758.473 „Zugänge von Asylsuchenden“ wurden von Januar bis Oktober 2015 an Deutschlands Grenzen registriert. Seit dem Sommer jagt Monat um Monat ein Rekord den nächsten – mit Steigerungsraten im dreistelligen Prozentbereich. Allein der Oktober stellte mit 181.000 illegalen Einreisen einen bislang beispiellosen Rekord dar. In der verzweifelten Hoffnung auf eine dämpfende Wirkung der kalten Jahreszeit hält die Bundesregierung zwar an ihrer ursprünglichen Prognose von 800.000 Flüchtlingen für das laufende Jahr fest. Doch nachdem die Bundespolizei Anfang dieser Woche vermeldete, dass bereits nach den ersten drei Novemberwochen der Oktober-Rekord eingestellt wurde, ist klar: die Schallmauer von einer Million Menschen dürfte damit wohl durchbrochen sein. Ein substanzieller Teil der Flüchtlinge entzieht sich schließlich gänzlich der Registrierung. Solange jeden Tag eine Kleinstadt – bis zu 10.000 Menschen – in unser Land strömt, werden wir der Lage nicht Herr.
Die bisherigen Maßnahmen sind schlicht zu halbherzig
In den vergangenen Wochen drangen aus dem Innenministerium und der Mitte der Fraktion immer wieder sinnvolle regulatorische Vorstöße durch, die aber entweder vom Kanzleramt höchstpersönlich oder dem Koalitionspartner SPD abgeschmettert wurden. Stattdessen einigte man sich im Angesicht der Armutswanderung nur auf kollektive Tatenlosigkeit, X-Punkte-Pläne, Gipfeltreffen und Placebo-Maßnahmen. Die Wirkung der bisherigen Maßnahmen bleibt weit hinter den Möglichkeiten zurück. Sie sind schlicht zu halbherzig:
Am 25. Oktober einigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Westbalkangipfel auf einen 17-Punkte-Plan. Darin enthalten war die Aussage, dass der ungebremste Weitertransport von Flüchtlingen in ein anderes Land ohne dessen Zustimmung nicht weiter hingenommen werden könne. „Die Politik des Durchwinkens“ sei „nicht akzeptabel“, hieß es in dem Abschlussdokument. Das käme natürlich in erster Linie uns zu Gute. Wirklich geändert hat sich indes nichts. Der Zustrom ist nach wie vor immens, obwohl ein Migrant auf dem Weg von der Türkei nach Deutschland über die Balkanroute sieben Grenzen überqueren muss.
Am 5. November einigten sich die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD dann auf ein in Teilen vielversprechendes, letztlich aber wirkungsschwaches Beschlusspapier. Zu den konstruktiven Vorschlägen gehörten die Maßnahmen zur Verbesserung und Beschleunigung der Asylverfahren durch einheitliche Ausweise samt Datenbank, die eine rasche Identifizierung der Flüchtlinge ermöglichen und somit mehr Ordnung in den chaotischen Flüchtlingsstrom bringen sollte. Registrierung und Ausstellung des Ausweises sollen Voraussetzung für die Stellung eines Asylantrages und für die Beantragung und Gewährung von Leistungen sein. Wer sich künftig also um die Registrierung drückt, geht leer aus. „No registration, no rights“, wie in einem non-paper der EU-Kommission richtig gefordert wird.
Währenddessen brach in Deutschland die Debatte um das sogenannte Flughafenverfahren aus. Konzeption und Zielsetzung waren klar und unverfänglich: Menschen aus sicheren Drittstaaten sind nicht an Leib und Leben bedroht. Sie sind es, die in den Transitzonen identifiziert und umgehend in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden sollten. Es ging darum, umgehend ein Asylschnellverfahren zu installieren, um die große Zahl offensichtlich unbegründeter Anträge, vor allem aus sicheren Herkunftsstaaten, schon an der Grenze abweisen zu können. Doch jede Sachlichkeit wurde mit wüsten KZ- und Inhaftierungsvergleichen im Keim erstickt. Dabei beschloss am 9. November sogar der EU-Ministerrat explizit, „dass die Mitgliedstaaten als Maßnahme gegen die potenziell mangelnde Kooperation der Migranten bei deren Ankunft in der Europäischen Union – unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte und des Grundsatzes der Nichtzurückweisung – die ihnen im Rahmen des EU-Besitzstands zu Gebote stehenden Möglichkeiten ausschöpfen werden, wie (1) Asylverfahren an den Grenzen oder in Transitzonen; (2) beschleunigte Verfahren; (3) Nichtzulässigkeit von Asylfolgeanträgen; (4) Zwangsmaßnahmen, die als letztes Mittel auch eine Inhaftierung für den Zeitraum vorsehen, der für den Abschluss der zugrunde liegenden Verfahren längstens erforderlich ist.“
Heiße Kartoffel Nachzug
Der zweite Vorstoß des Beschlusspapiers ging zumindest auf de Maizières vergeblichen Versuch der Errichtung von Transitzonen zurück und richtete sich explizit gegen Wirtschaftsmigranten aus sicheren Drittstaaten. Drei der vier stärksten Hauptherkunftsländer fallen in diese Kategorie. Für Asylbewerber aus diesen Ländern, mit Wiedereinreisesperren, mit Folgeanträgen oder ohne Mitwirkungsbereitschaft wird ein beschleunigtes Asylverfahren durchgeführt. Für diese Personengruppe gilt überdies eine verschärfte Residenzpflicht, die bei Zuwiderhandlung das Erlöschen des Asylantrages und die sofortige Ausweisung zur Folge hat. Abschiebungen sollen zudem unmittelbar aus der Aufnahmeeinrichtung heraus erfolgen, damit aussichtslose Asylbewerber gar nicht erst auf die Kommunen verteilt werden. Diese Desillusionierungskampagne deutscher Wohlfahrtsromantik kommentierte der Innenminister mit den Worten: „Die Menschen müssen die Erfahrung machen: Wir sind schnell wieder zu Hause.“ Immerhin scheinen diese Maßnahmen der Beseitigung von Fehlanreizen zu greifen. Der Zustrom vom Balkan ist signifikant zurückgegangen.
