Als die Bundeskanzlerin am Mittwoch, dem 24. März 2021, zu aller Verblüffung einen coronapolitischen Fehler einräumte, sich dafür entschuldigte und anschließend noch um Verzeihung bat, war ich baff: wofür das denn? Entschuldigung für einen Beschluss, der keine Rechtskraft erlangte? Etwas verzeihen, das gar nicht geschah? Ein Bluff, dachte ich erstaunt, aber wozu?
Am folgenden Donnerstag dann, dem 25. März 2021, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Alle Medien des Landes voll des Lobes oder voller Tadel, Merkel, Merkel über alles. Währenddessen tagte der Deutsche Bundestag, nahm sich 30 Minuten Zeit für die Aussprache über ein geplantes und anschließend verabschiedetes Gesetz, das kein Nachrichtenthema wurde und auch online nur marginal Widerhall fand: „Bundestag billigt EU-Schuldenaufnahme“ titelte lakonisch das Berliner Inforadio des rbb, des Rundfunks Berlin-Brandenburg, in seiner News-App und setzte an 10. Stelle (von 18) nach acht Coronameldungen genau 10 App-Zeilen ab:
„Der Bundestag hat mit großer Mehrheit die gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU für den Corona- Wiederaufbaufonds gebilligt. Union, SPD, Grüne und FDP hatten angekündigt, für den Gesetzentwurf zu stimmen, den sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss. Damit soll der EU- Kommission erlaubt werden, für den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Topf zum ersten Mal im großen Stil Schulden aufzunehmen. Der Regelung müssen alle EU-Länder zustimmen.“
Wer mit so kleiner Minderheit gegen den sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss gestimmt hat, weiß ich von t-online, daher auch die Zahlen. Wer weiß es noch – nicht die Stimmzahlen der Abgeordneten, sondern was da an Zahlungsverpflichtungen auf Deutschlands Steuerzahler zukommt? Die Fernsehzuschauer wissen es jedenfalls nicht. In der heute-Sendung von 19 Uhr ging es am Abend des 25. März 11 Minuten um Corona, 2 Minuten um Afghanistan, 1 Minute um den Suezkanal, kurz um Kindesmissbrauch, 2 Minuten um Cum-Ex-Geschäfte, aufgepeppt mit der Bemerkung eines Experten, es handele sich hierbei um den „größten Steuerraub in der deutschen Geschichte“, gut 1 Minute um den Tod von Uta Ranke-Heinemann – und dann der Sport. Das arte Journal um 19.20 Uhr brachte nichts zum Thema EU-Aufbaufonds, und um 20 Uhr in der Tagesschau ging es 10 Minuten um Corona, kurz um Biden und China, 2 Minuten um Kindesmissbrauch, knapp 2 Minuten um den Tod von Uta Ranke-Heinemann – und dann der Sport.
Worum es bei dem sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss geht, hat Roland Tichy bereits im Vorfeld am Sonntag, dem 21. März 2021, in einem am Entscheidungstag aktualisierten Beitrag klargemacht – den Lesern von Tichys Einblick. Die öffentlich- rechtlichen Abendnachrichten verwehren ihren Zuschauern am 25. März 2021 jeden Einblick; das Merkel’sche Staatstheater vom Vortag entfaltet seine beabsichtigte Wirkung: Corona, Corona und bloß nicht ans Bezahlen denken.
Dabei haben die 750 Milliarden mit dem Schaden, den die Coronapolitik den Bürgern zufügt, gar nichts zu tun: Die Einführung eines EU-Aufbaufonds in Höhe von rund 750 Milliarden Euro ist ganz im Gegenteil einer der Gründe, warum die Coronapolitik gerade zu ihrer dritten Welle auflaufen muss. Corona kann gar nicht lange genug dauern, um endlich, endlich all die langgehegten Vorhaben zur Optimierung der Euro- Rettungspolitik – und das sind nur die außenpolitischen Vorhaben – zu verwirklichen, die seit 2011 Jahr um Jahr versucht immer an einigen EU-Nordstaaten scheiterten: die Umwandlung der EU in eine ESU – die Europäische Schulden- Union.
Stell dir vor, du machst Schulden, und dein bester Freund bezahlt sie. Der beste Freund, den EU-Politiker bald haben werden, ist der deutsche Michel. Nicht der Michel, der die Abendnachrichten um 19 Uhr oder um 20 Uhr schaut. Der ist Ü67 und zahlt keine Steuern, jedenfalls keine, die nicht selbst aus Steuern oder Sozialabgaben stammen. Auch nicht der Michel, der die Abendnachrichten macht. Der ist U62 und zahlt ebenfalls keine Steuern, jedenfalls keine, die nicht selbst aus einer Zwangsabgabe stammen, dem Rundfunkbeitrag, für den rein netto nur solche Erwerbstätige aufkommen, die nicht im Staatsdienst tätig sind und also Steuern nicht aus steuerfinanziertem Einkommen bezahlen.
Das ist der deutsche Michel, der Nettosteuerzahler, der mehr Steuern zahlt, als er einnimmt, etwa durch Kindergeld. Er ist der beste Freund, den EU-Politiker bald haben sollen – und es ist die Kollusion deutscher und ausländischer EU-Berufspolitiker, die ihn dazu macht. Kollusion ist das Zusammenwirken zweier zum Schaden eines Dritten. Deutsche Berufspolitiker lassen ausländische EU-Berufspolitiker teilhaben am Abschöpfen jener deutschen Bürger, die als Steuerzahler mehr Steuern erwirtschaften als kassieren. Das ist der Handel. Das geschieht deutscherseits keineswegs aus Altruismus.
