Bei der jetzigen und wohl auch zukünftigen Bundesregierung unter Merkel muss wirtschaftlicher Sachverstand oft hinten anstehen. Der Focus hat jetzt führenden deutschen Ökonomen die Möglichkeit gegeben, ihre Wünsche an die neue Regierung zu formulieren. Dass diese dort Gehör finden, ist nach all den Erfahrungen der letzten Jahre durchaus fraglich.
So wünscht sich Ökonom Christoph M. Schmidt, Vorsitzender der Wirtschaftsweisen, unter anderem ein ökonomisch sinnvolles Umsteuern bei der Energiewende oder tragfähige öffentliche Haushalte. Und er wünscht sich eine von Prinzipien geleitete europäische Integration, womit er natürlich zu recht impliziert, dass hier bislang Prinzipienlosigkeit geherrscht hat. Schmidt weiter
„Unsinnige Integrationsschritte wie eine europäische Fiskalkapazität, eine gemeinsame Einlagensicherung und eine europäische Arbeitslosenversicherung sind zu vermeiden. Ferner sollte die Kompetenzverteilung zwischen europäischer und mitgliedsstaatlicher Ebene anhand des Subsidiaritätsprinzips kritisch überprüft werden.“
Mit kritischer Überprüfung meint Schmidt natürlich den Wunsch nach mehr Dezentralität, so wie sich der Sachverständigenrat in bisherigen Gutachten geäußert hat. Tatsächlich werden hier in Brüssel seit einigen Monaten Reformen geplant. Leider stehen sie im krassen Widerspruch zu den Forderungen der Wirtschaftsweisen.
Ein neuer Vertrag soll die EU grundlegend neu aufstellen. Die Verhandlungen haben offiziell noch nicht einmal begonnen, aber diese jetzt angedachte Reform soll bereits Ende 2018 stehen. Diese Aussage stammt von Juncker-Mitarbeiter Martin Selmayr. Dieses Tempo ist in der Geschichte der Europäischen Union und ihrer Vorläuferorganisationen einmalig. Allein für den im Dezember 2009 in Kraft getretenen Lissabon – Vertrag hat die EU einst 10 Jahre benötigt. Weshalb nun also diese Eile?
Die Reforminitiativen der EU-Ebene
Die EU hat, zunächst durch das Europäische Parlament und dann durch die Kommission 2017, umfangreiche Vorschläge zur Neuorganisation insbesondere der Eurozone, aber auch der gesamten EU gemacht. Das Ziel ist nicht weniger als ein großer Schritt hin zu einem europäischen Bundesstaat. Nachdem Kommissionspräsident Juncker am 30. März 2017 sein Weißbuch vorgestellt hat, hat legte die Kommission zwischen April und Ende Juni fünf „Reflexionspapiere“ vor, die auf rund 200 Seiten eine Bestandsaufnahme und Vorschläge für die Reform machen. Diese Papiere sind kein fertiger Plan, sondern ähnlich wie das Weißbuch eine Sammlung von Ideen und Vorschlägen der Kommission. Sie sollen die Basis für eine gesellschaftliche Diskussion sein.
Am 13. September dieses Jahres wird Juncker bei seiner Rede zur Lage der EU die öffentliche Diskussion für beendet erklären und den offiziellen Vorschlag der Kommission vorstellen.
Der Süden braucht Geld
Der Grund für die Eile der EU-Ebene ist die ungelöste Euro-Krise. Italien, Portugal und Griechenland werden nur durch die EZB am Leben erhalten. Weitere Länder sind zumindest gefährdet. Um die Probleme in den Griff zu bekommen, möchte die EU große Transfersysteme aus Nordeuropa in den Süden aufbauen.
Die aktuell sehr pro-europäische Haltung in der Bevölkerung der EU und die relativ günstige wirtschaftliche Situation eröffnen ein kurzes zeitliches Fenster, um diese Ideen in die Tat umzusetzen. Die Kommission rechnet Ende 2018 mit einer Zinswende. Bis dahin muss das neue System stehen, weil die hochverschuldeten Ländern wie Italien oder Portugal nach einem Anstieg der Zinsen schnell die Zahlungsunfähigkeit droht.
Wie ist die Lage in Deutschland?