Die wirklich wichtige Großbaustelle Familiennachzug (Sekundärmigration) scheint hingegen in den Reihen der Entscheider die heiße Kartoffel zu sein. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Frage, ob und um welchen Faktor wir die Zahl der Asylanten und der Geduldeten in den kommenden Jahren potenzieren müssen. Zur Verdeutlichung: die Geburtenrate in den Krisenländern lag im Jahre 2000 je nach Land bei vier bis acht Kindern. Das ist die Generation der heute Jugendlichen. Den Nachzugsfaktor inklusive Eltern kann man also an einigen Millionen Fingern abzählen. Die Koalitionsspitzen haben sich sodann darauf verständigt, zur „besseren Bewältigung der aktuellen Situation“ den Familiennachzug für Antragsteller mit subsidiärem Schutz für einen Zeitraum von zwei Jahren auszusetzen. Da dies aktuell nur 1.366 Personen betrifft, verwies jüngst mein Kollege Thomas Strobl mit Blick auf die große Zahl syrischer Flüchtlinge darauf, dass selbst der vielzitierte Musterknabe der Sozialstaatlichkeit, Schweden, der Hälfte der syrischen Flüchtlinge lediglich subsidiären Schutz gewährt. Unter dieser Prämisse wäre auch in Deutschland eine verschärfte Asylpraxis möglich.
Im derzeitigen Ringen um das zweite Asylpaket sah der ursprüngliche Referentenentwurf zumindest vor, die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge unter subsidiären Schutz zu stellen, um in ihren Herkunftsländern den Anreiz zu beseitigen, Kinder als Vorauskommando für Familiennachzug alleine auf die Reise zu schicken. Aus dieser perfiden Praxis hat sich mittlerweile ein florierender Markt für Schlepper entwickelt. Allein im September und Oktober 2015 kamen mit 25.000 Personen so viele wie zuvor von Januar bis Ende August. Im Gutmenschenmilieu stößt dieser Vorstoß selbstverständlich auf heftige Gegenwehr. Dass man dafür Kinder in Schlauchboote setzt, scheint nicht weiter zu stören. Es dominiert das Idyll der wiedervereinten Familie.
Ebenfalls auf Drängen der SPD wurden erweiterte Kriterien für Asylschnellverfahren aus dem ursprünglichen Gesetzesentwurf gestrichen. Neben Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten sollten nun auch Antragsteller diesem Verfahren unterzogen werden, die offensichtlich unwahrscheinliche, falsche oder widersprüchliche Angaben machen. Ich bin fassungslos, dass man sich über solche Selbstverständlichkeiten überhaupt streiten muss. „Die Blockade einer sinnvollen Anpassung des Rechts an die neue Situation gefährdet die Akzeptanz des Rechtsstaats“, flankierte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Michael Kretschmer, diese Vorstöße.
Die BAMF-Mitarbeiter rufen nach dem Recht!
Warum insbesondere ein hartes Vorgehen gegen Asylmissbrauch dringend angezeigt wäre, hat der Brandbrief der Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in erschreckender Ehrlichkeit offenbart. Darin heißt es: „In einem sogenannten verkürzten (schriftlichen) Verfahren wird Asylsuchenden aus Syrien und Eritrea sowie manchen Glaubenszugehörigen aus dem Irak der Flüchtlingsstatus – unter Verzicht auf eine Identitätsprüfung – zuerkannt. Diese Praxis ist ausschließlich den Rückständen geschuldet und nach unserem Dafürhalten mit dem Rechtsstaatsgebot nicht vereinbar.“ Die Erfahrung der Mitarbeiter zeige zudem, dass ein großer Teil der Asylsuchenden eine falsche Identität angebe. Auch der Innenminister habe erklärt, 30 Prozent der Asylsuchenden gäben sich als Syrer aus, seien in Wahrheit aber keine.