Das erste Jahrzehnt der Eurorettung begann im März 2011 und bedeutet bis heute, dass der deutsche Michel für die Schuldenaufnahme in anderen EU-Ländern bürgt. Das zweite Jahrzehnt der Eurorettung begann am Donnerstag, dem 25. März 2021, und es konnte beginnen, weil seit Samstag, dem 13. Februar 2021, auch das Empfängerland Italien einen neuen Ministerpräsidenten hat, den schlauesten Fuchs des Südens: Mario Draghi. Niemand in der EU kann das Geld aus dem Nichts, das zu schaffen sein Job bei der EZB war, so gut umverteilen wie er. Damit war das magische Quartett komplett: für Frankreich Christine Lagarde an der Spitze der Europäischen Zentralbank, für Italien Mario Draghi an der Spitze der Regierung, für Deutschland Ursula von der Leyen an der Spitze der Europäischen Kommission und für Deutschland zuhause Angela Merkel an der Spitze der Bundesregierung. Das doppelte Deutschland gibt das Geld, und Frankreich und Italien geben ihrerseits – endlich Ruhe. Win-Win.
Allerdings ist der Doppelstaat von 2021 nur ein Übergangsstadium: auf dass der eine Staat sich verliere und der andere über sich hinauswachse. Der eine ist die Bundesrepublik Deutschland, der andere die Europäische Union. Der Doppelstaat ist der Weg, die Umwandlung des Staatenbundes EU in einen föderalen Bundesstaat EU ist das Ziel; denn am Ende ist es wie beim Highlander: Es kann nur einen geben. Der Bundestagsbeschluss vom 25. März 2021 ist ein Meilenstein auf diesem Weg: Er soll die EU stillschweigend in eine ESU umwandeln, eine Europäische Schulden-Union. Das angestrebte neue Eigenmittelsystem der Europäischen Union, so die amtliche Bezeichnung, schafft eine EU mit Länderfinanzausgleich, der ja auch im deutschen Föderalismus, der eines Tages nur noch ein Binnenföderalismus sein wird, als Geschenk funktioniert.
Das ist raffiniert, Hut ab: Ohne dass die EU schon jetzt in einen Bundesstaat umgewandelt werden müsste, funktioniert sie fiskalisch wie einer: Die EU-Kommission wird nicht länger nur von den Mitgliedsstaaten alimentiert, das wird sie weiterhin, sondern sie darf künftig zusätzlich eigene Schulden aufnehmen, nominell die besagten 750 Milliarden Euro, darf diese dann als Eigenmittel behandeln und sie nicht nur an bedürftige EU-Staatseliten verleihen, sondern sie ihnen sogar schenken: 360 Milliarden Euro stehen als Darlehen zur Verfügung, aber 390 Milliarden Euro als Finanzhilfen, sprich: als Geschenk, das die entsprechenden EU-Länder, an erster Stelle – wer hätte es gedacht – Italien, wie die Empfängerländer des bundesdeutschen Länderfinanzausgleichs nicht zurückzahlen, sondern behalten und nach Belieben ihrer Berufspolitiker verteilen dürfen.
Die professoralen Stimme ist die von Matthias Herdegen, Professor für öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Bonn. Er ließ sie am Vortag in der FAZ erklingen – und auch in der NZZ war sie zu hören. Dort resümiert Herdegen gleich im ersten Satz: „An den bestehenden Verträgen vorbei nimmt die Europäische Union gerade eine neue Gestalt als Schulden- und Transfergemeinschaft an.“
Um bekannt zu machen, dass sie es bei ihrem parlamentarischen Nein zur EU-Verschuldung nicht bewenden lassen wolle, hatte die AfD-Bundestagsfraktion zu einer Pressekonferenz geladen. Sie begann um 11 Uhr, noch während der Bundestagsdebatte, im dritten Geschoss des Reichstags, der Fraktionsebene, einen Katzensprung vom Plenarsaal des Bundestags entfernt, in dem Fernsehteams, Print- und Onlinejournalisten die Reden der Abgeordneten verfolgten. Zur Pressekonferenz kam – ein Journalist, in Ziffern: 1. Dabei hatte die Einladung deutlich gemacht, worum es gehen sollte. „Thema: AfD-Fraktion klagt gegen EU-Verschuldung (NextGenerationEU) und stellt Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht.“ Klugerweise hatte die Pressestelle aber hinzugefügt: „Die Pressekonferenz kann auch als Stream im Internet verfolgt werden.“
Genau das hatte ich gemacht und mindestens noch eine weitere Journalistin, Corinna Budras, die Wirtschaftskorrespondentin der FAZ in Berlin, die noch selben Tags online berichtete, dass die AfD gleich nach erfolgter Abstimmung eine Organklage auf den Weg bringen werde, damit das Bundesverfassungsgericht mit einstweiliger Verfügung eine Unterschrift des Bundespräsidenten unter das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz – ERatG, wie es offiziell in Kurzform heißt, untersage.
Muss sich der deutsche Michel da wundern, dass er nicht nur nichts von dem Bundestagsbeschluss erfährt, in dessen Folge ihm tief in die Taschen gegriffen werden soll? Stell dir vor, dein Geld wird verschenkt und keiner sagt dir Bescheid – wie das geht, konnte ich am 25. März 2021 von 11 Uhr, Beginn der Pressekonferenz, bis 20.15 Uhr, Ende der Tagesschau, an meinem Rechner und später vor dem Fernseher in Echtzeit lernen. Und musste nicht länger über einen Bluff der Bundeskanzlerin staunen – außer, wie gut er funktionierte.
Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief