Das Surfen auf der aktuellen Anti-Zucker-Welle bringt zahlreichen Organisationen, Autoren, die in Büchern ihr zuckerfreies Leben preisen, oder Wirtschaftsunternehmen wie Foodwatch mediale Aufmerksamkeit und gute Einkünfte. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) drängt sich jetzt in das zeitgeistliche Rampenlicht. Damit setzt sie ihre Reputation als eine der seriösen Wissenschaft verpflichtete Institution aufs Spiel.
Gemeinsam mit der Deutschen Adipositas-Gesellschaft und der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, die beide die angebliche Diabetes-Epidemie als Existenzgrundlage im Schulterschluss mit der Pharmaindustrie brauchen, ist eine „Quantitative Empfehlung zur Zuckerzufuhr in Deutschland“ in Form eines Konsensuspapiers vorgelegt worden. Damit schließen sich diese Gesellschaften der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2015 an, welche die Zufuhr freier Zucker von bislang maximal zehn Prozent auf fünf Prozent der Gesamtenergiezufuhr beschränken will. Basis für diese Empfehlung der WHO waren drei Beobachtungsstudien zur Reduktion von Karieshäufigkeit. Was der defekte Zahn mit einem adipösen Körper, um den es vorrangig gehen soll, zu tun hat, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Auf die Taschenspielertricks der Anti-Zucker-Lobby wird deshalb noch einzugehen sein.
Multikausale Phänomene monokausal lösen
Was sich auf den ersten Blick ebenfalls nicht erschließt, ist die Vorstellung der DGE und der Diabetes-Gesellschaften, das multikausale Problem von Übergewicht bzw. Adipositas, so die Formulierung im Konsensuspapier, durch eine monokausale Maßnahme wie die staatliche Bevormundung beim Zuckerkonsum durch regulierende Initiativen zu lösen. Aber warum sollen Wissenschaftler sich den Kopf über die Komplexität einer multikausalen Problematik zerbrechen, wenn die Agitation gegen den als Sündenbock für eine fantasievolle Palette von Krankheiten verantwortlich gemachten Zucker bei allen anderen Interessengrüppchen so famos funktioniert. Die neuen Führer der DGE wollen auf den Zug des Zeitgeistes aufspringen. Dass sie damit die Glaubwürdigkeit ihrer Institution verspielen, darf kein Hindernis für ein innovatives DGE-Marketing sein.
Die 1989 von der WHO gegebene Empfehlung, die Zufuhr freier Zucker auf zehn Prozent der Gesamtenergiezufuhr zu beschränken, wurde 2015 durch eine so genannte Empfehlung mit eingeschränkter Aussagekraft ergänzt, nach der die Zufuhr auf unter fünf Prozent reduziert werden soll. Diese Empfehlung, die auf drei Beobachtungsstudien zur Reduktion von Karieshäufigkeit basierte, wurde von der DGE bisher wegen nicht fundierter Belege zu Recht abgelehnt.
Jetzt gibt es auch keine wissenschaftlich seriösen Belege für die Empfehlung, aber einen trendigen Zeitgeist, den man offensichtlich nicht verpassen möchte. Die Basis für die WHO-Empfehlung zu prüfen, hätte Sinn gemacht. Der Hintergrund der Empfehlung ist skandalös. Der von der Pharmaindustrie mit seinen Organisationen nachweislich finanzierte Prof. Philip James, der die WHO durch sein geschickt aufgebautes NGO-Netzwerk seit Jahrzehnten in Ernährungsfragen dominiert, hat aus 70 Jahre alten Daten von japanischen Beobachtungsstudien zur Karieshäufigkeit aktuelle Ernährungsempfehlungen für die Welt gemacht.
Um den antiquierten Zahndaten aus Japan einen aktuellen Biss zu geben, hat er mit seinem emeritierten Kollegen Aubrey Sheiham im September und Oktober 2015 Zusammenfassungen formuliert, die unter dem Titel „Anregungen zur Limitierung des Zucker-Konsums“ programmatischen Charakter und neuen akademischen Glanz erhalten sollten. Für die WHO ist ein derart niedriges Niveau von Wissenschaft durchaus eine seit Jahren gepflegte Vorgehensweise.
