General Waldemar Skrzypczak ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Und deshalb allgegenwärtig in den polnischen Medien. Die Rolle, die ihm seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine zugefallen ist, ist die eines Chefanalytikers der militärischen Operationen des Ukraine-Krieges. Seine Popularität hat nicht nur damit zu tun, dass die Armee in Polen, im Gegensatz zur Bundeswehr in Deutschland, höchstes Ansehen in der Gesellschaft genießt. Sie scheint auch daraus zu resultieren, dass sich Skrzypczaks Lagebeurteilungen und Einschätzungen bislang als recht treffsicher erwiesen haben. Das wiederum könnte auch damit zu tun haben, dass ein alter Kamerad Skrzypczaks „in einem Bunker (des ukrainischen Generalstabes) in Kiew“ sitzt und unseren General mit Erkenntnissen aus erster Hand versorgt.
In seinem gestrigen Interview gegenüber dem polnischen Nachrichtenmagazin wPolityce wagt Skrzypczak aber einen riskanten Schritt. In seiner für deutsche Leser ziemlich kühn anmutenden Voraussage der Ereignisse der nächsten Tage kommt er zu dem Schluss: Die Russen hätten extreme Probleme, die Ukraine sei in der Vorhand und sollte die Bedingungen diktieren. Putin werde kaum etwas anderes übrigbleiben, als um Frieden zu bitten.
Auf den Einwand, verschiedene ernstzunehmende Analysen kämen doch zu dem Ergebnis, dass die Russen, wenn auch langsame Fortschritte in ihrer Offensive machten, reagiert der General verärgert: „Welche Fortschritte denn?“ Diese Analysen würden von Leuten verfasst, die keine Ahnung von Taktik und operativer Kunst hätten. Die Russen hätten die Einnahme des Wasserkraftwerkes von Kaniv am Dnjepr (150 km flussabwärts von Kiew) geplant. Das sei gescheitert. In Nikolajew in der Südukraine seien die Russen geschlagen worden. Demnächst gehe die Ukraine zu Gegenangriffen über. Die Russen müssten gewaltige Kräfte aufbieten, um zweifache Belagerungsringe um die Städte zu legen. Der äußere Ring habe dabei die Aufgabe, die Truppen, die zur Eroberung dieser Städte angetreten seien, vor ukrainischen Gegenschlägen zu schützen. Die Russen seien vielerorts bereits zur Verteidigung übergegangen, weil sie nichts mehr hätten, womit sie angreifen könnten.
Auf den Einwand, die ukrainischen Gegenschläge hätten es noch nicht vermocht, die Russen zurückzuschlagen, antwortet der General: Bei diesen Gegenschlägen gehe es gar nicht darum, die Russen zurückzuschlagen, sondern ihnen solche Verluste beizubringen, dass sie ihre Angriffsfähigkeit verlören. Wenn der ukrainische Generalstab mitteile, dass schon 11.000 russische Soldaten gefallen seien, bedeute das, dass man dieser Zahl das Drei- bis Vierfache an Verwundeten hinzurechnen müsse. Das bedeute, dass bereits ein Viertel der möglicherweise 200.000 Mann russischer Truppen aus dem Gefecht ausgeschieden sei. Womit also angreifen? Die Militärtheorie gehe davon aus, dass eine Einheit, die 40 Prozent ihres Mannschaftsbestandes und ihrer Ausrüstung verloren habe, nur noch eingeschränkt kampffähig sei. Bei 60 Prozent Verlusten sei eine solche Einheit nicht mehr kampffähig und müsse zur Auffrischung aus der Front herausgezogen werden. Wie also sollten die Russen in dieser Lage noch nennenswerte Fortschritte machen?
Auf so einen Vorschlag, so der General, würde er nicht reagieren. Warum denn habe Pjeskow diesen Vorschlag nicht vor drei Tagen gemacht? Ganz einfach deshalb, weil die Russen noch die Hoffnung gehabt hätten, ihre Angriffe könnten zum Erfolg führen. Jetzt stünden sie mit dem Rücken zur Wand und schlügen Friedensgespräche vor. Jetzt könne aber die Ukraine die Bedingungen diktieren, denn sie beginne, den Krieg zu gewinnen. In zwei, drei Tagen zeige sich, „dass die Russen im A… sind“. Und dann noch mit einem kleinen Seitenhieb: „Wenn es sich herausstellt, dass die Ukrainer zur Gegenoffensive übergehen, wissen Sie, was dann passiert? Dann werden die Deutschen und die Franzosen Selenskij bitten, die Russen nicht mehr anzugreifen.“
Aber er hoffe, dass die Ukraine „keine Gnade“ kenne und sich keinen Schritt zurückziehe. Zu viel habe sie der Krieg bereits gekostet, um sich auf die Bedingungen Putins einzulassen. Wenn sich in zwei, drei Tagen tatsächlich herausstelle, dass sich die Ukrainer auf eine Gegenoffensive vorbereiteten, „dann wird man sich in Moskau – verzeihen Sie mir die Soldatensprache – vor Angst in die Hosen sch …“ Skrzypczak ist sich sicher, dass es den Ukrainern gelungen ist, operative Reserven und Gegenangriffskräfte vor ihrer Vernichtung zu bewahren. Damit wäre es möglich, in Richtung Kiew anzugreifen und die russischen Kräfte zu zerschlagen. In diesem Fall wäre der Krieg zu Ende und Putin müsste um Frieden bitten.
Prof. Dr. Berthold Löffler