Tichys Einblick
Großbritannien

Wie Multikulturalismus Hass schürt

Die elitäre Multikulti-Ideologie kultiviert ethnische Spannungen und heizt sie an. Das Gefühl für nationale Zusammengehörigkeit bleibt dabei auf der Strecke. Von Frank Furedi

London, 14. Oktober 2023

IMAGO

In einer Rede in Washington erklärte die inzwischen aus ihrem Amt gedrängte britische Innenministerin Suella Braverman im September, dass der Multikulturalismus „in Europa gescheitert“ sei. Zur Veranschaulichung ihres Standpunkts verwies sie auf die zahlreichen gewalttätigen Zusammenstöße zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, die auf den Straßen von Malmö, Paris, Brüssel und Leicester ausgebrochen sind. Hätte Braverman ihre Rede einige Wochen später gehalten, hätte sie zweifellos auch auf die von Islamisten dominierten Anti-Israel-Proteste hingewiesen, die nach dem Pogrom der Hamas in Südisrael am 7. Oktober Woche für Woche die europäischen Hauptstädte erobern. Entsprechende Äußerungen haben sie im November letztlich ihr Amt gekostet.

Ihr zufolge hat die multikulturelle Politik diese Zersplitterung der Gesellschaft in oft sogar antagonistische Identitätsgruppen gefördert. „Der Multikulturalismus verlangt von den Neuankömmlingen nicht, sich zu integrieren“, führte sie aus. „Er ist gescheitert, weil er es Menschen ermöglicht hat, in unsere Gesellschaft zu kommen und in ihr ein paralleles Leben zu führen.“ Sie fügte hinzu, dass in einigen extremen Fällen bestimmte Gruppen von Menschen „ein Leben führen können, das darauf abzielt, die Stabilität zu untergraben und die Sicherheit der Gesellschaft zu bedrohen“.

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Für unsere kulturellen und politischen Eliten ist die Kritik am Multikulturalismus heute gleichbedeutend mit Ketzerei. Vorhersehbarerweise wurde Braverman schnell als Rassistin gebrandmarkt und ihre Rede als Bedrohung für Migrantengemeinschaften hingestellt. Ein Kommentator ging sogar so weit zu behaupten, dass „Bravermans gefährliche Rhetorik die Schüler [mit Migrationshintergrund] in britischen Schulen gefährdet“.

Selbst führende Mitglieder ihrer eigenen Konservativen Partei haben sich von ihrer Rede distanziert. Bravermans Chef, Premierminister Rishi Sunak, antwortete auf die Frage eines Journalisten nach Bravermans Ansichten, indem er Großbritanniens „fantastische multikulturelle Demokratie“ lobte. Sunak behauptete dann in einer Erwiderung auf Braverman, dass „wir eine unglaubliche Arbeit bei der Integration von Menschen in die Gesellschaft geleistet haben“.

Wie wir unlängst gesehen haben, nachdem Braverman die Polizei aufgefordert hatte, den für den 11. November geplanten pro-palästinensischen Marsch zu verbieten, sorgt sie natürlich häufig für Kontroversen. Jede ihrer Äußerungen, fast unabhängig von ihrem Inhalt, scheint Anlass für links-liberales Gezeter zu sein. Doch die Reaktion auf ihre Kritik am Multikulturalismus war völlig verfehlt. Es scheint, dass jeder, der die Aufmerksamkeit auf die Fehler des Multikulturalismus lenkt, die Feindseligkeit der Großkopferten hervorruft – und der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus bezichtigt wird.

Multikulti gescheitert?

Das war nicht immer so. In der jüngeren Vergangenheit wurde das Scheitern des Multikulturalismus von führenden Politikern bei zahlreichen Gelegenheiten thematisiert. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel – eine begeisterte Befürworterin der Massenmigration – erklärte im Oktober 2010, dass der deutsche Multikulturalismus „völlig gescheitert“ sei. Ihre Kritik wurde im Februar 2011 vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und dem britischen Premierminister David Cameron aufgegriffen. Letzterer bezeichnete den „Staats-Multikulturalismus“ als eine der Ursachen des Terrorismus.

