Tichys Einblick
Held oder Stellvertreter?

Selenskyj spricht im EU-Parlament

Wolodymyr Selenskyj, von den Medien als unerschrockener Wächter der Demokratie gefeiert, wendet sich am heutigen Dienstag an das EU-Parlament. Gefolgt von Erklärungen zu „1000 Tagen seit Beginn der groß angelegten Invasion der Ukraine durch Russland“. Ein Meinungsbeitrag von Friedrich Pürner, MEP (BSW)

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht auf einer Pressekonferenz während seines Besuchs beim Gipfeltreffen des Europäischen Rates am 18.10.2024

IMAGO / NurPhoto

Wenn in den letzten 2,5 Jahren Selenskyj Geld und Waffen forderte, fingen sehr viele Politiker sofort an, wie ein Echo genau das für ihn zu verlangen. Nur wer Waffenlieferungen und monetäre Unterstützung befürwortet, gilt als solidarisch. Wer die Person Selenskyj hinterfragte, wurde direkt ins „russische Eck“ gestellt und als Putin-Freund bezeichnet. Das Gleiche geschah, wenn Selenskyj den Beitritt zu EU und NATO ansprach und sich hierbei mehr Tempo wünschte. Frenetisches Kopfnicken und Versprechen zur Beschleunigung einerseits und abgrundtiefes Unverständnis für Kritik hieran andererseits.

Ein Hinterfragen von Selenskyj ist nicht erwünscht. Eine Heldengeschichte wurde und wird gezeichnet. Doch diese Heldengeschichte wirft Schatten, die eine genauere Betrachtung verdienen. Handelt es sich hier um einen echten Führer oder um eine Figur, die von westlichen Regierungen über die Bühne geführt wird?

In den Salons von Brüssel und den Redaktionsstuben der westlichen Medienwelt wird Selenskyj als mutiger Kämpfer gegen das russische Unrecht gefeiert, der die Ukraine mit Eisen und Elan gegen das Böse verteidigt. Doch diese glorreiche Rolle drängt gleich im Nächsten die Frage auf: Ist Selenskyj wirklich der Macher seiner eigenen Show oder wird er durch internationale Interessen dirigiert? Seine enge Zusammenarbeit mit westlichen Beratern und die Abhängigkeit von ausländischer Finanzierung lassen Raum für Spekulationen (Quelle: Spiegel, 2022).

Die EU und ihre Milliarden: Ein Preis für den Widerstand?

Die Europäische Union zeigt die Bereitschaft, ihre eigenen Regeln zu missachten, um der Ukraine finanziell unter die Arme zu greifen. Warum fließen Milliarden an ein Land, das von Korruption durchzogen und politisch instabil ist? Die Antwort mag in der geopolitischen Schachpartie zu finden sein, die Europa mit Russland spielt. Die EU, getrieben von dem Wunsch, Russlands Einfluss zu minimieren, scheint die Augen vor der Realität zu verschließen (Quelle: Euractiv, 2023). Das ist gefährlich.

Wer die Realität nicht kennt, kann nicht adäquat handeln. Insbesondere auf die Chancen, der EU beizutreten, hat sich der noch andauernde Krieg positiv ausgewirkt. Seit Juni 2022 ist die Ukraine EU-Beitrittskandidat. Selenskyj forderte die Beschleunigung des Prozesses. Im Juni 2024 wurden offiziell die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Es fällt auf, dass die Frage des EU-Beitritts der Ukraine im öffentlichen Diskurs von einer emotionalen Sichtweise geprägt ist. Die sogenannten Kopenhagener Kriterien, die die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt definieren, sind jedoch nüchtern zu betrachten.

Ideal oder ein Trugbild

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verlangen die Kopenhagener Kriterien. Selenskyjs Regierung hat durch Kriegsrecht und Medienkontrolle die demokratischen Prinzipien in Frage gestellt, was einen Rückschlag für die Demokratieentwicklung bedeutet (Quelle: Freedom House, 2022) und in Konsequenz auch einen Rückschritt bei der Erfüllung der notwendigen Kriterien.

