Nichts symbolisierte die verpatzte und verschleppte Antwort der EU-Kommission auf die Corona-Krise wohl besser als ein offizielles, doch gleichwohl dubioses Video, das in die sozialen Netwerken lanciert wurde: Wir sehen die unter fragwürdigen Umständen – und unter klarem Verstoß gegen die Prinzipien der Spitzenkandidaten-Wahl – ins Amt gehievte Präsidentin von der Leyen, wie sie sich unaufgeregt und genussvoll die Hände wäscht und dazu die angebliche “Hymne” der Europäischen Union pfeift – auf den Text von Beethovens “Ode an die Freude” muss freilich verzichtet werden, denn der wäre ja auf Deutsch und so viel nationale Identität auf einmal ist den EU-Oberen nicht geheuer. Wir lernen: So geht Händewaschen also in der Praxis, gründlich ausgeführt dauert das Ganze so lange wie ein kleines Liedchen. Auch wenn die gemeinsame Beschaffung des Impfstoffes eher einem Fiasko ähnelte, so kann man von der EU-Kommissionspräsidentin doch immerhin das lernen, wozu andere Menschen eigens den Kindergarten besuchen müssen: Gründliches Händewaschen ist der Hygiene zuträglich.
Aber die sichtlich überforderte Personalie allein macht das ganze Elend des europäischen Integrationsprozesses natürlich nicht aus. Viel mehr steht im Raum: Zum einen stellt sich ernsthaft die Frage, welchen Mehrwert die offensichtlich erschlaffte EU den Mitgliedsstaaten noch bietet, zumindest den nördlichen. Zum anderen ging in der Schadenfreude über den chaotischen Brexit und dessen Folgewirkungen die Frage völlig unter, welche Auswirkungen der Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas denn nun für die verbleibenden Länder haben könnte. Um beides geht es in diesem Teil des Artikels. Im zweiten Teil steht dann die Frage im Vordergrund, ob und wie die EU noch reformierbar ist.
Dass die EU seit Jahren vor sich hin stagniert, ist keine neue Erkenntnis, wohl aber neu (und auch: ungern gehört!) ist die Frage, ob die Institutionen noch deutlichen Mehrwert zu bieten haben. Anders formuliert: Ist die EU-Mitgliedschaft, in Deutschland fast schon als unumstößliche Tatsache und – wie so vieles in der aktuellen deutschen Politik – als “alternativlos” gehandelt, tatsächlich noch von Vorteil und den enormen finanziellen Aufwand wert?
Schauen wir uns kurz und skizzenförmig drei Politikfelder an, in denen die EU Vorteile verspricht, die angeblich aus gemeinsamem Handeln entstehen, und zwar: Sozialpolitik, Umwelt und Klima sowie Einwanderung.
Mit viel Brimborium zur Zeit der Maastrichter Verträge Anfang der 90er Jahre angekündigt, sollte das „l’Europe sociale“ die wirtschaftsliberalen Tendenzen des gemeinsamen Binnenmarktes flankieren. Kühne sozialdemokratische Träumer hofften gar auf eine Art Nivellierung der Sozialstandards und Arbeitsvorschriften nach oben. Zukünftig würden dann die Arbeitsverhältnisse (und vielleicht auch eines fernen Tages die Gehälter und Löhne) von Stockholm und Kopenhagen ausgehend festgeschrieben werden, also auf hohem skandinavischen Niveau und nicht etwa in Spanien oder im gerne als exzessiv wirtschaftsliberal karikierten Großbritannien.
Große Hoffnungen, gewiss, nur ist eben 30 Jahre später wenig davon in Erfüllung gegangen. In den 90ern gab es ein paar bescheidene EU-Richtlinien, die beispielsweise die Diskriminierung von Angestellten in Teilzeit untersagen. Schon in den Nullerjahren war dann die Luft draußen: Man einigte sich auf bescheidene Anpassungen auf nationalstaatlicher Ebene und hatte sich vom Ziel der gemeinsamen Richtlinien auf EU-Ebene weitgehend verabschiedet. Spätestens mit der EU-Osterweiterung 2004 war auch deutlich geworden, dass das Interesse an generösen Arbeitsmarkt- und Sozialstandards auf EU-Ebene gar nicht mehr mehrheitsfähig war. Die Neuzugänge aus Mittel- und Osteuropa sahen gerade in ihren niedrigeren Löhnen, dem zurückgebauten Wohlfahrtsstaat und den vergleichsweise bescheideneren Staatsquoten und Steuern handfeste Standortvorteile und hatten an einer Skandinavisierung gar kein Interesse.