Für diejenigen im Strom der Flüchtlinge und Zuwanderer, die wirklich unseres Schutzes bedürfen, weil sie vielfach vor den Schlächtern des „Islamischen Staates“ (IS) geflohen sind, gilt das Gleiche wie für unsere eigene Bevölkerung: Wir müssen wachsam sein, damit neben Opfern nicht auch Täter ins Land kommen!
Die Anschläge von Paris haben uns auf schreckliche Weise vor Augen geführt, dass der Terror des IS nicht nur in einer fernen arabischen Wüste, sondern bereits in unserem europäischen Alltag seine grausamen Verbrechen begeht. Gerade erst sagte Innenminister de Maizière, die Zahl der Gefährder sei so hoch wie nie zuvor. Offiziell seien bislang 760 Terrorkrieger aus Deutschland in den Irak und nach Syrien gereist, um sich dort ausbilden zu lassen und zu morden. Rund ein Drittel von ihnen sei bereits wieder zurück nach Deutschland gereist. Die größte Gruppe der reisenden Dschihadisten seien Männer unter 30 – so wie die größte soziologische Gruppe der Flüchtlinge. De Maizière kommentierte dies mit den Worten: „Es gab und gibt Hinweise, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen.“
Im Brief der Bamf-Mitarbeiter heißt es dazu: „Der Wegfall der Identitätsprüfung erleichtert zudem auch das Einsickern von Kämpfern der Terrormiliz IS nach Mitteleuropa und stellt ein erhöhtes Gefährdungspotential dar.“ Offiziell trage das Bundesamt diesem massenhaften Missbrauch zwar Rechnung. „Tatsächlich aber verzichtet das Bundesamt auf eine Identitätsprüfung, was anhand (angeblich) syrischer Asylsuchender dargestellt werden soll: Syrer ist, wer sich schriftlich im Rahmen einer Selbstauskunft als Syrer bezeichnet (im Fragebogen an der richtigen Stelle ein Kästchen ankreuzt) und der Dolmetscher (in der Regel weder vereidigt, noch aus Syrien kommend) dies bestätigt. Die Dolmetscher stehen weder im Arbeitsverhältnis mit dem Bundesamt, noch werden sie in irgendeiner Weise auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland vereidigt. Letztlich wird diesen Dolmetschern alleine die Prüfung des Asylgesuchs […] überlassen. Neben der Selbstauskunft eines Asylsuchenden, der keinerlei Personaldokumente vorgelegt hat und der niemals angehört wurde, befindet sich dann in der „Akte“ ein zweizeiliger Aktenvermerk mit dem Inhalt, dass keine Hinweise vorliegen, dass es sich bei dem Antragsteller nicht um einen Syrer handelt. Eine solche massenhaft praktizierte Entscheidungspraxis steht unseres Erachtens mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht im Einklang.“
Selbst nach ausdrücklicher Warnung der deutschen Botschaft in Beirut und des Innenministeriums vor regelrechten Antragspaketen mit gefälschten Zeugnissen und Diplomen, seien die Mitarbeiter (sogenannte „Entscheider“) des Bamf angehalten, „ohne erfolgte Echtheitsprüfung diesem Personenkreis den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.“ Mitarbeiter würden „nach nur einer drei- bis achttägigen (!) Einarbeitung als „Entscheider“ eingesetzt und angehalten, massenhaft Bescheide zu erstellen.“ Das geht wohl nicht zuletzt auf die massiven Minderkapazitäten des Bundesamtes zurück. Im bisherigen Rekordjahr 1992 hatte das Bamf 438.000 Asylanträge zu bearbeiten. Dazu standen dem Amt über 4.000 Mitarbeiter zur Verfügung. Heute sind es wohl jetzt schon eine Million Menschen bei rund 2.800 Mitarbeitern. Wie so vieles scheint das zum Scheitern verurteilt. In jedem Fall konterkariert der Brandbrief die Losung „Wir schaffen das!“. So zumindest nicht. Wir haben bisher viel Papier produziert, die Grenze ist aber immer noch offen.
Mein Antrag auf dem Landesverbandsausschuss der hessischen CDU am zurückliegenden Samstag in Hanau, an den nationalen Grenzen nicht nur zu kontrollieren, sondern Unberechtigten die Einreise zu verweigern, wurde (noch) deutlich abgelehnt. Dies ändert nichts an meiner Überzeugung, für die ich weiter kämpfen werde: Solange die Kontrollen an den Schengen-Außengrenzen nicht funktionieren, müssen wir unsere eigenen Grenzen sichern. Auch für die Verhandlungen mit Griechen und Türken ist es wichtig, zunächst nachzuweisen, dass wir die Lage selbst im Griff haben. Sonst geben wir den Herren Tsipras und Erdogan quasi den Lautstärkeregler in die Hand, der immer wieder aufgedreht wird, wenn wir nach ihrem Ermessen nicht genug zahlen.