Der Streit um den Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) schwelt noch, hat allerdings an Leidenschaft eingebüßt. Diesen Schluss lassen jedenfalls die Meinungen in den Medien und im Netz zu seinem 125. Geburtstag am 29. März zu. Zeit schafft Abstand.
Jünger gehört zu den Autoren, deren Leben und Werk sich nicht leicht auf eine bündige Formel bringen lassen. So werfen sich bis heute Kritik und Zustimmung wahlweise auf Werkaspekte bzw. Lebensabschnitte: auf den Soldaten zweier Weltkriege, den Konvertiten zum Katholizismus noch zwei Jahre vor seinem Tod, den Käfersammler (eine Art trägt sogar seinen Namen), den Reiseschriftsteller, den Technikskeptiker und -bewunderer (er war beides nacheinander), den konservativen Zeitzeugen, den Drogenexperimentierer, den nationalistischen Agitator der 20er Jahre, den Leser von Büchern (darauf legte er besonderen Wert), den Verfasser von Zukunftsromanen, den Naturfreund, und so fort. Die Vielfalt der Arbeitsfelder hat nicht nur diverse unverbundene Lesergemeinden geschaffen, sondern auch hilflos wirkende Gesamturteile erzeugt, wie etwa „widersprüchlich“, „umstritten“, „uneinheitlich“, bis hin zur „zerrissenen Persönlichkeit“. Nein, Jüngers Produktivität entsprang einer einzigen kreativen Quelle, der einer komplexen und kraftvollen Individualität, die sich über ein Dreivierteljahrhundert lang, von 1920 bis 1995 (!), in viele Richtungen verzweigte, von der jeder sich anhand einer 24-bändigen Werkausgabe überzeugen kann. Jünger muss die Missverständnisse geahnt haben: „Jeder Autor hat einen Sinn, in welchem alle entgegengesetzte Stellen sich vertragen oder er hat überhaupt keinen Sinn“ mahnte er schon 1934.
Jünger hat hier etwa sechzig Protokolle persönlicher Erlebnisse und Begebenheiten zusammengestellt. Er schildert in ihnen Naturphänomene, Lektüren, Träume, menschliche Verhältnisse und historische Gegebenheiten, Architekturen etc., durchsetzt mit Gedanken über deren Sinn, Bedeutung, innerer Ordnung und umfassenden Kontext. Das Abenteuer, will er uns damit sagen, warte überall, wo man den Dingen auf den Grund geht und damit ein neues, wunderbares Licht auf sie fallen lässt – das ist ihm die Aufgabe von Autorschaft. Aber nicht etwa in wissenschaftlich-analytischer Manier, wie er sie 1923-1925 in Leipzig am Institut für Zoologie kennenlernte. Er fordert einen vollständig anderen, ganzheitlichen Blick auf die Erscheinungen.
Damit wird ein Horizont geöffnet. „Das Leben birgt zwei Richtungen; die eine ist der Sorge zugewandt, die andere dem Überflusse, der die Opferfeuer umringt. Unsere Wissenschaft ist der Anlage nach der Sorge zugeordnet und der Festseite abgewandt; sie ist mit der Not untrennbar verbunden … Daher müsste man die Wissenschaft vom Überfluss erfinden, wenn es sie nicht seit jeher schon gäbe – denn sie ist keine andere als die Theologie.“ Ein Wechsel der Perspektive: vom Jammertal zur Fülle, ohne dass freilich die Existenz der Leiden geleugnet würden.
Jünger betont ausdrücklich, dass sein ästhetischer Standpunkt andere Maßstäbe setzt als die in der Welt der Entscheidungen (Politik, Wirtschaft, Recht, Militär, Familie etc.) gültigen, die anderen Gesetzmäßigkeiten und Kausalketten gehorcht. Freilich, auf ihre Weise kann aber die Kunst trotzdem indirekt auf sie einwirken. (Das zeigt sich schon an der nächsten Publikation, der Erzählung „Auf den Marmorklippen“, 1939 – obwohl das Thema ganz generell die Methoden der Gewaltherrschaft zum Inhalt hat, wird es weithin als eine Form des inneren Widerstandes gegen das NS-Regime verstanden.) Und wer sich neu auf Ernst Jünger einlassen möchte, darf nicht erwarten, in dessen Schrifttum Anpassungen an Ethik und Moral der oben genannten Systeme zu finden, schon gar nicht an den Zeitgeist. Jünger war und bleibt ein unbequemer Zeitgenosse, dessen Opus niemals bloß unterhaltend sein, sondern den Leser existenziell packen will.
Dr. Rainer Waßner, Dozent für Soziologie i.R. an der Universität Hamburg