Camerons Erklärung war im Vergleich zu Bravermans Rede sicherlich milder im Ton. Aber der Inhalt war auffallend ähnlich. Er sagte, dass die „Doktrin des staatlichen Multikulturalismus“ Menschen unterschiedlicher Kulturen dazu ermutigt habe, ein getrenntes Leben zu führen, und dass „ihr nicht gelungen [sei], ihnen eine Vision von der Gesellschaft zu vermitteln, der sie sich zugehörig fühlen wollen“. Infolgedessen, so Cameron, „haben wir es sogar geduldet, dass diese segregierten Gemeinschaften sich in einer Weise verhalten, die unseren Werten zuwiderläuft“. Als Reaktion auf das Scheitern des staatlichen Multikulturalismus forderte Cameron die Herausbildung einer stärkeren nationalen Identität, die „verhindern kann, dass sich Menschen allen Arten von Extremismus zuwenden“.

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Damals reagierte Cameron auf die zunehmende islamistische Radikalisierung innerhalb der europäischen Gesellschaften nach dem Anschlag von Al-Qaida auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001. Vor einem Jahrzehnt war die Kritik am Multikulturalismus noch akzeptierter, weil die Bedrohung durch den globalen Dschihadismus den europäischen Eliten noch frisch im Gedächtnis war.

Doch wie Braverman zu spüren bekam, ist es heute sehr viel schwieriger, eine ähnliche Rede zu halten. Die Befürworter des Multikulturalismus versuchen, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen, indem sie diese des Rassismus bezichtigen. Dabei verschließen sie bewusst die Augen vor den tiefgreifenden sozialen Spannungen in unserer Mitte, von den Banden muslimischer und hinduistischer Jugendlicher, die sich letztes Jahr in den Straßen von Leicester prügelten, bis zu den Anti-Israel-Demonstranten, die dieses Jahr durch europäische Städte marschierten.

Die Befürworter des Multikulturalismus verweisen immer wieder auf Beispiele, in denen Menschen aus verschiedenen Gemeinschaften Seite an Seite arbeiten, miteinander auskommen und sogar untereinander heiraten. Dass Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander auskommen, interagieren, sich entfalten und voneinander lernen, ist natürlich eine positive Entwicklung. Aber diese Entwicklungen haben wenig mit der Doktrin des Multikulturalismus zu tun.

Tatsächlich haben Menschen mit den unterschiedlichsten ethnischen und religiösen Hintergründen schon lange vor dem Aufkommen des Multikulturalismus als offizieller Doktrin interagiert und gemeinsame Bande in Gesellschaften geknüpft. Amerikas „Schmelztiegel“, in dem sich verschiedene Gruppen von Einwanderern zu einem gemeinsamen amerikanischen Lebensstil zusammenfinden, erwies sich über viele Jahrzehnte als bemerkenswert erfolgreich. Erst mit der Institutionalisierung des Multikulturalismus in den 1970er Jahren begannen die USA, sich in verschiedene, oft konkurrierende Identitätsgruppen aufzuspalten, was die heutige Uneinigkeit und Polarisierung noch verstärkt hat.

Kurz gesagt, die Zersplitterung vieler westlicher und insbesondere europäischer Gesellschaften liegt nicht daran, dass sie multiethnisch sind, sondern daran, dass sie von der Ideologie des Multikulturalismus beherrscht werden. Die Multikulturalisten haben die Gesellschaft bewusst in eigenständige ethnische Identitätsgruppen aufgeteilt. Dies hat die Unterschiede zwischen den Menschen verstärkt, kultiviert und angeheizt. So hat der Multikulturalismus die Entwicklung eines echten Solidaritätsgefühls unter den Bürgern unterminiert und behindert.

