Vorsicht, dies ist kein Artikel über „die Flüchtlinge“. Bei den massiven Bevölkerungsbewegungen, die sich jetzt auf Deutschland, Europa und andere Wohlstandsregionen der Welt richten, ist „Flucht“ nicht der angemessene Oberbegriff. Hier sind nicht nur Hilflose und Getriebene unterwegs, die aus einer Notlage gerettet werden müssen.
Die Vorgeschichte dieser Welle ist keine allgemeine Verelendung, kein Weltkrieg, keine globale Naturkatastrophe. Gewiss gibt es Notlagen, Katastrophen und Kriege, doch generell ist die Versorgung mit Nahrung, Gesundheit, Information in den ärmeren Regionen in den vergangenen Jahrzehnten besser statt schlechter geworden.
Notlagen und neue Ansprüche
Deshalb sind es oft nicht extreme Notlagen, sondern neue Wünsche und Ansprüche, die die Menschen in Bewegung setzen, die Staaten auseinanderbrechen lassen und die dann im Gefolge tatsächlich auch zu Krieg, Gewalt, Hunger, Krankheit führen. Auch die Todesfälle auf den Migrationsrouten gehören zu diesen Folgen.
Das macht diese Opfer nicht weniger erschreckend und unsere Anteilnahme nicht geringer. Aber es gibt hier noch eine andere moralische und politische Pflicht: Wir müssen fragen, ob diese globale soziale Mobilisierung sinnvoll ist, ob sie zum Besseren führt. Oder ob sie ein Irrweg ist, der immer größeres Unglück heraufbeschwört. Weil hier nicht einfach ein höherer Zwang regiert, sondern von Menschen eine Wahl getroffen wird, muss nach der Vernünftigkeit dieser Wahl gefragt werden. Diese Frage muss als soziale Frage gestellt werden, als Frage der gesellschaftlichen Entwicklung, nicht als Frage individueller Biographien. Wir müssen nach einer verallgemeinerungsfähigen Antwort suchen. Dabei wiederum geht es nicht nur um eine verbale Antwort, sondern um den Einsatz unserer Handlungsmöglichkeiten: Sollen wir die neuen Bevölkerungsbewegungen unterstützen und fördern oder sollen wir sie bremsen und einhegen?
Der Oberbegriff dieser Artikelserie ist deshalb die Migration und „Flüchtling“ ist nur eine Teilmenge. Deshalb ist auch „Rettung“ hier nur ein Teil der moralischen und politischen Gesamtantwort.
Die Nötigung der Semantik
Die generelle Rede von „den Flüchtlingen“ hat etwas Drängendes. Sie duldet keinen Verzug und keine prüfende Distanz. Damit steht diese Rede im Grunde auf Kriegsfuß mit den Grundlagen des Asylrechts und erweckt den Eindruck, dass das Asylverfahren (die Prüfung der Anliegen vor der Öffnung des Landes) kleinlich und unmoralisch ist. In dieser Rede ist die Unterscheidung zwischen den Arbeitsmigranten, den (kurzfristigen) Flüchtlingen und den (langfristigen) Asylsuchenden eingeebnet.
Im Grunde macht sie die Möglichkeit, Menschen überhaupt die Zuwanderung zu verweigern, zum Tabu. Jeder, der für diese Möglichkeit eintritt, gilt sofort als moralisch und politisch verdächtig. Unverdächtig ist hingegen jedes pauschale „Ja“ zur Migration.
Doch ist dies pauschale „Ja“ moralisch viel fragwürdiger. Denn die kritische Prüfung der Migrationsgründe nimmt die schwerwiegenden Folgen des Migrierens ernst – die Lösung der Menschen aus ihren sozialen Bindungen; der Verlust von Talenten und Fähigkeiten für das Herkunftsland; die Zusatzlasten für das Empfängerland und die Übernutzung seiner Gemeingüter. Die kritische Haltung hält diese Folgen für so gravierend, dass sie das Migrieren nicht per se als positiven Akt ansieht. In ihrer Moral zählt nicht nur das dramatisch-auffällige Hier und Jetzt, sondern die Gesamtlage der Völkergemeinschaft und die langfristigen Folgen einer großen Wanderungsbewegung.
Das Ende der Politik und Rettung allüberall
Wo hingegen alles unter dem Gebot des unmittelbaren Rettens steht, gibt es auch politisch im Grunde nichts zu entscheiden. Jede allgemein-verbindliche Regelung, jedes Gesetz erscheint unmenschlich. Jede Einschränkung im Namen der Gesamtbürgerschaft eines Landes erscheint als Übergriff. So kommt es zu einem unpolitischen permanenten Ausnahmezustand, zu einer Diktatur des Rettens. Dieser unpolitische Zustand hat sich in Deutschland stärker ausgebreitet als in jedem anderen europäischen Land. Nicht, dass das Diktatorische in besonders drastischen Eingriffen bestehen würde – nein, es ist ein Verweigern von politischem Handeln und seine Ersetzung durch die Steuerung der öffentlichen Meinung. Das „Retten“ soll die Bevölkerung mobilisieren und sie zugleich auf ferne globale Lösungen vertrösten. Gemessen an ihrem vollmundigen „Wir schaffen das“ hält sich die Bundesregierung beim wirklichen Eingreifen auffällig zurück.