Von einer Nivellierung nach oben oder einer Flankierung des liberalen Freihandels kann also keine Rede mehr sein und der sozialdemokratische Traum vom sozialen Europa darf getrost als gescheitert bezeichnet werden. Fast wird sogar umgekehrt ein Schuh draus: Durch das dogmatische Festhalten an der unkontrollierten Freizügigkeit im Personenverkehr entsteht Druck auf die Mitgliedsstaaten, die nun auch EU-Einwanderung in die Sozialsysteme zulassen müssen, Kindergeldzahlungen ins Ausland vorzunehmen haben und Sozialdumping oft nur mit großen Schwierigkeiten unterbinden können.
In Sachen Umweltpolitik und Klimaschutz sieht es nur oberflächlich besser aus. Das Mantra lautet in diesem Fall, dass sich nur auf europäischer Ebene Lösungsansätze realisieren lassen, Kleinstaaterei regressiv sei und Luft- und Wasserverschmutzung selbstredend nicht an Landesgrenzen halt mache. In Sachen Klimaschutz spielt die moralische Komponente eine große Rolle: Man will es den Amerikanern ebenso zeigen wie den Chinesen und Indern vormachen, dass sich grünes Wachstum eben doch realisieren lässt. Dass zumindest die Asiaten an diesen Nachhilfestunden aus dem stagnierenden Europa gar nicht interessiert sind, scheint am Selbstvertrauen wenig zu rühren.
Was genau hat die EU denn nun in Sachen Umweltschutz geleistet? Das de facto Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat im Verbund mit der nicht vorhandenen juristischen Basis in den ursprünglichen Römischen Verträgen können den bescheidenen und stockenden Fortschritt bis Maastricht 1993 erklären. Und immerhin: Strengere Wasser- und Luftschutzbestimmungen existieren dank der EU und dies auch in Ländern, in denen sich auf nationalstaatlicher Ebene solcherlei ganz sicher nicht ergeben hätte. Doch genau darin liegt die Krux: Denn letztlich nivellierte die EU bis in die 90er Jahre hinein zwar im Schneckentempo, aber doch mit Erfolg die Standards nach oben, nur galt das eben nicht in Deutschland oder im Norden, Ländern also, deren Standards in der Regel nicht nach oben anzupassen waren. Ein durchwachsenes Bild also und für den Norden eigentlich kein echter Vorteil.
In Sachen Klimaschutz weist man gerne auf Europa 20/20/20 hin: Bis 2020 sollten alle Mitgliedsstaaten mindestens 20 Prozent des nationalen Energiemixes aus alternativen Energieformen beziehen, um 20 Prozent verglichen mit 1990 sollten die klimaschädlichen Emissionen reduziert werden und Energieeffizienz sollte um 20 Prozent verbessert werden. Planziel erreicht, jubilierte die EU-Kommission; im Kleingedruckten gibt die europäische Umweltbehörde freilich zu, dass die wohl einmaligen Beschränkungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft im Zuge der Corona-Pandemie wohl erheblich zum Erfolg beitrugen.
Die 20/20/20-Agenda, obgleich vorgeblich freiwillig in der Umsetzung, schaffte also genügend politischen Druck auf die Mitgliedsstaaten, um die recht ehrgeizigen Ziele des Klimaschutzes umzusetzen, obgleich eine nähere Analyse auch hier ergibt, dass viele der Klimaziele im nördlichen Europa ohnehin bereits erreicht waren. Und dennoch: Folgenlos war die EU in diesem Politikfeld nicht. Hier wurden tatsächlich Impulse gesetzt. Ob man diese begrüßen mag, ist sicher eine Frage der politischen Positionierung. Unbestritten hat die EU in den “Bremserstaaten” im Nordwesten und entlang des Mittelmeers für höhere Standards gesorgt und ganz unbedeutend war der Druck aus Brüssel in Sachen Klimaschutz ebenfalls wohl nicht. Speziell auf Deutschland bezogen ist freilich der Mehrwert wohl arg bescheiden.
