An deutschsprachigen Hochschulen gibt es (Stand: 2019) insgesamt 217 Professuren mit einer Voll- oder Teildenomination Frauen- und Geschlechterforschung/Gender Studies. Der Themenkomplex rund um das Zwiebelthema Geschlechtergerechtigkeit ist in westlichen Demokratien ein großer Markt, national, EU-weit, weltweit.
Großkonzerne greifen den geschlechtergerechten Zeitgeist nicht zuletzt aus ökonomischen Erwägungen auf. Der Lebensmittelkonzern Edeka bewirbt ein neues Fruchtmischgetränk mit Vielfalts-Bekenntnislyrik. Im Sommer betitelte er sein Gratismagazin 4/22 mit dem Slogan „Diverse Früchtchen“. Im Untertitel hieß es: „Wir lieben es bunt – wie im echten Leben. Machen Sie einfach mit! Denn anders zu sein ist eine Stärke“. Als Identifikationsfigur prangte der EU-Sonderbotschafter für LGBTQI, Riccardo Simonetti, auf dem Titel. Auf seiner Netzseite legt der Edeka-Konzern seinen Kunden nahe, sie könnten durch den Konsum des Fruchtgetränks „ein Zeichen für Gleichberechtigung setzten!“
Der Henkel-Konzern wagt sich in Sachen Geschlechtergerechtigkeit noch weiter vor. Er will bis 2025 Geschlechterparität erreicht haben. Für die Umsetzung soll unter anderem das Aktionsprogramm mit dem göttlichkeitsverdächtigen Akronym DEI sorgen, was für Diversity, Equity, Inclusion steht – zu Deutsch: Vielfalt, Gerechtigkeit, Inklusion. Sind auch die Begriffe selbst nicht totalitär, so doch ihr Geist und ihre Wirkung.
Die Urform des Genderns findet sich in dem von der Deutschen Unesco-Kommission 1993 herausgegebenen Dokument „Eine Sprache für beide Geschlechter, Richtlinien für einen nicht-sexistischen Sprachgebrauch“. Hier werden die Dopplungen von männlichen und weiblichen Formen nach amerikanischem Vorbild als „Splitting“ bezeichnet – zu Deutsch: Spaltung. Viele Jahre später wird der Erfolg dieser zigfach wiederholten Sprachhandlung schmerzlich spürbar. Die Transformation der von oben induzierten Aufspaltung von Begriffen und Wörtern in eine gesamtgesellschaftliche (Geschlechter-)Spaltung hat etwa ein halbes Jahrhundert gedauert. Jetzt ist sie breite soziale Wirklichkeit geworden.
Während also von oben offensiv gegendert, quotiert, manipuliert und auf ‚Teufelin‘ komm raus taktiert wird, werden hinter den Kulissen die Infrastrukturen unserer Demokratie umgebaut, umso mehr, seit die Grünen, „[d]as politische Substrat der Protestkonjunkturen“ (van Hüllen) an der Regierung beteiligt sind.
Gendersprache in der Bildung
Als Leiter der AG Gendersprache im Verein deutsche Sprache (VDS e. V.) erreichen mich viele Zuschriften besorgter Eltern, die diesen gesellschaftlichen Umbau anhand von gegendertem Unterrichtsmaterial ihrer schulpflichtigen Kinder hautnah erleben. Die deutsche Sprache wird an Schulen nicht mehr durchgängig nach geltendem Verständnis und geltenden Regeln gelehrt, sondern nach dem politischen Willen von Genderfunktionären. Wir, die wir uns täglich schriftlich an Verwaltungen, Behörden, Medien usw. wenden, um sie wissen zu lassen, aus welchen guten Gründen wir die erzwungene Gendersprache ablehnen, und dass wir von ihnen in der anerkannten Standardsprache angesprochen werden möchten, wir finden überwiegend keine Dialogbereitschaft vor. Man schickt Genderkritiker schlichtweg von Pontius zu Pilatus.
An einer Berliner Schule gendert eine „als Lehrer getarnte Aktivistin“ (O-Ton einer Mutter) munter weiter und teilt sprachlich falsches Unterrichtsmaterial aus, obwohl in der Fachkonferenz Deutsch der betreffenden Schule beschlossen worden war, dass Gendersprache dort nicht gelehrt werden darf. Ein Referendar andernorts führte als letzte Arbeitsprobe vor der Übernahme in den Schuldienst ein Projekt durch, in dem er Heteronormativität als Problem und die „Dekonstruktion von Geschlecht und Identität“ sowie die „Überwindung von Geschlechternormen“ als Lösungsvorschlag anbot (das Dokument liegt mir vor). Er wolle den Schülern mit seinem Projekt Orientierung bieten. Die 8. bis 10. Klasse (Alter 14 bis 16) seien Jahre der Identitätsentwicklung, und die herrschenden Normen seien kritisch zu betrachten bzw. zu überwinden. Er behauptet in dem Dokument, „Jede*r fünfte Berliner*in ist queer“ und passe nicht in das „heteronormative System“. Die „Dekonstruktion von Normen“ könne jedoch helfen, „Diskriminierung in vielen Bereichen abzubauen“, und sie sei für die Schüler: „Euer Werkzeug gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Ableismus, etc.“.