Die Ideen, die zur Reform bereits auf dem Tisch liegen, sind zur Verunsicherung der deutschen Wähler bestens geeignet. Insofern ist die allgemeine Überzeugung der Parteien, das Thema vor der Bundestagswahl lieber nicht anzusprechen. Auch die EU-Politik nimmt so lange Rücksicht auf die deutschen Parteien. Eine erfreuliche Ausnahme sind Martin Schulz und Siegmar Gabriel von der SPD, die sich klar für einen Eurozonen-Haushalt ausgesprochen haben. Das war ehrlich und mutig, aber vermutlich nicht sinnvoll, um neue Stimmen zu gewinnen. Merkel ist taktisch klüger. Sie hat im Mai 2017 öffentlich gesagt, dass sie bereit sei, zur Modernisierung der Europäischen Union bestehende Verträge zu ändern und auch bereit sei, einen EU-Finanzminister zu akzeptieren. Deutlicher wurde sie nicht. Sie kann später nachweisen, dass sie die Wähler rechtzeitig über ihre Pläne informiert hat und sie weiß gleichzeitig, dass diese Aussage im Sommerloch untergeht. Immerhin hat sie diese Aussagen gegenüber Macron getätigt, denn es soll eine deutsch-französische Initiative folgen.
Wolfgang Schäuble möchte den ESM zu einem EU-Währungsfonds, vergleichbar mit dem IWF, ausbauen. Dieser soll nach Schäubles Hoffnung regelgebundene Politik durchsetzen. Schäuble hängt somit weiter einer Idee an, die in Südeuropa nicht vermittelbar ist. Die EZB, die ebenfalls einer regelgebundenen Politik unterliegt, wurde einfach mit einem Italiener besetzt und macht südeuropäische Politik. Glaubt Schäuble wirklich, dass man den ESM nicht auch mit einem Südeuropäer besetzen könnte? Wer soll die Einhaltung der Regeln kontrollieren, etwa das naturgemäß „pro-europäische“ Parlament oder der naturgemäß „pro-europäische“ EUGH?
Wie ist die Lage in den anderen Ländern?
Während sich in Brüssel Kommission und Parlament mit ihren Zentralisierungswünschen einig sind, gibt es große Interessenunterschiede bei den Nationalstaaten.
Deutlicher Widerstand kommt aus Nordeuropa. In einem offenen Brief haben die drei Regierungschefs von Dänemark, Finnland und den Niederlanden, Rasmussen, Sipilä und Rutte, allen Reformplänen eine Absage erteilt. Es wäre überraschend, wenn sich der voraussichtliche neue österreichische Bundeskanzler Kurz (die Wahl findet am 15. Oktober statt) sich dieser Allianz nicht anschlösse. Der einzige Nettozahler, der Willens ist, die große EU-Transferunion zu bauen, wäre demnach Deutschland.
Der große Hoffnungsträger Macron dagegen ist in einer schwierigen Lage. Er hat bei seiner Wahl große Versprechungen gemacht, die nur mit Geld aus Deutschland bezahlbar wären. In den jüngsten Beliebtheitsumfragen ist er bereits auf katastrophale 36% (Economist) bis 40% (Journal du Dimanche) Zustimmung abgestürzt. 57% sind dagegen bereits jetzt mit seiner Politik unzufrieden. Noch nie hat ein französischer Präsident so schnell so viel Zustimmung verloren.
Nach der Bundestagswahl beginnen die Verhandlungen
Die Europäische Kommission hat eine ganze Reihe von Transfermechanismen in den Raum gestellt. Sie ist nicht darauf angewiesen, dass alle durchkommen. Wenn Präsident Juncker am 13. September seinen endgültigen Vorschlag präsentiert, dürften in diesem ebenfalls genügend Redundanzen sein. Er kann sich dann die Hälfte seiner Ideen herausverhandeln lassen und steht mit einem für ihn geeigneten Ergebnis da. Ob die Niederlande, Finnland oder Österreich stark genug sind, um diese Verhandlungen zu verweigern, bleibt offen. Möglicherweise wird man Wege finden, damit sich einzelne Länder den Transfers verweigern können. Deutschland wird das nicht tun. CDU/CSU, SPD und Grüne werden in der Mehrzahl die Transferunion unterstützen.
Die FDP hat sich im Europäischen Parlament bei den Abstimmungen im Februar mit ihren drei Abgeordneten Lambsdorff, Meißner und Theurer immerhin enthalten. Wir wissen nicht, wie sie zukünftig entscheiden werden. In jedem Fall ist eine deutliche Mehrheit von „pro-Europäern“ im nächsten Bundestag zu erwarten.
Wie viel Kompetenzen und Geld unsere Parteien nach Brüssel abgeben können, ohne weiter mit dem Bundesverfassungsgericht in Konflikt zu geraten, bleibt unklar. Sie würden sicher gerne auf eine Volksabstimmung in Deutschland verzichten. Gleichzeitig ist eine Volksabstimmung angesichts der aktuellen Europa-Begeisterung nicht aussichtslos.