Und man kann sogar auf echte Nachteile hinweisen, die Kompetenzverlagerung nach Brüssel mit sich zieht. So verschärfen die 2019 eingeführten CO2-Flottengrenzwerte (EU 2019/631) einseitig den Druck auf die deutsche Autoindustrie, Hybrid- oder Elektrofahrzeuge einzuführen. Ein solcher Druck auf die Auto- und Zuliefererindustrie ist aber geradezu auf die zentrale Wachstumsmaschine ausgerichtet; die von solchen Vorgaben befreiten Chinesen wird es wohl eher freuen. Impulse zur Entwicklung elektronisch betriebener Autos enstanden durch die Konkurrenz aus den USA ohnehin, wobei diese steuerlich stark gefördert war und ist, also kein echtes durch Nachfragedruck entstandes Produkt. Die Umweltverträglichkeit gerade letzterer Technologie ist aber angesichts des zur Herstellung der Batterien nötigen Rohstoffabbaus und nicht zuletzt der völlig unzureichenden Netzstromversorgung, der zur Bedarfsabdeckung eines exponentiell anwachsenden Elektroauto-Anteils am Gesamtfahrzeugmarkt nötig wäre, gar nicht gewährleistet. Dass gerade die Hersteller schwererer Limousinen – also eher Mercedes-Benz als Fiat – an solchen nach kalifornischem Vorbild orientierten Zielvorgaben mehr zu knabbern haben als nicht-deutsche, ist wohl kein Zufall.
Gerade im angeblichen Vorbildsstaat Kalifornien aber lassen sich schon heute die Schattenseiten dieser Zielvorgaben besichtigen: Stundenweise Stromausfälle, ein völlig überlastetes Stromnetz, das Zukäufe aus anderen US-Bundesstaaten erzwingt, und ein Anteil von nicht-fossilen Energiequellen von nur rund einem Drittel werfen ernsthafte Fragen auf. Welche Schattenseiten eine einseitige Ausrichtung auf Solar- und Windenergie in einem geologisch völlig anderen Kontext haben kann, erlebt Deutschland gerade diesen Winter.
Kommen wir nun auf das Thema Einwanderung zu sprechen. Die Grundkomponenten stellen sich schnell dar: Die EU verspricht den Bürgern ihrer Mitgliedsstaaten vollständigen Zugang zu allen Arbeitsmärkten, Sozialsystemen und Wohnungsmärkten der jeweils anderen. In einem Europa mit Lohngefällen von 1:16 und einem schwer quantifizierbaren, aber mindestens ebenso hohen Gefälle in Sachen Sozialtransfers birgt diese vorgebliche Freizügigkeit enormen sozialen, finanziellen und politischen Sprengstoff.
Doch die EU verspricht auch gemeinsame Standards in Sachen Asyl, Familiennachzug, Einwanderung zu Erwerbszwecken und gemeinsame Initiativen in Sachen Grenzschutz und Abschiebung zu entwickeln respektive bereits zu bieten. Einschränkend lässt sich konstatieren: Im Detail wurde vieles aus politischem Kalkül den einzelnen Regierungen überlassen, gerade politisch brisante Entscheidungen, wie die der Festlegung eines jährlichen Kontingentes für Hochqualifizierte oder natürlich die einzelnen Entscheidungen zur Anerkennung von Asylbewerbern. Für echtes Vertrauen sorgt nicht gerade, dass der Schengenraum mittlerweile genau zu dem mutiert ist, was Kritiker seinerzeit befürchteten: Ein grenzenloses Europa entledigt sich ohne Not der Erschwerung grenzüberschreitender Kriminalität, gleich ob es um Drogen-, Waffen- oder auch Menschenhandel geht.