Wissenschaft ohne Kenntnis
Die Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. das Fehlen solcher Erkenntnisse führt bei der WHO zu eminenzbasierten und nicht zu evidenzbasierten Vorschriften für die Menschheit. Mit dem GRADE-System (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) wird wissenschaftliche Qualität bewertet. Das „Journal of Clinical Epidemiology“ hat sowohl 2013 als auch 2015 umfangreiche Studien zu den von der WHO herausgegebenen Richtlinien und deren Hintergründen publiziert. Die Ergebnisse sind vernichtend. So stellte man beispielsweise 2013 fest, dass von 289 Empfehlungen 55,5 Prozent ausgesprochen wurden, obwohl das Studienniveau unter wissenschaftlichen Aspekten als niedrig oder sehr niedrig zu werten war. Und dabei handelte es sich um so genannte „strong recommendations“, also nicht um Empfehlungen mit eingeschränkter Aussagekraft, bei denen sogar der WHO selbst die Studienqualität unheimlich erschien.
Die Untersuchungen nach dem GRADE-System haben eindrucksvoll gezeigt, dass die WHO-Richtlinien seit Jahren mehrheitlich auf Studien basieren, deren Niveau sie eher für den Papierkorb qualifiziert. Diese leichtfertige Formulierung offensichtlich substanzloser Empfehlungen steht massiv in der Kritik. Das „National Center for Biotechnology Information“ publizierte 2015 die Schlussfolgerung, dass die Integrität der WHO wegen nachweislich unwissenschaftlicher Arbeit gefährdet ist. Eine die Adipositas-Diskussion steuernde Organisation wie die von James gegründete International Obesity Task Force (IOTF) darf das nicht stören. Für ihre millionenschwere Finanzierung durch die Pharmaindustrie muss sie schließlich Leistungen bringen.
Schluss mit Fakten
Diesem Niveau schließt sich jetzt auch die DGE an. Bisher hatte sie ihre ablehnende Position zur WHO-Richtlinie damit erklärt, dass es schwierig sei, klare Dosis-Wirkungs-Beziehungen und Grenzwerte für Zucker abzuleiten, da die Empfehlung der WHO auf einer schwachen Evidenz basiere. Das ist seriös, aber offenbar nicht mehr zeitgerecht. Und sogar das Karies-Argument wird von der DGE aus dem Archiv der Vorurteile geholt.
Dabei muss man natürlich ignorieren, dass die im August 2016 publizierte Mundgesundheitsstudie der Bundeszahnärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung dokumentiert, dass die Karieshäufigkeit um den Faktor Zehn zurückgegangen ist und heute 81,3 Prozent der zwölfjährigen Kinder, die angeblich mit allen Mitteln vor der Limonade zu schützen sind, vollkommen kariesfreie Gebisse haben. Ideologen dürfen sich nicht durch Tatsachen von ihren Überzeugungen abbringen lassen.
Mit dem Übergewicht ist es ähnlich wie mit den kariösen Zähnen. Es ist seltener als man die Menschen, die eigentlich immer gesünder werden und länger leben, glauben machen will. Fast täglich ist zu lesen, dass bis zu zwei Drittel der Deutschen zu dick sind. Wer Patienten braucht, muss pragmatische Grenzwerte definieren oder neue Krankheiten, die so genannten Prä-Erkrankungen, erfinden. Prä-Diabetes ist so eine. Das könnte fast jeder haben.
Mit dem Übergewicht ist es nicht anders. Ende der 90er Jahre wurden die Grenzwerte deutlich gesenkt. Kräftige Menschen wurden schlagartig zu dicken oder sogar adipösen. So schafft man lohnendes Behandlungspotential. Für Therapien und Pillen werden Kunden gebraucht. Gesunde Menschen sind für viele Unternehmen und Organisationen in der Medizin ein ökonomischer Störfaktor. Dem ist durch Intervention nach dem der Wirtschaftlichkeit gehorchenden Grundsatz, dass es keine Gesunden, sondern nur schlecht diagnostizierte Kranke gibt, am besten beizukommen. So gestaltet man Märkte.
