Tichys Einblick
Ein Appell trotz alledem

Gemeinsam den Dritten Weltkrieg verhindern!

Dieser Generation ist quasi über Nacht die Verpflichtung erwachsen, nicht nur die nukleare Selbstvernichtung, sondern auch ein europäisches Vietnam zu verhindern. Das kann nur gelingen, wenn wir die Demonstration von Wehrhaftigkeit in Einklang bringen mit einer Abrüstung in unseren Köpfen und in unseren Herzen. Von Lothar Krimmel

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht.
Der Lachende

Hat die furchtbare Nachricht

Nur noch nicht empfangen.

Ja, wir leben quasi über Nacht wieder in finsteren Zeiten. Und ja, wir sind von den Zeitzeugen einer historischen Pandemie nahtlos zu den Zeitzeugen eines historischen Angriffskriegs geworden. Es ist fast so, als sollten sich die Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie ein Déjà-vu im 21. Jahrhundert wiederholen. Nur dass wir es heute mit dem Angriffskrieg einer militärisch faktisch unbesiegbaren Großmacht gegen einen hoffnungslos unterlegenen Staat zu tun haben.

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Der australische Historiker Christopher Clark hat in seinem 2012 erschienen Werk „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ eine bestechende multilaterale Analyse der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Sein Fazit: Es gab neben den Hauptverantwortlichen auch andere Nationen, die schlafwandlerisch in die Katastrophe marschierten.

Auch heute müssen alle europäischen Nationen darauf bedacht sein, sich nicht erneut wie „Schlafwandler“ auf eine Katastrophe zutreiben zu lassen. Deswegen dürfen wir selbst jetzt nicht alle Brücken zu Russland abreißen. Potenzielle Vermittler wie der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett müssen ihre Glaubwürdigkeit bei beiden Kriegsparteien behalten dürfen.

Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs

Und ich empörte mich mit ihnen.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Alle Erfahrungen der Vergangenheit deuten darauf hin, dass auch die härtesten Wirtschaftssanktionen den Aggressor nicht zum Einlenken bringen werden. Bei maximaler Schärfe bewegen sich solche Sanktionen zudem in der Nähe kriegerischer Handlungen, wie es der französische Finanzminister Bruno Le Maire vor wenigen Tagen bei seinem Bild vom „umfassenden Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland“ ausgedrückt hatte.

Zuletzt haben auch deutsche Politiker und Zeitungsverleger „wehrhaft“ mit „wahnsinnig“ verwechselt und eine direkte militärische Intervention der Nato in der Ukraine ins Spiel gebracht. So sehr wir uns solidarisch fühlen mit den ukrainischen Verteidigern: Die Grenze der Unterstützung ist dort erreicht, wo sie uns alle, auch die Ukraine, in die nukleare Selbstvernichtung hineinziehen würde.

Was ansonsten bleibt, ist die Hoffnung auf die Zeit nach Putin. Aber das kann noch einige Jahre dauern. Denn anders als viele im Westen ersehnen, ist eine interne Revolte gegenüber Putin gerade inmitten einer kriegerischen Auseinandersetzung unwahrscheinlich. Und wenn es tatsächlich dazu käme, so dürfte der Moment des Umsturzes der gefährlichste Moment der Weltgeschichte sein. Niemals zuvor sollte ein Diktator beseitigt werden, der in der Lage war, die gesamte Welt zu vernichten.

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut

In der wir untergegangen sind

Gedenkt

Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht

Auch der finsteren Zeit

Der ihr entronnen seid.

Neun der zehn größten Städte liegen im Osten und Süden der Ukraine. Sie werden bereits in wenigen Wochen umstellt und vom Westteil abgeschnitten sein. Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist der weitere Ablauf vorgezeichnet.

Täglich werden jetzt mehr Menschen, mehr Seelen und mehr Städte in der Ukraine sterben. Der heldenhafte Kampf des ukrainischen Volkes ist schon heute fester Bestandteil der Weltgeschichte. Und doch ist es unerträglich, dass sich vor unser aller Augen mitten in Europa in den nächsten Jahren die Tragödie eines zweiten Vietnam abspielen wird.

Die zynische Regel des Krieges ist bekannt: Wer zuerst „Frieden“ ruft, hat verloren!
Dass sich die beiden Konfliktparteien an diese mörderische Kriegs-Omertà halten, ist verständlich. Und die mit der Ukraine befreundeten Staaten wollen den Verteidigern nicht mit Friedensaufrufen in den Rücken fallen, auch wenn sie damit zu machtlosen Zuschauern eines gigantischen Opfergangs verdammt bleiben.

Aber was ist mit den internationalen Institutionen? Wo sind die Kirchenoberhäupter Europas, die doch eigentlich gerade in solchen Situationen den mörderischen Stillstand aufbrechen müssten? Will wirklich niemand den ersten Schritt wagen und von beiden Seiten den sofortigen Waffenstillstand mit anschließender internationaler Ukraine-Friedenskonferenz fordern? Und hat der Uno-Generalsekretär in seinem Terminkalender heute noch etwas Zeit für den Weltfrieden?

Dieser Generation ist quasi über Nacht die Verpflichtung erwachsen, nicht nur die nukleare Selbstvernichtung, sondern auch ein europäisches Vietnam zu verhindern. Das kann nur gelingen, wenn wir die Demonstration von Wehrhaftigkeit in Einklang bringen mit einer Abrüstung in unseren Köpfen und in unseren Herzen.

Dabei wissen wir doch:

Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.

Das Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht wurde wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht. Was hat es bewirkt? Wohl zu wenig. Denn schon wieder stehen wir am Vorabend eines Weltkriegs.

Wir wissen doch:
All die Zehntausende von Toten,
die dieser Krieg noch bringen wird,
all die Hunderttausende,
die überall auf der Welt verrückt werden
durch die Bilder des Informationskrieges,
und all die Millionen von Kindern,
die nicht mehr einschlafen,
weil sie in den Augen ihrer Mütter und Väter
die Angst lesen können,
die Angst
vor dem letzten aller Kriege,
all die
sind auch Opfer
unserer Erregung,
unseres Starrsinns,
unserer Feindschaft,
unseres Hasses.

Warum um alles in der Welt lassen wir
unsere Volksvertreter,
unsere Zeitungen,
unsere Nachbarn
und auch uns selbst
damit durchkommen?

Für den Frieden
sind wir erst bereit,
wenn wir auf den Demonstrationen
gegen den Krieg
nur noch Schilder
mit einer einzigen Aufschrift zeigen:

Stoppt das Sterben!
Stoppt das Töten!
Stoppt den Krieg!
Verhandelt!
Jetzt!

Ihr aber, wenn es so weit sein wird

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

Gedenkt unserer

Mit Nachsicht.


Lothar Krimmel

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