In der Praxis wird Dublin I seit Jahren schlicht ignoriert: Die Südstaaten erhalten nicht genügend Unterstützung bei ihrer Grenzsicherung und rascher Abschiebung von Wirtschaftsflüchtlingen, müssen sich zudem noch mit teils professionell organisierten Schlepperbanden und selbsternannten “Seerotnettern” herumschlagen. Im Norden greift man dem Süden nur zögernd unter die Arme bei der Grenzsicherung, toleriert aber gleichzeitig, dass praktisch alle der eintreffenden Asylbewerber unter Umgehung von Dublin I eben nicht in Italien, Griechenland oder einem anderen Ankunftsland einen Asylantrag gestellt haben. In der Einwanderungskrise von 2015 entpuppte sich die EU als hilfs- und wirkungslos: Es waren die Balkanländer, die die Transitroute verschlossen. Nationale Irrlichtereien wie Merkels folgenschwere Grenzöffnung konnte (und wollte) die EU nicht verhindern. Da sich nun die Asylbewerberzahlen wieder aktuell dramatisch erhöhen und mit einer Welle von Syrern zu rechnen ist, die die Türkei Richtung EU verlassen wollen, wird sich diese erneut einer Probe ausgesetzt sehen. Es ist schwer absehbar, welchen Beitrag zur Krisenlösung (nicht aber: -verschleppung oder -verschärfung!) die EU hierbei leisten wird und kann.
Dass der Migrationsdruck angesichts anhaltender politischer Spannungen im Nahen Osten, den enormen Geburtenzahlen in Schwarzafrika, beispielsweise in Niger und Nigeria, anstehender Wasserknappheit und möglicher Klimaverschlechterung in Nordafrika und im Nahen Osten, eher weiter zunehmen wird, scheint ausgemacht. Nur ist eben kaum Handlungswille in Brüssel zu erkennen und auf nationalstaatlicher Ebene herrscht eine widersprüchliche Gemengenlage vor: Eine kleine und kleiner werdende Gruppe von extremen Migrationsbefürwortern wie das ampelregierte Deutschland und bislang Schweden, zweite Gruppe von resignierten und unstet agierenden Ländern in Frankreich, in denen der kulturelle Selbstbehauptungswille bislang ebenfalls noch schwach zu sein scheint und entschiedenen Einwanderungsgegnern wie Polen und Ungarn.
Gut möglich, dass angesichts der von den EU-Technokraten und einigen Mitgliedsstaaten bislang eisern abgestrittenen beziehungsweise ignorierten Schattenseiten der Masseneinwanderung eine Gewichtverschiebung hin zum dritten Lager stattfinden wird. Erste Vorboten dafür wären etwa die Ergebnisse der Wahlen in Schweden und Italien, oder auch der Kurswechsel der dänischen Sozialdemokraten. Nur ist dies bislang eher Zukunftsmusik.
Was also ist geblieben von der Aufbruchstimmung des Gipfeltreffens von Tampere anno 1999, auf dem die politische Einigung auf europäische Lösungen im Politikfeld Einwanderung und Asyl gefunden wurde? Die Grundzüge einer europäischen Einwanderungspolitik stehen: Richtlinien zu praktisch allen legalen Formen der Einwanderung sind ausgehandelt und waren umzusetzen. Die im wirtschaftlichen wie auch politischen Sinne des Terminus liberale Haltung der Kommission stieß dabei nicht immer auf Gegenliebe. Letztlich sind es die Regierungen der Mitgliedsländer, die vor dem Wähler Rechenschaft ablegen müssen. Dogmatisches Beharren in Brüssel auf längst überholten Behauptungen, etwa der, dass der Fachkräftemangel nur durch Einwanderung statt durch Qualifizierungsmaßnahmen und Lohnerhöhungen beizulegen wäre, sorgen nicht gerade für Vertrauen in die Kompetenz der EU-Kommission.
An geleisteter Arbeit in Sachen Richtlinien herrscht zwar kein Mangel, nur muss die Frage erlaubt sein, welchen Mehrwert denn nun die Kommission in diesem Politikfeld eigentlich geleistet hat. Wenn doch zentrale Entscheidungen ohnehin von den Mitgliedsstaaten übernommen werden, hat das Korsett der EU-Richtlinien überhaupt eine positive Wirkung? Praktisch von Signifikanz war die EU mit Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, wo der Corpus des Einwanderungsrechts entweder gar nicht existierte oder völlig veraltet war. Für die anderen Staaten blieb die EU eigentlich von geringer Bedeutung: Die Frage muss erlaubt sein, warum sich ein derart zentrales Thema nicht ohnehin zielgerichteter auf nationalstaatlicher Ebene angehen lässt.