Desweiteren führt er in dem Dokument aus: „Schüler*innen leiden zum Teil schwer unter einem System, in das sie nicht passen. Die Selbstmordrate queerer Jugendlicher ist 7x höher als die ihrer heteronormativen Freund*innen“, und es gehöre zu seiner pädagogischen Verantwortung, durch seinen Unterricht Orientierung und Unterstützung anzubieten.
Die Auflistung des Lehrers umfasst beinahe alle Ungerechtigkeiten dieser Welt, denen heutige feministische bis woke Aktivisten den Kampf angesagt haben, und man könnte den Eindruck gewinnen, als handle es sich hier um einen Gerechtigkeitskampf von unten. Dem widerspricht allerdings, dass die moralisch hochaufgeladenen Forderungen nach Diversität, Inklusion und sexueller Offenheit („Leben und Lieben lassen“) von Ministerien und Verwaltungen selbst, also von oben, massiv vorangetrieben werden und einem so geneigten Lehrer erst die Möglichkeit bieten, seinen „verqueeren“ Unterricht durchzuführen. Das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) stellt eigens Bildungsmaterial speziell für Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit zur Verfügung, um „Regenbogenkompetenz“ zu vermitteln, und es widmet seiner Identitätspolitik zugunsten der „LGBTQIA*-Community“ ein eigenes Programm: „Vielfalt leben beginnt bei dir“. Will er den Adlern das Fliegen beibringen? Für die Bürger ist diese Art politischen Handelns eine tägliche Zumutung und eines demokratischen Staatswesens sowieso unwürdig. Der Sänger und Texter Peter Hein von den Fehlfarben verdichtete das Vielfaltsthema unlängst ganz nebenbei in einem Interview auf die eindrückliche Formel: „Du kannst dir 27 Geschlechter aussuchen, aber verarscht wirst du trotzdem“.
Neusprech
Der Duden, der bisher als deutsches Standardwerk galt, betätigt sich als Propagandist des entfesselten konstruktivistischen Zeitgeistes, wenn er das generische Maskulinum eliminiert, indem er behauptet, ein Mieter sei eine „männliche Person, die etwas gemietet hat“. Ebenso das Cambridge Dictionary, das die genderqueere Erklärung für den Begriff Frau einfach übernimmt: „Ein Erwachsener, der sich als weiblich definiert und so lebt, obwohl ihr bei der Geburt ein anderes Geschlecht zugewiesen worden sein mag.“
Unzählige gleich- oder ähnlich lautende Leitfäden zu gendergerechtem und gendersensiblem Sprachgebrauch kursieren. Sie sollen den von Transsexualität nicht betroffenen und von der Queer-Theorie unbeleckten Bürgern, also der Mehrheit der deutschen Sprachgemeinschaft, Orientierung in „diskriminierungsfreier Kommunikation“ (ZDF) bieten. Das Wort Muttermilch gilt in der Queer-Sprache als diskriminierend, es soll fortan „Milch vom Menschen“ heißen, um die Gefühle von Transsexuellen zu schonen. Filmemacher werden per Quotenregelungen und Diversity Standards darauf verpflichtet, die gesellschaftliche Vielfalt widerzuspiegeln, Geschlechterparität könnte Zulassungsvoraussetzung für Wahllisten werden, und das neue Selbstbestimmungsgesetz soll Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft ermöglichen.
„Gendersprache“ hat in keiner der bürgerlichen Parteien eine tragfähige Mehrheit, nicht mal bei den Wählern der Grünen. Laut Infratest Dimap sind bei den Grünen-Wählern 48 Prozent gegen „Gendersprache“, bei denen der SPD 57 Prozent, bei Unionswählern 68 Prozent, bei den Linken 72 Prozent, in der FDP 77 Prozent und in der AfD 83 Prozent. Warum sie sich vor diesem Hintergrund in der offiziellen öffentlichen Kommunikation so beharrlich hält, und warum politisches Handeln diese mehrheitliche Ablehnung von Gendersprache, die alle Parteien zusammengenommen in seltener Einigkeit heimlich hegen, nicht widerspiegelt, darüber lässt sich nur spekulieren.