Diese Form der ideologischen Steuerung unter der Flagge des Rettens ist hierzulande inzwischen wohlbekannt. Da gibt es die „Eurorettung“, mit dem der Marsch in die europäische Transferunion gelenkt wurde. Dazu gehört die „Griechenland-Rettung“, bei der ein Staat, der völlig über seine Verhältnisse lebt, endlos alimentiert wird. Und es gibt natürlich die „Klimarettung“, in deren Namen man das deutsche gemischte Energiesystem zerstört hat (und gleiches im Verkehrs- und Bauwesen vorbereitet). Überall wird gerettet. Dieser Begriff ist zum universellen Politikersatz geworden. Das „Retten“ ist das Meisterwort des Merkelismus.
Eine neue Dimension der Rederei
Mit der „Flüchtlingsrettung“ bekommt diese Entwicklung nun eine neue Dimension. Das liegt zum einen an der Größe der Bevölkerungswelle, die auf Europa zurollt. Es liegt zum anderen daran, dass diese Rettung viel stärker das Innenleben Deutschlands berührt. Sie greift in das gesellschaftliche Leben ein, sie verändert die Art des zivilen Zusammenhalts. Das stellen in diesen Wochen viele Menschen beim Blick in ihre Stadt oder in ihre Ortschaft fest. Sie befinden sich „in neuer Gesellschaft“. Die eingespielten zivilen Mechanismen, auf deren Gültigkeit man fraglos vertrauen konnte, gelten nicht mehr. Und hier steht nicht irgendein altes, engstirniges Reichsdeutschland auf der Kippe, sondern die durchaus moderne Bundesrepublik mit ihren Institutionen und ihren zivilen Formen des Zusammenhalts. Die neue Migrationsbewegung bringt die mühsam erreichten Gleichgewichte der Integration aus dem Lot. Sie setzt an die Stelle der bisherigen, regulierten Offenheit eine anarchische und völlig intransparente Offenheit.
Skepsis wächst
Es gibt also gute Gründe, dieser Bewegung skeptisch gegenüberzustehen und sie erstmal zu bremsen, bevor sie die Republik umkrempelt. Diese Skepsis ist längst da, und zwar in der gesellschaftlichen Mitte Deutschlands (und anderer europäischer Länder). Oft kommt sie in sehr vorsichtigen Formulierungen zum Ausdruck. Statt der nassforschen Sprachregelung der Bundesregierung, Deutschland sei „herausgefordert, aber nicht überfordert“, sagen die Leute, dass man im Grunde „ratlos“ ist.
Oder „bedrückt“, wie Klaus-Dieter Frankenberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.August schrieb: „Doch machen wir uns nichts vor: Die Vorstellung, der halbe Nahe Osten und Teile Afrikas siedeln Um nach Westeuropa, lässt schon ein Gefühl der Bedrückung zurück. In jeder Hinsicht“. In so einer Situation könnte man eigentlich von den politisch Verantwortlichen erwarten, dass sie eine rationale und offene Diskussion anregen – über den Charakter dieser neuartigen Migrationswelle und über die Handlungsmöglichkeiten des Staates. Und dass der Pluralismus der politischen Parteien und aller Meinungsäußerungen gerade jetzt geschätzt und geschützt wird.
Die Inszenierung der „rechten Gefahr“
Doch stattdessen geschieht in Deutschland nun etwas ganz Anderes, etwas geradezu Irrsinniges. Im Angesicht eines neuen Migrationsschubes, der in diesen Tagen über die Balkanroute auf Deutschland zuläuft, wird eine Debatte über „Ausländerhass“ und „rechtsradikale Gefahren“ inszeniert. Und das Stigma „rechts“ wird bewusst so weit gedehnt, dass es jene Mitte der Bürger trifft, die nicht begeistert in den Chor der Flüchtlingsretter einstimmt, sondern mit Sorge auf die überhitzte Migrationswelle blickt.
Dass sich diese Mitte eigenständig und öffentlich äußert, soll offenbar verhindert werden. Darauf zielt der Satz der Bundeskanzlerin: „Und es ist genauso beschämend, wie Bürger, sogar Familien mit Kindern, durch ihr Mitlaufen diesen Spuk unterstützen.“ Im gleichen Sinn hat der Vizekanzler die Losung ausgegeben, es käme nun darauf an, überall auf der Arbeit, im Verein und in der Familie aufmerksam jedes Zeichen von Migrationsskepsis zu beobachten. Und dann kam der Bundespräsident und sprach den Satz: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich hier leuchtend darstellt, gegenüber dem Dunkeldeutschland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerberunterkünfte oder gar fremdenfeindliche Aktionen gegen Menschen hören.“ Die Mitte kommt hier nicht mehr vor. Der Satz von den zwei Deutschlands, dem guten und dem bösen, verurteilt nicht einfach die Gewaltakte, sondern er zieht einen Strich mitten durch das Land.