Die Ideologie des Multikulturalismus gedeiht in der Tat in Ermangelung einer Vision für eine Gesellschaft, der sich jeder zugehörig fühlen kann. Das Fehlen einer solchen Vision ist nicht zufällig. Es ist darauf zurückzuführen, dass der Multikulturalismus darauf besteht, dass kein Wertesystem einem anderen überlegen ist oder als erstrebenswerte Norm angesehen werden kann. Das Fehlen einer kohärenten nationalen Vision für die Gesellschaft, eines kohärenten Gefühls für die gemeinsamen Werte und Traditionen einer Nation sollte daher als eine direkte Errungenschaft des Multikulturalismus angesehen werden.

Die Entstehung des Multikulturalismus

Die Ideologie des Multikulturalismus entstand nicht als Reaktion auf die Ankunft großer Gruppen von Einwanderern in den europäischen Gesellschaften während des 20. Jahrhunderts. Vielmehr ist sie ein Produkt der wachsenden Legitimationskrise der europäischen politischen Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Zwei katastrophale Weltkriege, der imperiale Niedergang und der Zusammenbruch des liberalen Laissez-faire-Kapitalismus hatten die Eliten der Nachkriegszeit in einer Sinnkrise zurückgelassen. Die Entstehung der sogenannten Gegenkultur in den 1950er und vor allem in den 1960er Jahren erwies sich als in dieser Lage als wegweisend. Sie stellte die Normen und Werte des Mainstreams in Frage und führte durch die Politisierung bestimmter Identitäten zur Entstehung dessen, was wir heute als Identitätspolitik kennen. Dabei machte die Gegenkultur deutlich, dass die europäischen Eliten ihren Überzeugungen nicht mehr trauen und ihr moralisches und politisches Kapital erschöpft ist. Sie sahen sich nicht in der Lage, auf die Herausforderung durch die Gegenkultur zu reagieren und die Lebensweise ihrer Länder überzeugend zu vertreten. Die Frage, was es heißt, Brite, Deutscher oder Niederländer zu sein, war für sie sehr schwer zu beantworten.

In vielerlei Hinsicht hat der Kalte Krieg jedoch die Auseinandersetzung mit dieser tiefgreifenden Legitimationskrise aufgeschoben. Die westlichen Eliten waren vielleicht nicht in der Lage, mit Sicherheit zu sagen, wofür ihre Gesellschaften eintraten, oder ihre verbindenden nationalen Werte zu benennen. Aber sie waren in der Lage zu sagen, wogegen sie waren. In diesem Sinne verschaffte der Widerstand gegen den Kommunismus dem Westen zumindest den Anschein eines nationalen Ziels und Zusammenhalts.

Mit dem Abflauen des Kalten Krieges konnten sich die westlichen Eliten jedoch nicht mehr auf diese antikommunistische Krücke stützen. An diesem Punkt, in den späten 1980er und 1990er Jahren, begannen sie, die Ideologie des Multikulturalismus zu übernehmen und zu fördern. Diese Ideologie schien zwei Dinge gleichzeitig zu bewirken. Sie bot den westlichen politischen Eliten etwas, das wie ein Ziel aussah. Und sie gab ihnen ein Mittel an die Hand, um die Konflikte zu bewältigen und einzudämmen, die durch die Zunahme der Identitätspolitik seit den 1960er Jahren entstanden waren. Kurz gesagt, sie hatten einen neuen Slogan und eine neue Mission: „Lasst uns die Unterschiede feiern“.

Der Verlust der britischen Identität

Der Multikulturalismus hat es den westlichen und insbesondere den europäischen Eliten ermöglicht, der Frage auszuweichen, wofür ihre Gesellschaften stehen – was diese Gesellschaften als Nationen zusammenhält. Großbritannien bietet eine besonders akute Fallstudie dieser Entwicklung. Die politischen und kulturellen Eliten des Landes halten an einer multikulturellen Ideologie fest und feiern „Unterschiede“ und „Diversität“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Zugleich distanzieren sie sich von Fragen der nationalen Identität.

