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Funken am Sonntag, Fallschirmjäger am Freitag: Hintergründe und Fakten zur Krise in Kasachstan

Die Meldungen aus dem zentralasiatischen Kasachstan überschlagen sich, seitdem Massenproteste gegen die Regierung das Land erfasst haben und russische Truppen auf Bitten von Präsident Tokajew zur Unterstützung eingeflogen wurden. Von Henning Saßenrath

Proteste in Almaty, Kasachstan, am 5. Januar 2022.

IMAGO / ITAR-TASS

Noch befinden sich die Entwicklungen im Fluss und Berichte aus Kasachstan sind teils widersprüchlich, oft lückenhaft und häufig nicht verlässlich nachprüfbar. Der Grund dafür sind vom Staat veranlasste Störungen des Internets und Nachrichtensperren; die meisten Fluggesellschaften haben ihre Verbindungen ins Land ausgesetzt. Die Quelle der meisten Nachrichten – auch von Oppositionskanälen auf Telegram – sind russische Agenturmeldungen von RIA, TASS und Sputnik oder staatliche Stellen.

Folgendes ist bisher bekannt: Nach der Preisverdopplung für Flüssiggas zu Beginn des Jahres kommt es am Sonntag zu Protesten in der westlichen Mangghystau-Region. Mangghystau am Kaspischen Meer ist ein Zentrum der Erdöl- und Erdgasförderung, das Flüssiggas dient vielen Autos im Land als Treibstoff. Die Inflationsrate liegt seit Juni letzten Jahres über acht Prozent und viele Güter des täglichen Bedarfs haben sich empfindlich verteuert. Der Unmut über mangelnde Beteiligung am produzierten Reichtum hat schon früher zu Protesten in der ärmeren Region geführt.

Kasachstan ist der neuntgrößte Staat der Erde: Beginnend hinter dem russischen Wolgograd reicht es im Osten bis nach China und zählt dabei wenig mehr Einwohner als Nordrhein-Westfalen. Die Entfernungen im dünnbesiedelten Land galten bisher als größtes Hindernis für landesweite Proteste. Soziale Medien (und besonders Telegram) ermöglichten es dieses Mal jedoch, dass die Demonstrationen auf die 2.000 Kilometer entfernte alte Hauptstadt Almaty im Südosten und viele weitere Städte übersprangen.

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Die Geschwindigkeit, mit der die Auseinandersetzungen in Gewalt umschlugen, hat die meisten Beobachter überrascht: Die Armee setzte scharfe Munition ein, nach offiziellen Angaben kamen 26 Demonstranten und 18 Sicherheitskräfte ums Leben. Das Innenministerium meldete am 6. Januar allein für Almaty 2.300 Festnahmen. Gesichert ist, dass auch von den Protesten Gewalt ausging und Waffen erbeutet wurden. Die genauen Umstände und das Ausmaß der Feuergefechte sind zur Zeit noch unklar, die öffentlichen Polizeimeldungen lesen sich wie Frontberichte.

Es wird übereinstimmend von Augenzeugen berichtet, dass in kurzer Zeit viele gewaltbereite junge Männer zu den zuvor friedlichen Demonstrationen gestoßen sind. Zu der Frage, um wen es sich dabei handelt, gibt es drei Versionen: Der offiziellen Version zufolge sind ausländische Hintermänner verantwortlich; zunächst wurden Verbindungen zum Islamismus hergestellt. Für staatsnahe russische Medien bedrohen westliche Geheimdienste Russlands Südflanke vor den Nato-Verhandlungen über die Ukraine.

Für die Opposition sind es staatlich bezahlte Provokateure, die geschickt wurden, um die Proteste zu diskreditieren und ein Eingreifen der Armee zu begründen. Schließlich könnte es sich bei den Plünderern auch um Bandenmitglieder des organisierten Verbrechens handeln, deren Geschäfte durch die Corona-Pandemie empfindlich gestört wurden. Unterweltfiguren wie Jumageldiew werden allerdings auch Kontakte zum Inlandsgeheimdienst KNB nachgesagt.

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Worin liegt die Ursache für die rasche Ausbreitung der Proteste? Zuweilen wird der sogenannte „Youth Bulge“ zur Erklärung herangezogen, der beim Arabischen Frühling 2011 eine wichtige Rolle spielte: Ein hoher Anteil 15-24jähriger Männer, so die These von Gary Fuller, trägt zur Gewalttätigkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen bei. Wie der Soziologe Volodymyr Ishchenko zeigt, verhält es sich in Kasachstan anders: So ist das Medianalter mit 32 Jahren zwar niedriger als in Russland, Belarus oder der Ukraine (dort beträgt es 40-41 Jahre), doch liegt der Überschuss aufgrund des starken Geburtenrückgangs in den 1990ern ausschließlich bei den Unter-14jährigen.