Auch wirtschaftliche Stabilität bzw. eine funktionierende Marktwirtschaft wird gefordert. Die ukrainische Wirtschaft kämpft um Stabilität, verheddert in einem Netz aus Krieg und Korruption, untermauert durch ausländische Hilfen (Quelle: World Bank, 2023). Um dieses Kriterium steht es – objektiv betrachtet – nicht gut. Die rechtliche Angleichung durch Übernahme des EU-Rechts ist nach wie vor ein heikles Thema, besonders in der Korruptionsbekämpfung (Quelle: European Commission, 2023).

Die Schattenseiten der Ukraine

Im öffentlichen Diskurs wird kaum mehr über die Schattenseiten der Ukraine gesprochen. Gerade auf die hohe Kriminalität und den großen Schwarzmarkt sollten wir ein Augenmerk legen. Odessa, das Tor zum Schwarzmarkt, dient als Umschlagplatz für Drogen, Waffen und Menschenhandel (Quelle: UNODC, 2020). Auch die Bedrohung durch rechtsextreme Gruppen bleibt eine unterschwellige Gefahr für die demokratische Entwicklung (Quelle: Amnesty International, 2022).

Vor 2022 war es noch nicht verpönt, diese Problematik anzusprechen. Hierüber zu schweigen, halte ich für fatal.

Reformator oder Autokrat?

Zurück zu Selenskyj. Er tritt als Reformer auf, der Korruption bekämpfen und das Land westlich orientieren will. Doch seine Methoden wie die Kontrolle der Medien, die Verzögerung von Wahlen, wecken Zweifel an seiner demokratischen Integrität (Quelle: Reporters Without Borders, 2022). Macht verändert Menschen. Krieg verändert Menschen. Durch Wahlen kann die Bevölkerung einen Machtwechsel einleiten. Wahlen sollen Regierende demütig werden lassen und in Erinnerung rufen, dass das Wohl und der Wille der Bevölkerung an höchster Stelle stehen. So sieht es auch Art. 3 der Verfassung der Ukraine vor:

„Die Rechte und Freiheiten des Menschen und ihre Garantien bestimmen den Inhalt und die Richtung der Tätigkeit des Staates. Der Staat haftet vor dem Menschen für seine Tätigkeit. Die Bekräftigung und die Einhaltung der Rechte und Freiheiten des Menschen sind das Grundanliegen des Staates.“

Kriegsrecht hält Selenskyj im Amt. Selenskyjs Zustimmungswert bei den Ukrainern sinkt in Umfragen. Viele Ukrainer wünschen sich Verhandlungen. Wahlen sind gerade jetzt wichtig.

Die Ukraine unter Selenskyj steht an einer Kreuzung von Hoffnung und Herausforderung. Selenskyj mag vor allem in Westeuropa als Held gefeiert werden, doch die Realität zeigt einen Mann, der zwischen den Fronten von Reform und Kontrolle oszilliert.

Die EU-Milliarden sind vielleicht weniger ein Zeichen von Vertrauen als vielmehr ein Einsatz in einem größeren Spiel. Die Ukraine hat noch einen langen Weg vor sich, um die Ideale der EU zu verkörpern, und Selenskyj bleibt ein Akteur in einem Drama, dessen Drehbuch noch geschrieben wird.


Quellen:

Spiegel (2022): „Der Westerndeal: Wie Selenskyj die Ukraine in den Westen führen will“
Euractiv (2023): „EU’s Financial Aid to Ukraine: A Geopolitical Strategy?“
Freedom House (2022): „Nations in Transit: Ukraine“
World Bank (2023): „Economic Update for Ukraine“
European Commission (2023): „EU-Ukraine Association Agenda Progress Report“
UNODC (2020): „Global Report on Trafficking in Persons“
Amnesty International (2022): „Human Rights Report: Ukraine“
Reporters Without Borders (2022): „World Press Freedom Index“

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