Tatsächlich hat die Entfremdung des britischen Establishments vom historischen Erbe, den Traditionen und Werten der eigenen Nation das kulturelle Terrain geschaffen, auf dem die spaltende Identitäts- und Multikultipolitik gedeihen kann. Infolgedessen sind Multikulturalismus und Identitätspolitik bei ihrem Aufstieg zu den heute herrschenden Ideologien auf nur wenige Hindernisse gestoßen.

Die wichtigsten öffentlichen Einrichtungen Großbritanniens scheinen sich heute für jeden Ausdruck von Patriotismus zu schämen. Die arrogante imperiale Haltung der Vergangenheit ist einem Gefühl der Scham über die britische Geschichte und Gegenwart gewichen. Diejenigen, die sich noch immer patriotisch geben, werden als Relikte ausgegrenzt oder, schlimmer noch, als Rassisten und Fremdenfeinde verurteilt.

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Ein Vorfall, in den Emily Thornberry, Labour-Abgeordnete für Islington South, im November 2014 verwickelt war, zeigt deutlich die Verachtung, die große Teile der britischen politischen Klasse gegenüber patriotischen Äußerungen hegen. Während eines Zwischenwahlkampfes in Rochester twitterte sie ein Foto eines Hauses mit drei englischen Georgskreuzflaggen, vor dem ein weißer Lieferwagen parkte, und versah es mit der Überschrift „Bild aus #Rochester“. Der Snobismus war für viele zu viel, und nach einem öffentlichen Eklat musste sie aus dem Schattenkabinett zurücktreten. Nur wenige glaubten den anschließenden Behauptungen von Labour-Chef Ed Miliband, dass „die Menschen die englische Flagge mit Stolz zeigen sollten“.

Thornberrys verächtliche Haltung gegenüber Menschen, die die englische Flagge oder die des Vereinigten Königsreichs hissen, spiegelt einen allgemeineren Zynismus der Elite gegenüber der nationalen Identität wider. Dies geht Hand in Hand mit der Korrosion gemeinsamer Werte wie Pflicht und Loyalität. Das Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen nationalen Gemeinschaft wird heute als etwas betrachtet, für das man sich schämen muss. Diese Einstellung hat im Hochschulwesen, in Schulen und kulturellen Einrichtungen wie der BBC Hochkonjunktur. Der Spott über den Union Jack ist für die Angehörigen der britischen Kulturelite zum guten Ton geworden.

Das konnte man im März 2021 in einem vielbeachteten Interview bei BBC Breakfast deutlich sehen. Die beiden Moderatoren Charlie Stayt und Naga Munchetty machten sich über den konservativen Minister Robert Jenrick lustig, weil er den Union Jack in seinem Büro aufgehängt hatte. In der Mitte des Interviews, in dem es eigentlich um das Impfprogramm gegen das Coronavirus gehen sollte, sagte Stayt sarkastisch: „Ich glaube, Ihre Flagge entspricht nicht den Standardmaßen für ein Regierungsinterview. Ich glaube, sie ist ein bisschen zu klein, aber das ist ja Ihr Ressort.“ Im Hintergrund sah man Munchetty in ihre Hand lachen. Nach Tausenden von Beschwerden aus der Öffentlichkeit sahen sich die beiden Moderatoren gezwungen, sich zu entschuldigen. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass ein bedeutender Teil des britischen Kulturestablishments Symbole der nationalen Identität mit einem Gefühl der amüsierten Verachtung betrachtet.

Während unsere Eliten dazu neigen, die meisten Identitäten zu bejahen und zu „feiern“, ist die nationale Identität diejenige, die im Namen der Ideologie des Multikulturalismus absichtlich und oft mit Begeisterung verurteilt wird.