Es wäre ein schwacher demokratischer Staat, der einer radikalen ideologisch verblendeten Minderheit erlaubte, dem Volk durch Einschüchterung, Drohungen, Ignoranz, Totschweigen, Beleidigtsein usw. eine von Ideologen künstlich konstruierte Sprache aufzudrängen, die nachweislich niemand will. Deshalb liegt für mich die Überlegung näher, dass der Staat selber mithilfe von Sprache als Propagandainstrument seinen Macht- und Regulierungsanspruch ausdehnen möchte.
Den Gesslerhut grüßen
In dem Drama „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller, das erstmals 1804 am Weimarer Hoftheater aufgeführt wurde (im selben Jahr übrigens, als Napoleon sich selbst zum Kaiser Frankreichs krönte und die Weltbevölkerung zum ersten Mal eine Milliarde erreichte), stellt der Landvogt Herrmann Gessler (ein machthungriger habsburgischer Staatsbeamter) einen Hut auf, den seine Untertanen grüßen sollen. Wilhelm Tell verweigert den Gruß, was der tyrannische Landvogt als Hochverrat ansieht, und so zwingt er Tell, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen, der andernfalls mit ihm sterben müsse.
Die Geschichte von Wilhelm Tell bietet alle Zutaten einer prototypischen Geschichte. Mit dem Protagonisten kann man sich leicht identifizieren, sein Konflikt, seine Hindernisse und Komplikationen sind klassisch, man kennt sie schon vom Schulhof und in Deutschland aus zwei totalitären Systemen in West und Ost. Das Aufstellen des Hutes ist ein territorialer Akt, eine sprichwörtliche Landnahme, und die Forderung, das willkürlich in den öffentlichen Raum gestellte Objekt zu grüßen, ist ein noch uneingelöster Herrschaftsanspruch, an dem sich augenblicklich die Wege der Freigeister und der Folgsamen scheiden.
Einen Hut als Objekt der Ehrerbietung aufzustellen, ist eine absurde Anmaßung, die ihren Zweck unmittelbar offenbart: Machtdemonstration und Erzwingung von Untertänigkeit. Wer der Aufforderung eines Tyrannen Folge leistet, unterwirft sich im selben Moment. Wer sich weigert (solange er noch kann), nimmt gezwungenermaßen den Fehdehandschuh auf. Wer informiert (oder deformiert) wen? Was sich vor dem Gewaltakt von selbst verstand (implizit), nämlich die freie Bewegung im öffentlichen Raum, ist durch den Gewaltakt ausdrücklich (explizit) zunichte gemacht!
Die Durchsetzung der Gendersprache hat alle Funktionen des Gesslerhuts. Sie setzt die lebendige demokratische Streitkultur außer Kraft und macht Verständigung ebenso unmöglich wie das Stiften von Gemeinschaft durch Sprache, weil sie die Grundfunktionen der Sprache selbst außer Kraft setzt, die normalerweise in der freien Rede münden.
Man braucht sich nur vorstellen, Politik, Verwaltungen, ja alle Treiber des Gendertheaters würden von jetzt auf gleich mit ihrer Sprachtyrannei aufhören, und sie alle kehrten zur Standardsprache zurück, wie sie mehrheitlich von der deutschen Sprachgemeinschaft gesprochen, geschrieben und verstanden wird. Dann wäre der Lärm um nichts, der vor allem aus der Skandalisierung von Meinungen resultiert, die nicht mit der von den aktuellen Meinungslenkern übereinstimmen, einfach abgeschaltet wie eine schmerzhaft übersteuerte Lautsprecheranlage. Das Thema Gendersprache wäre vom Tisch, und Staatslenker könnten sich den wirklich dringenden Aufgaben der Staatsführung zuwenden.
Aber darauf dürfen wir nicht warten, denn Freiheit wird einem bekanntermaßen nicht gegeben, so auch nicht die Freiheit von der Gendertyrannei. Man muss sich die Freiheit schon nehmen, und man muss die Zumutung auf sich nehmen, in der kurzen Zeitspanne eines menschlichen Lebens „Nein!“ zu sagen.
Lesen Sie hier „Der neue Gesslerhut (Teil 1): Gendersprache – Die Ablehnung wächst“
Die Unterschriftensammlung der Hamburger Volksinitiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ hat Anfang Februar begonnen.
Sabine Mertens ist Kunsttherapeut und Coach in eigener Praxis in Hamburg. Sie ist Autor von Fachbüchern (Beltz) und Texten zum Genderthema und leitet die AG Gendersprache im Verein deutsche Sprache (VDS e.V.), dessen Bundesvorstand sie angehört. Mehr von Sabine Mertens lesen sie in dem aktuellen Buch „Cancel Culture und Meinungsfreiheit: Über Zensur und Selbstzensur“.