Das Vollversagen bei der effizienten Koordinierung von Grenzkontrollen kann wohl kaum unerwähnt bleiben. Gerade in der einen politischen Angelegenheit, in der paneuropäische Koordination sinnvoll wäre, da ja eine rigorosere Kontrolle der Außengrenze in aller Interesse sein muss, bleibt die EU-Behörde Frontex ineffizient und von wenig Wirkung. Letztlich waren es die Balkanländer, die 2015 die Masseneinwanderungswelle stoppten, von denen nicht alle überhaupt in der EU sind. Die EU-Behörden lieferten keinen Lösungsansatz und konnten auch den Merkel’schen Sonderweg weder stoppen, noch schienen sie dazu gewillt. Arge Schelte gab es dagegen gen Budapest, wo der demokratisch gewählte Präsident nach einigem Zögern die Grenze und somit auch den Schengenraum und den Geist von Dublin I schützen ließ und sich dafür wüstem Gepöbele und den zu erwartenden geschichtsklitternden Faschismus-Vergleichen aussetzen lassen musste.
Weder zu Krisenzeiten, in denen Mitgliedsländer schlicht nach eigenem Gutdünken schalten und walten, auch wenn dies, wie unter Merkel ein klarer Verstoß gegen die Bestimmungen und den Geist von Schengen und Dublin I darstellt, noch im alltäglichen Politikbetrieb wird also offensichtlich, welchen Nutzen und Mehrwert die Europäische Union denn nun konkret bietet. Wäre ein Europa mit wiedereingeführten Grenzkontrollen wirklich ein schlechteres? Das bei den sporadisch und temporär wiedereingeführten Kontrollen – beispielsweise im Rahmen von G-7-Gipfeltreffen – Ausmaß an aufgegriffenen illegalen Einwanderern, polizeilich Gesuchten und anderen Verbrechern spricht in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache.
Was genau bietet denn nun die EU ihren Mitgliedsstaaten im Gegenzug für den enormen Obulus an Zahlungen und die spürbaren Beschränkungen der nationalen Eigenständigkeit? Die Bilanz ist keineswegs geradeweg positiv und der Binnenmarkt von einst ist mit einer solchen Wulstigkeit an zusätzlich usurpierter Machtfülle überdeckt worden, dass sich die Frage nach dem cui bono aufdrängt.
Ein wenig mehr Nabelschau hätte auch im Zuge des Brexit der EU gut zu Gesicht gestanden. Gewiss: Der knallharte Verhandlungskurs gegenüber den Briten war Kalkül. Nur steckte eben auch die Taktik dahinter, potenziell Abtrünnigen, etwa in Tschechien oder Dänemark aufzuzeigen, was im Falle ernsthaft betriebener Abspaltungstendenzen denn nun auf sie zukäme. Eine Organisation, die aktiv den Austritt unwilliger Mitglieder verhindert, statt über eigene Fehler zu sinnieren oder ernsthaft Reformen zu debattieren, und dabei noch mit brachialer Rhetorik auffällt – weit entfernt vom modus operandi der Mafia oder US-amerikanischen Straßengangs sind wir hier nicht mehr.
Tatsächlich erweist sich der Brexit bei aller Häme über den verschleppten und chaotischen Austritt der Briten auch für den Rest Europas als unangenehme Mehrbelastung. Konkret: Ein größerer Netto-Beitragszahler fällt komplett aus, die Beiträge werden (nur vorübergehend?) von einer deutschen Bundesregierung übernommen, in der offenbar volkswirtschaftliche Grundkenntnisse Mangelware sind. Die Staatsverschuldung sinkt so ganz sicher nicht. Mit den Briten fällt ein pragmatisch-nordisches Mitgliedsland weg, das Szenario einer mediterraneren und etatistischeren Union wird immer wahrscheinlicher. Mit dem wahnwitzigen vulgärkeynesianischen Ausgabepaket “Next Generation EU” im Umfang von 800,9 Milliarden Euro ist der Einstieg in die Schulden- und Transferunion bereits geschehen – und ganz sicher nicht zu Deutschlands Gunsten.