Und das im Angesicht einer täglichen Zuwanderung, bei der nichts, aber auch gar nichts nachhaltig geregelt ist. Mit diesem Spaltersatz, noch dazu mit der primitiv-demagogischen Scheidung des „Hellen“ und des „Dunklen“, wird Herr Gauck vielleicht einmal in die Geschichtsbücher eingehen. Hier spricht einer, dem die demokratische Kultur der Bundesrepublik zutiefst fremd ist. Und der sich offenbar zu einer Art Neugründung unseres Gemeinwesens berufen fühlt.
Das neue „helle Deutschland“ wäre ein Gesinnungsstaat. In ihm wären nur diejenigen Vollbürger, die sich vorbehaltlos zum Retten bekennen und überhaupt „positiv“ auftreten. Am Wochenende fanden sich schon zahlreiche Prominente, die dies Bekenntnis auf den Titelseiten einer Boulevard-Zeitung ablegten. Die öffentlich-rechtlichen Sender senden nur noch „positive Beispiele“, auch die „Tatort“-Krimis sind sicher schon auf Linie gebracht. Der nächste Schritt wäre es dann, jegliche öffentliche Kundgebung von Migrationsskepsis zu untersagen – mit der Begründung, dass es in ihrem Umfeld eine „erhöhte Wahrscheinlichkeit“ von Gewalttaten gibt. Glücklicherweise hat das Bundesverfassungsgericht dem Versuch, eine Demonstrationszensur in Heidenau zu errichten, widersprochen. Noch leben wir nicht in einem Gesinnungsstaat. Doch ein weiterer Satz der Bundeskanzlerin lässt aufhorchen. „Wer so handelt wie die Gewalttäter von Heidenau, der stellt sich weit außerhalb unserer Werteordnung“, sagte sie (zit. aus der FAZ vom 25.8.2015). Es hätte völlig genügt, wenn Merkel sich auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik berufen hätte. Indem sie aber unsere Rechtsordnung durch „unsere Werteordnung“ ersetzt, wechselt sie das Register. Nun kann sie auch die Migrations-Skeptiker und Rettungspolitik-Kritiker ausbürgern und nach Dunkeldeutschland verbannen.
Die neue Teilung Deutschlands und Europas
Diese Affäre hat auch eine europäische Dimension. Da gibt es die Grenzsicherungen, die jetzt die ungarische Regierung vornimmt. Oder die Ablehnung einer europaweiten Quotenverteilung der Migranten, wie sie von vielen osteuropäischen Regierungen geäußert wurde. Oder das englisch-französische Sperrabkommen am Ärmelkanal-Tunnel. Sind das nicht alles „rechtsextreme“ Maßnahmen? Spricht daraus nicht ein „Dunkeleuropa“? Und wäre, andersherum betrachtet, nicht das „helle Europa“ ein sehr deutsches Europa? Der infame Spaltungsstrich des Herrn Gauck ist ein Spaltungsstrich durch Europa.
Genug mit diesen Betrachtungen des Irrsinns. Am wichtigsten ist, jetzt einen klaren Kopf über das eigentliche Problem zu behalten: Es geht überhaupt nicht um die Ausländerfrage, sondern um die Migrationsfrage. Nicht die Zugehörigkeit von Menschen zu einem anderen Volk, zu einer anderen Religion oder zu einem anderen Kulturkreis ist das Problem – sondern die Wanderungsbewegung, in die sich Menschen begeben haben und die als Zuwanderung dann auch Deutschland betrifft. Das Problem ist nicht die Bindung von Menschen, sondern die Auflösung von Bindungen. Es geht um die Entwurzelung, die mit der Wanderung verbunden ist.
Der Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit hat mit den tatsächlichen Einwänden der Menschen nichts zu tun. Man kann mit Kollegen, Nachbarn, Mitschülern und Vereinskameraden fremder Herkunft eng vertraut und befreundet sein, man kann jahrelang Integrationsarbeit in einem Stadtteil gemacht haben – und man kann trotzdem jetzt gegen diese überhitzte, globale Massenmigration sein. Man kann es sogar gerade deshalb sein. Weil man weiß, wie echte Integration sich anfühlt und wo ihre Grenzen sind. Deshalb ist es wichtig, sich jetzt nicht in der dummen Diskussion um „Fremdenfeindlichkeit“ zu verhaken, sondern einfach weiter daran zu arbeiten, das neue Phänomen der globalen Massenmigration besser zu verstehen und die Fähigkeit der Staaten, diese Bewegung einzuhegen, zu verbessern. Die Wirklichkeit, dieser brave, unermüdliche, brave Maulwurf, arbeitet auf unserer Seite.
Dieser Beitrag ist auf Achse des Guten erschienen.