Kein Wunder, dass die Verfechter des Multikulturalismus mehr als nur einen Hauch von Triumphalismus an den Tag legen, wenn sie erklären, dass das Vereinigte Königreich in einer Identitätskrise steckt. Die Guardian-Kolumnistin Afua Hirsch hat ein ganzes Buch geschrieben – „Brit(ish): On Race, Identity and Belonging“ (Über Rasse, Identität und Zugehörigkeit) – das sich der Delegitimierung der Vorstellung einer britischen nationalen Identität widmet. In den Augen der Multikulturalisten sind die Kultur und die Vergangenheit Großbritanniens kaum mehr als eine Quelle der Schande.

Wie George Orwell 1941 feststellte, „ist England vielleicht das einzige große Land, in dem sich die Intellektuellen ihrer eigenen Nationalität schämen“. Wäre er heute noch am Leben, wäre selbst er überrascht über das Ausmaß, in dem sich diese Einstellung von den Intellektuellen auf das britische Establishment insgesamt übertragen hat.

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Manche innerhalb der Eliten sind sich durchaus bewusst, dass der Multikulturalismus ein Problem darstellt. Sie erkennen, dass die staatliche Förderung von Unterschieden einer spaltenden Identitätspolitik zum Durchbruch verhilft. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert beschäftigen sich die Mitglieder der verschiedenen britischen Regierungen mit der Frage, wie nationale Werte gefördert und definiert werden können.

Diese Frage verfolgte den New-Labour-Premierminister Tony Blair. Spätestens 2006 war eindeutig zu ihm durchgedrungen, dass sein stolzes multikulturelles Großbritannien gleichzeitig den Aufstieg des radikalen Islamismus förderte. Als Reaktion darauf plädierte er für die Förderung der nationalen Werte. „Wir sind nicht mutig genug, nicht konsequent genug, nicht gründlich genug, um für die Werte zu kämpfen, an die wir glauben“, sagte er damals. Es war jedoch alles andere als klar, dass den von Blair skizzierten „Werten, an die wir glauben“, eine echte Überzeugung oder Bedeutung zugrundelag.

Bezeichnenderweise vermied es Blair, sich auf das Erbe der britischen Vergangenheit zu berufen. Stattdessen bestanden seine Werte aus einer Liste modischer globaler Anliegen: Unterstützung der Entwicklung in Afrika, gerechte Migration, Bekämpfung des Klimawandels und die Schaffung internationaler Institutionen, die den Anforderungen entsprechen. Diese Werte waren niemals geeignet, eine Nation zu vereinen und den spalterischen Tendenzen zu widerstehen, die der Multikulturalismus ausgelöst hatte.

Auch Blairs damaliger Finanzminister Gordon Brown erkannte die durch fehlende nationale Zugehörigkeit verursachten Probleme an. Im Jahr 2006 kündigte er Pläne für einen Britischen Tag an, der sich „auf Dinge konzentrieren“ sollte, „die uns zusammenbringen“. Er war jedoch nicht in der Lage, herauszuarbeiten, was die „Dinge, die uns zusammenbringen“, denn sein könnten. Im Oktober 2008 ließ die Regierung die Idee im Stillen fallen.

Dies ist einer der Hauptgründe, warum sich die Ideologie des Multikulturalismus heute auf dem Vormarsch befindet. Selbst diejenigen, die ihre Gefahren erkennen, verfügen nicht über die moralischen, intellektuellen und politischen Ressourcen, um sagen zu können, wofür die Gesellschaft stattdessen stehen sollte. Sie streben nach einem Anschein von nationaler Identität und Zielsetzung, aber am Ende greifen sie ins Leere.

