten in Deutschland und anderen westlichen Ländern haben längst, spätestens seit der Umsetzung des Bologna-Prozesses, die gesellschaftliche Schlüsselstellung verloren, die sie in modernen Zivilisationen zwei Jahrhunderte lang hatten. Wer eine akademische Ausbildung an einer Universität erfahren hatte, musste bestimmte Erwartungen erfüllen: uferlose Wissensbestände, Klarheit des Denkens und Sprechens, theoretische Fundiertheit, Rationalität der Argumentation, die Bereitschaft zur Überwindung von Widerständen und Unlustgefühlen, Neugierde und intellektuelle Redlichkeit hätte man in einem Universitätsstudium gelernt haben sollen – in Kurzform: Klar denken und viel wissen.
Dieser universitären Sozialisation verdankt sich jene generations und milieutypische Mischung aus Ignoranz, Unverfrorenheit und Selbstüberschätzung, die sich bei Politikern wie Medienvertretern zunehmend beobachten lässt. Die Universitäten sind zum Aufwärmbecken für Karrieren in der Politik, in staatsalimentierten NGOs sowie in den Medien geworden. Wer ein Studium absolviert oder wenigstens einmal begonnen hat, wird Vorstellungen und Verhaltensweisen völlig selbstverständlich finden, die in der arbeitenden Bevölkerung nur mit ungläubigem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen werden: dass bei dem Wort „Steuerzahler“ Frauen „nicht mitgemeint“ seien, dass deshalb Nachrichtensprecher und Talkshowmoderatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Universitätsangehörige einen Sprachfehler simulieren müssen; dass in Deutschland „systemischer Rassismus“ herrsche, so dass einem amerikanischen Schwerkriminellen Märtyrerstatus gebühre und Straßen nach ihm benannt werden müssten, während umgekehrt der „Zigeunerbach“ und das „Drei Mohren“-Hotel in Augsburg – in dem sich ohnehin verdächtige Personen wie Friedrich II., Mozart, Thomas Mann, Michail Gorbatschow aufgehalten haben – ihren Namen ändern müssen; dass Staatsgrenzen Teufelswerk und Staatsbürgerschaften ein faschistisches Konzept seien; dass man neben seinem SUV auch ein Elektromobil und ein Lastenrad in der Garage stehen haben müsse, und dass schließlich in Urlaub nur fliegen dürfe, wer Geld genug hat, um einen CO2-Ausgleich zu zahlen. Das sind mentale Milieuschädigungen, die so gut wie ausschließlich an Universitäten erworben werden. Kein Mensch, der sich im Alltag, im Beruf und der Familie, bewähren muss, kann auf solche Gedanken kommen.
Seit dem „Nibelungenlied“ bescheinigt man den Deutschen gerne eine selbstzerstörerische Lust am Untergang. Aber dass sie im September 2021 wirklich einer vor sich in schwadronierenden Berufsanfängerin ins Amt des Bundeskanzlers verhelfen, mag man doch nicht glauben. Die Person Baerbock wird aus dem politischen Gedächtnis der Bundesrepublik verschwinden wie ein Gesicht im Sand am Meeresstrand. Aber der Typus bleibt. Er repräsentiert die Zukunft.
Univ.-Prof. Dr. Peter J. Brenner (*1953) studierte Philosophie, Germanistik, Erziehungswissenschaft und Komparatistik an der Universität Bonn. Nach der Promotion in Bonn 1979 war er wissenschaftlicher Assistent, nach der Habilitation Privatdozent an der Universität Regensburg und Heisenberg-Stipendiat an der Universität Bayreuth. Von 1991 bis 2009 war er Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. 2009 wechselte er an die Technische Universität München, zunächst als Gründungsgeschäftsführer der TUM School of Education; anschließend war er Akademischer Direktor an der Carl von Linde-Akademie der TUM. An der University of North Carolina at Chapel Hill und der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck hat er Gastprofessuren wahrgenommen.
Der Beitrag erschien zuerst im Bildungsblog „Einmal im Monat“ von Peter J. Brenner www.imsw.de