Was passiert, wenn die Transferunion nicht kommt?
Die Eurokrise wurde nie beendet. Sie wurde in die Zukunft verschoben. Diese Politik könnte weitergehen. Wenn die Politik sich nicht zu einer großen Reform durchringen kann, dürfte sie versuchen, nach dem bisherigen Muster Zeit zu kaufen. Die EZB müsste dann weiter Staatsanleihen ankaufen lassen und die Zinsen niedrig halten. Die Situation wird für die EZB aber zunehmend schwieriger. Sie findet kaum noch deutsche Staatsanleihen am Markt und kommt bald an ihr selbstgesetztes Limit von einem Drittel der ausstehenden Anleihen. Wenn sie über 2018 hinaus diese Politik betreiben wollte, müsste sie weitere Regeln brechen. Wie lange das Bundesverfassungsgericht dem Treiben noch zuschauen mag, ist auch unklar. Das Bundesverfassungsgericht hat zumindest auf unsere gemeinsame Klage hin Bedenken gegen die EZB-Geldschwemme geäußert und festgestellt, dass diese über ihr Mandat hinausgeht.
In jedem Fall ist eine unbegrenzte Fortsetzung dieser Politik nicht möglich. Einzig ein Anspringen der Inflation könnte Erleichterung für den Süden bringen. Seit Jahren versucht die EZB diesen Weg zu gehen, ist daran aber bisher gescheitert. Die Aussichten auf eine Trendwende sind aus Sicht der „pro-Europäer“ nicht gut. Zu viele wirtschaftliche Parameter sind deflationär:
- Technologie und die wachsende „sharing economy“ sorgen für niedrigere Preise
- es stehen in der Eurozone genug billige Arbeitskräfte zur Verfügung
- es findet zu wenig Innovation zu höherwertigen Arbeitsplätzen statt, der Innovationsmotor stockt. Löhne können so kaum steigen.
- mit dem Ausscheiden gut qualifizierter Arbeitnehmer aus dem Berufsleben ist es möglich, dass Europa seine Stellung in wichtigen globalen Wertschöpfungsketten gegenüber ausbildungsstarken Schwellenländern wie China nicht halten kann
- es gibt keine Anzeichen für eine Erhöhung des Ölpreises. Eine derartige Inflation wäre auch schädlich für alle Euro-Mitgliedsstaaten.
Wenn die Transferunion scheitert, sind Griechenland, Italien und Portugal vermutlich die ersten Kandidaten für einen Staatsbankrott. Es wird dabei nicht bleiben.
Wenn die große Transferunion kommt, wird Europa noch einige Jahre Zeit kaufen. In der Theorie könnte Brüssel Reformen von oben herab durchsetzen und die Nationalstaaten zu vernünftiger Wirtschaftspolitik zwingen. Das wird aber am Willen der Wähler scheitern. Die überschuldeten Südeuropäer haben die deutliche Bevölkerungsmehrheit in der EU und im Europäischen Parlament. Ein Vergleich der Zahlen macht das deutlich:
Die Euro-Zonen-Transferunion hat keine Mehrheit der stabilitätsorientierten Länder hinter sich. Ganz im Gegenteil, die südeuropäische Verschuldungs- und Inflationskultur würde zahlenmäßig klar die Oberhand gewinnen. Bei den Wählerzahlen ergibt sich das gleiche Bild. Eine Aufgabe des Prinzips der „degressiven Proportionalität“, bei der Wahl zum Europäischen Parlament würde an den Verhältnissen wenig ändern.
Brüssel muss dann in die inneren Angelegenheiten der Nationalstaaten hineinregieren. Es muss gegen die unwilligen Italiener, Franzosen oder Portugiesen Reformen durchsetzen. Das Europäische Parlament, in dem die Südstaaten die Mehrheit haben, würde dabei schon nicht mitspielen. Der europäische Zentralstaat würde voraussichtlich die Schuldenspielräume ausreizen und dann immer neue verlangen. Die deutschen Politiker, gefangen im Netz ihrer unhaltbaren Versprechungen, würden weiter durch Zugeständnisse Zeit kaufen. Am Ende kann nur die Währungsreform stehen.
Auch dem Wirtschaftsweisen Herrn Schmidt ist sicher bewusst, dass er fromme Wünsche an Angela Merkel formuliert, die diese sicher wieder einmal ignorieren wird. Die deutsche Politik wird sich der Transferunion nicht verweigern.
Wer sich für die Debatte zur Reform der Europäischen Union interessiert, findet auf meiner Seite europa-reform.de Kommentare und Hintergrundmaterial.
Ulrike Trebesius ist Europaabgeordnete (Liberal-konservative Reformer).