Ob die wirtschaftlichen Verwerfungen und der Preisauftrieb, der derzeit in Britannien zu verzeichnen ist, sich sauber von den Folgen der Corona-Pandemie und der allzu lockeren Geldpolitik der britischen Zentralbank trennen lassen, bleibt unklar. Langfristig ist es keineswegs ausgemacht, ob die verspottete Strategie einer globaleren Ausrichtung Großbritanniens in Sachen Handel verkehrt sein muss, wie sie von interessierten Kreisen gerne dargestellt wird. Das Land blieb weniger auf Europa ausgerichtet als alle anderen EU-Staaten und kann sich daher einfacher neu ausrichten als im Falle beispielsweise eines dänischen Austritts. Handelsschranken mit einem G-8-Land und der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas sind für eine Exportnation wie Deutschland ein erhebliches Ärgernis, trotz Handelsbilanzüberschuss.
Eine mediterranere Union, wie sie sich im Kurs der von der Französin Lagarde geführten Zentralbank bereits manifestiert, kann weder im deutschen Interesse sein, noch lassen sich die laxe Geldpolitik und die Hortung von Staatsanleihen mit traditionellen deutschen wirtschaftspolitischen Prioritäten auch nur entfernt in Einklang bringen. Hier ist also im Grunde nur der fortgesetzte Kurs des Einknickens vor Frankfurt denkbar, wie er ja von der sichtlich inkompetenten Ampel-Regierung verfolgt wird, oder aber eine radikalere Ablehnung, denn als Einzelmitglied im Rat wird der deutsche Vertreter auch in Frankfurt stets überstimmbar sein. Und schließlich: Der Einstieg in die Transferunion und die de facto Staatsfinanzierung Südeuropas auf Kosten des deutschen Steuerzahlers löst die strukturellen Probleme des Südens nicht, sondern deckt sie nur mit deutschen Steuergeldern zu. Ebendiese werden aber von einer schrumpfenden Zahl von Erwerbstätigen erwirtschaftet.
Bleibt festzuhalten: Ein kurzes Resumée der Vorzüge der EU-Mitgliedschaft fällt deutlich durchwachsen aus. Eine ehrliche Bilanz für Deutschland muss eben die unumstößliche Tatsache ins Auge fassen, das vieles an EU-Aktivität im Grunde einer Nivellierung nach oben in Sachen Regulierung in den südlichen und östlichen Mitgliedsstaaten gleichkam. Der Mehrwert für Deutschland fällt indes bescheiden aus.
Vor dem Hintergrund der enormen Beitragszahlungen muss die ehrliche Frage erlaubt sein: Ist eine über einen Binnenmarkt herausreichende EU tatsächlich im nationalen Interesse Deutschlands? Für die aktuell in Berlin lavierende Ampel-Koalition stellt sich die Frage sicher nicht. Die derzeit als Außenministerin scheiternde Grüne Baerbock hat sich im Rahmen des Ukraine-Konfliktes recht offen über ihre Geringschätzung des deutschen Wählers geäußert, an ähnlich offen verächtlichen Sprüchen ihres Genossen Habeck bezüglich seines offenbar pathologischen Verhältnisses zu seinem Heimatland herrscht ebenfalls kein Mangel.
Wer aber über die Ampel-Hasardeure hinausdenkt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum diesen Winter endlich erreicht zu sein scheint, darf sich, nein: muss sich mit der Frage beschäftigen, ob der Brexit nicht auch die Chance zur deutlichen Kurskorrektur in Sachen EU bedeuten soll und kann. Das freilich wäre nur mit einer gründlich reformierten und ent-merkelten politischen Koalition aus der politischen Mitte und Mitte-Rechts zu bewerkstelligen: Auch in diesem Bereich ist von der deutschen Linken nichts Positives oder Konstruktives zu erwarten. Und rechts der Mitte müsste man sich vom Merkel’schen Abnicken des Kurses gen Vereinigte Staaten von Europa endlich distanzieren. Wie eine Alternative zur Vollkaskoversicherung des europäischen Südens durch deutsche Steuerzahler aussehen könnte, werde ich im zweiten Teil ausführen.
Georg Menz ist Professor für Internationale Politik an der Old Dominion University in Norfolk, Virginia, USA. Der Band “The Resistible Corrosion of Europe’s Center-Left after 2008” ist in diesem Jahr bei Routledge in London erschienen.