Alarmstimmung wird verbreitet. Unsere Kinder sollen auf dramatische Weise immer dicker werden. Nach dem aktuellen DAK-Gesundheitsreport NRW ist das im bevölkerungsreichsten Bundesland bei 3,6 Prozent des Nachwuchses ein Problem. Sollen künftig 96,4 Prozent auf Erfrischungsgetränke und Zucker im Müsli verzichten, um dieser „Epidemie“ zu entkommen? Die Prävalenz für Typ-2-Diabetes liegt bei Jugendlichen bis zum 19. Lebensjahr bei 0,03 Prozent bei Jungen und 0,04 Prozent bei Mädchen. Diabetesvereine und Pharmafirmen sehen das mit Sorge. Trotz einer zunehmend körperlich inaktiven Gesellschaft, deren Bewegungsmangel tatsächlich therapiert werden sollte, sind wir gesünder, als uns die tägliche Panikmache einreden will.
Populismus statt Evidenz
Die DGE will im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit wahrgenommen werden. Da muss dann die Wissenschaft der Marketing-Strategie geopfert werden. Prof. Dr. Peter Stehle war in seiner Zeit als Präsident der DGE ein Wissenschaftler mit hohem Anspruch. Im Januar 2016 bekannte sich Prof. Stehle zu einem gravierenden Problem der Ernährungsforschung: „Wir können nicht genügend wissenschaftliche Evidenz liefern.“ Formulierungen wie gesund und ungesund, so Stehle, seien falsch, weil sie suggerieren würden, dass eine darf ich, das andere darf ich nicht.
In der Ernährungsforschung, so führt er aus, dürfe es kein schwarz und weiß geben, auch wenn viele das gerne hätten. Und zum Einfluss der Ernährung auf die Verfassung des Menschen stellt er unmissverständlich fest: „Das lässt sich nicht quantifizieren. Niemand weiß das.“ Auch zum Thema Körpergewicht hat er eine überzeugende Empfehlung. „Wenn ich weniger Energie verbrauche, muss ich dann halt weniger essen.“ Das Gewicht ist also eine Konsequenz des Lebensstils und der individuellen Voraussetzungen, die bis hinein in die Genetik reichen. Der Wissenschaftler Stehle unterstreicht damit die Multikausalität. Ein solches Verständnis von Wissenschaft kann Ballast für trendgerechte Profilierung sein. Die aktuellen DGE-Oberen wollen das jetzt zeitgerecht monokausal mit der fiskalischen Diskriminierung von Zucker durch den Staat lösen.
Mit ihrer strategischen Neuausrichtung hat die DGE einen gefährlichen Weg eingeschlagen. Sie opfert wissenschaftliche Seriosität dem effekthaschenden Populismus. Für Unternehmen wie Foodwatch, die gezielt in ihren Kampagnen störende Tatsachen leugnen, um Medienaufmerksamkeit durch Skandalisierung und damit die Spenden-Akquisition nicht zu gefährden, ist seriöse Wissenschaft suspekt. Wer als Wissenschaftler mahnend auf die Faktenlage und die Komplexität von Themen verweist, wird schnell als industriefreundlich diskriminiert. Aus Sicht solcher Organisationen hat eine schlichte Beobachtungsstudie, die konstruierte Korrelationen statt fundierte Kausalitäten liefert, mehr Gewicht als wissenschaftlich begründete Sorge um die Aussagekraft von Empfehlungen.
Wissenschaft verliert durch die lautstarke Agitation solcher NGOs, und das betrifft nicht nur die Ernährung, sowohl in den Medien als auch bei den sie konsumierenden Bürgern kontinuierlich an Glaubwürdigkeit. Diese Reputation verspielt auch die DGE, die sich mit ihrer neuen Marketing-Strategie in die Phalanx der Kampagnen-Organisationen einreiht.
Detlef Brendel, Wirtschaftspublizistik – Kommunikationsberatung.