Der Verlust eines nationalen Ziels

Im 21. Jahrhundert ist Großbritannien nicht nur eine Insel ohne Geschichte, sondern auch ein Ort, der eine Debatte darüber verhindert, welche Art von Geschichten erzählt werden sollten. „Die tiefe verwurzelte Garantie für echte Stärke ist unser Wissen darüber, wer wir sind“, so die Autoren einer Studie aus dem Jahr 2008, „Risk, Threat and Security“. Dies gilt heute noch genauso wie damals. Wenn die Bedeutung dessen, was es heißt, Brite zu sein, zutiefst umstritten ist, ist es für die Gesellschaft sehr schwierig, sich selbst zu erkennen. Uns fehlt der Glaube an gemeinsame Werte und ein Sinn für Ziele.

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Teile der britischen Eliten hatten offensichtlich gehofft, dass der Multikulturalismus die Leere füllen könnte, die durch den Verlust des Nationalsinns entstanden war. Und so haben sie sich daran gemacht, sich im Namen des Multikulturalismus von den historischen Traditionen ihrer Nation zu distanzieren – und diese oft sogar abzulehnen. Sie haben sich mitschuldig gemacht, indem sie die Geschichte Großbritanniens zu einer Geschichte unaufhörlichen Fehlverhaltens umgeschrieben haben. Wie Michael Fitzpatrick vor fast 20 Jahren auf Spiked schrieb, bringen die elitären Verfechter der Doktrin des Multikulturalismus „einen Geist der nationalen Selbsterniedrigung zum Ausdruck“. Die perverse Folge davon ist, dass „unter den ethnischen Minderheiten Großbritanniens eine Haltung der Wut und des Grolls gefördert wurde[…]. Anstatt Harmonie zu schaffen, hat der Multikulturalismus den Hass genährt.“

Die ständigen Entschuldigungen öffentlicher Institutionen für die Geschichte Großbritanniens und die häufigen, knieenden Zerknirschungshandlungen von Politikern haben lediglich die Nachfrage nach noch mehr Entschuldigungen und noch mehr Anprangerungen Großbritanniens angeheizt. In einem solchen Klima werden Kulturunternehmer dazu ermutigt, ihren Opferstatus zur Schau zu stellen und vom Staat eine immer stärkere Bestätigung ihrer Identität zu fordern. Diese Forderungen werden ständig von der Behauptung begleitet, dass der Rassismus oder die Fremdenfeindlichkeit gegenüber bestimmten Identitätsgruppen immer schlimmer würden. Währenddessen wurde die Zunahme des Hasses gegen Juden aufgrund ihres vermeintlichen „weißen Privilegs“ heruntergespielt.

Die Folgen dieser Klagekultur sind tiefgreifend. Durch die Kultivierung und Politisierung von Gruppenidentitäten hat der Multikulturalismus die Menschen von der Nation entfremdet, in der sie leben. Die Mitglieder von Identitätsgruppen, die ständig dazu angehalten werden, ihre Andersartigkeit zu feiern, haben sich psychisch von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft entfernt. Es ist kein Wunder, dass einige von ihnen heute mehr mit weit entfernten nationalen und ethnischen Konflikten in Verbindung zu stehen scheinen als mit den Gemeinschaften, in denen sie tatsächlich leben.

Der Multikulturalismus mag dazu beigetragen haben, unsere Eliten von der Verantwortung zu entbinden, ihrer Gesellschaft einen nationalen Sinn zu geben. Doch der Preis, den die Gesellschaft für diese Entlastung bezahlt hat, sind eine tiefe Spaltung und ein wachsender Konflikt. Als Antwort darauf müssen wir den Grundstein für eine neue Solidarität legen. Ein gemeinsames Gefühl dafür, wer wir als Nation sind und wofür wir stehen, ist heute notwendiger denn je.


Dieser Beitrag ist zuerst bei Spiked erschienen.

Frank Furedi ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart. Mehr von Frank Furedi lesen Sie in den aktuellen Büchern „Die sortierte Gesellschaft – Zur Kritik der Identitätspolitik“ und „Sag was du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ sowie bei Substack.

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