Die enorme Korruption der Machtelite ist, verbunden mit wirtschaftlicher Stagnation und dem Ausbleiben von erhofften demokratischen Reformen nach dem Protesten 2019, die naheliegendere strukturelle Ursache der Proteste. Die Unruhen vor drei Jahren führten dazu, dass Nursultan Nasarbajew, der „ewige Herrscher“ des Landes, die Präsidentschaft im März 2019 an den derzeitigen Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew übergab. Der Amtsantritt des heute 61jährigen früheren Diplomaten Tokajews war mit Hoffnungen auf Reformen verknüpft, die sich nicht erfüllen sollten.

Der 81jährige Nasarbajew, der vor seiner 28jährigen Präsidentschaft bereits in der Sowjetunion der starke Mann in Kasachstan war, bekam den Ehrentitel „Führer der Nation“ und den Vorsitz im Sicherheitsrat. Dieses Machtübergabe-Modell wurde immer wieder als mögliches Vorbild für einen Ausstieg aus der Politik von Präsident Putin in Russland ins Spiel gebracht. Spätestens nach dem Schleifen einer Nasarbajew-Statue am 5. Januar durch eine aufgebrachte Menge in Almaty dürfte Putin diese Möglichkeit verworfen haben.

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1.000 Kilometer nördlich von Almaty, in der Hauptstadt Nur-Sultan (2019 umbenannt zu Ehren von Nursultan Nasarbajew, zuvor Astana) stürzte am 5. Januar derweil die Regierung: Präsident Tokajew entließ sein Kabinett – in dem autoritären Präsidialsystem vor allem eine symbolische Geste. Bedeutender waren zwei andere Personalien: Tokajew übernahm von Nasarbajew den Vorsitz über den Sicherheitsrat, der unter anderem die Geheimdienste kontrolliert, und machte den früheren Chef seiner Leibwache Yermek Sagimbayev zum neuen Chef des Inlandsgeheimdienstes KNB.

Die Handlungen Tokajews in den letzten Tagen und den vergangenen Wochen lassen es möglich erscheinen, dass es Spannungen innerhalb der Elite und zwischen ihm und Nasarbajew gibt. Dazu mag auch beigetragen haben, dass die Demonstranten zunächst „Shal ket“ (Nieder mit dem alten Mann) skandierten – für Marie Dumoulin vom ECFR-Thinktank ein Anzeichen, dass Tokajew noch als Übergangsfigur gesehen wird. Gegen die These, dass Tokajew sich des Übervaters entledigen wollte spricht das hohe Alter von Nasarbajew und seine mutmaßliche Krankheit.

Die Krise in Kasachstan gewann eine neue Dimension, als Präsident Tokajew die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) um Hilfe bat. ODKB-Mitglieder sind neben Kasachstan Russland, Belarus, Armenien, sowie die Anrainerstaaten Kirgisistan und Tadschikistan. Damit der Bündnisfall eintreten konnte, war es notwendig, dass es sich um eine ausländische Bedrohung handelt.

Die Bitte um Militärhilfe aus dem Ausland und ihre prompte Bewilligung kamen überraschend: Es ist das erste Mal seit der Gründung 1992, dass die Organisation aktiv wird. Es entbehrte nicht einer gewissen Tragik, dass es ausgerechnet der armenische Präsident Nikol Pashinyan war, der als turnusmäßiger Vorsitzender die Entscheidung verkündete: Nicht nur war er selbst als Führer einer Protestbewegung an die Macht gekommen; er hatte sich im Krieg mit Aserbaidschan auch zweimal selbst erfolglos um Hilfe der ODKB bemüht.

Auch bei den Protesten in Kirgisistan 2020 war die Organisation – und das bedeutet in erster Linie Russland – nicht aktiv geworden. Die jetzige Zusage und die Art der Hilfe lassen einige Fragen offen: Russland entsendet 2.500 Fallschirmjäger (deren Zahl nach Informationen der Zeitung Vedomosti perspektivisch auf 5.000 erhöht werden kann), die anderen Staaten symbolische kleine Kontingente.

Die Entsendung russischer Kräfte wurde dadurch behindert, dass die eigentlich vorgesehenen Kräfte des zentralen Militärdistrikts an der Ukraine-Grenze stehen und die für Friedensmissionen ausgebildeten Einheiten im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet gebunden sind. Die Anzahl der eingeflogenen Truppen erlaubt lediglich die Sicherung von strategisch wichtiger Infrastruktur – besonders des Weltraumbahnhofs Baikonur Kosmodrom. Es stellt sich allerdings die Frage, weshalb die kasachischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage waren, selbst diese Punkte zu sichern.

Es liegt der Schluss nahe, dass die russischen Soldaten vor allem ein Signal an die kasachischen Sicherheitskräfte selbst sind, um Desertionen abzuwenden und zu zeigen, dass die Regierung die Unterstützung Moskaus besitzt. Für die Politologin Tatiana Stanovaya gilt das vorrangige Interesse Moskaus der Stabilität und Zuverlässigkeit des südlichen Nachbarn, mit dem es eine 7.000 Kilometer lange Grenze teilt.

Der potenzielle strategische Nutzen der Mission für Russland ist offenkundig: Durch die Waffenhilfe wird es möglich, ein Land fest an sich zu binden, dessen Herrscher zuvor viel an strategischer Souveränität lag. Das rasche Vorgehen bekräftigt außerdem die Rolle als regionaler Hegemon etwa gegenüber China und könnte dazu führen, dass Kasachstan gemeinsamen Exportzöllen innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion gegenüber China zustimmt, was es zuvor verweigerte.

China, das in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit mit Kasachstan verbunden ist, reagierte bisher zurückhaltend: Für den Sprecher des Außenministeriums handelt es sich um eine innere Angelegenheit Kasachstans. Die Bauprojekte und Investitionsstandorte Chinas sind sehr weit von größeren Städten entfernt, sodass sie nicht gefährdet scheinen.

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Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Vorteile die erheblichen Risiken aufwiegen, die Moskau mit der Entsendung von Soldaten eingeht: Abhängig von der weiteren Entwicklung besteht die Gefahr, dass russische Soldaten Gewalt gegen eine bisher russlandfreundliche Bevölkerung einsetzen werden. Mittelfristig droht in diesem Falle die Entfremdung eines wichtigen Verbündeten und das Etikett der „Schutzmacht für Diktatoren“, worauf Maxim Suchkov von MGIMO, der Universität des russischen Außenministeriums hinweist.

Sollten die russischen Soldaten als Besatzungsmacht wahrgenommen werden, könnten auch ethnische Konflikte zurückkehren: Infolge von Zwangsansiedlungen waren 1989 38 Prozent der Bevölkerung Kasachstans Russen, beinahe ebenso viele wie Kasachen. In den von Staatszerfall gekennzeichneten 1990ern kam es zu Auswanderungswellen, besonders in die neu gegründete Russische Föderation. Drei der damals 16,5 Millionen Einwohner verließen das Land.

Heute leben in Kasachstan 18,8 Millionen Menschen, zwei Drittel davon sind Kasachen. Der Anteil der Russen ist seit 1989 auf etwa 20 Prozent zurückgegangen; aufgrund der niedrigeren Geburtenrate wird sich dieser Trend voraussichtlich fortsetzen. Doch in den Steppen im Norden, wo der Weizen angebaut wird, gibt es noch etliche mehrheitlich-russische Städte in Grenznähe zu Russland. Wenn nun russische Soldaten aktiv in die Geschehnisse in Kasachstan eingreifen, besteht für die russischen Kasachen die Gefahr, als Angehörige der Besatzungsmacht angefeindet zu werden.

2010 lehnte der damalige russische Präsident Medwedew ein Eingreifen der ODKB in Kasachstan ab, als ethnische Auseinandersetzungen zwischen Kirgisen und Usbeken 2.000 Tote forderten. Er verhinderte so, dass Russland in einen äußerst komplexen Konflikt involviert wurde. Es bleibt abzuwarten, wie lange Russlands „Friedensmission“ in Kasachstan andauern wird.


Henning Saßenrath ist Doktorand an der Universität Würzburg. In seiner Dissertation untersucht er politische Ordnungskategorien in der neueren Geschichte Russlands. Seine Masterarbeit verfasste er zum Einfluss von philosophischen, ökonomischen, politischen Denkern und Ideen auf russische Nachwuchsführungskräfte. Im Rahmen seines Studiums beschäftigte er sich mit russischer Außenpolitik.

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