Nach Lektüre der schönen Beiträge über das Duell Schulz vs. Merkel wächst in mir der Eindruck, dass sich Geschichte ab und dann doch recht simpel wiederholt. Diesmal die von 2005. Griechenlandrettung, Eurobonds, Flüchtlingszwangsquoten und bedingungslos offene Grenzen: Martin Schulz steht genau für die Positionen, mit denen Angela Merkel bei ihren Anhängern in Ungnade fiel. Schaden wird es ihm aber nicht. Denn der Überdruss an der ewigen Kanzlerin überstrahlt mittlerweile alle Programmatik. Wie beim Ende ihres Vorgängers.
Der Wähler ist schon ein merkwürdig Wesen. Straft eine Regierung ab, weil ihm deren Politik missfällt; wissend, dass er von einer anderen allenfalls mehr vom gleichen erhalten kann. So war es, als Angela Merkel zur Macht kam. Der erste Popularitätsverlust traf die Regierung Schröder wegen ihrer Außenpolitik: Die Militärinterventionen auf dem Balkan und in Afghanistan gingen gegen die pazifistische DNA von SPD und Grünen. Der zweite aufgrund der Arbeitsmarktreformen, die sich mit dem Namen Peter Hartz verbinden. Beides von der damaligen CDU-Opposition mitgetragen; von der man in der Regierung eher mehr als weniger Interventionismus, eher mehr als weniger Reform erwarten durfte. Jedenfalls dachte man das damals.
Dennoch kam Merkel knapp an die Regierung. Ähnlich mag es unter verkehrten Vorzeichen in diesem Jahr wieder laufen: Martin Schulz womöglich Bundeskanzler werden, mit einem Programm, dem die Mehrheit eigentlich nicht zustimmt, jedenfalls all jene nicht, die an Merkel die schärfste Kritik üben. In Sachen Eurorettung, die zum Geburtshelfer für die Lucke-AfD wurde, in Sachen Migrationspolitik, die das Unionslager von etwa vierzig auf rund dreißig Prozent in den Umfragen hat abstürzen lassen. Obwohl oder weil mindestens SPD und Grüne Merkels Politik im Bundestag treu unterstützten.
Gerhard Schröder hatte für einen Teil der alten SPD-Anhänger die Parteiehre verraten. Dass Militär nicht als Mittel der Außenpolitik taugte und der Sozialstaat immer nur ausgebaut werden durfte, galt ihnen als ewige Wahrheit. Das fiel weg; die SPD schien damit ideologisch entkernt. Ob das bei genauem Hinsehen stimmte, ist eine andere Frage. Für einen hinreichenden Teil der Anhängerschaft fühlte es sich so an. Ähnlich nun, gefühlt, nicht zwingend faktisch, bei Angela Merkels sukzessiver Aufgabe alter CDU-Kernpositionen. Wehrpflicht, Kernenergie, Nichthaftung für Schulden anderer Euro-Staaten, geschützte Grenzen, innere Sicherheit. Dass nun auf einigen Gebieten spät und halbherzig noch die Rolle rückwärts versucht wird, dürfte bei den Enttäuschten nicht mehr verfangen. So wie Gerhard Schröders ausgesprochen linkspopulistischer Wahlkampf 2005 ihm nur beinahe noch sein Amt retten konnte.
Ob die Enttäuschten nachher zur Union zurückfinden werden? Manche mögen sich von einer Wahlniederlage die personelle und programmatische Reinigung erhoffen, die an der Regierung, gegen eine Bundeskanzlerin mit dem Parteiapparat an ihrer Seite, nicht durchzusetzen war. Die Erfahrungen aus dem Ende vergangener Kanzlerschaften, nach Adenauer, Schmidt, Kohl, Schröder lehren, dass erst einmal einige Jahre der Verwirrung folgen werden. Eine bruchartige Abkehr von Merkels Neupositionierung der CDU kann es kaum geben; zu viele haben sie mitgetragen, mit ihr Wahlkämpfe bestritten, zu sehr spricht die Demoskopie dagegen, die sagt, dass man mit dem CDU-Programm der neunziger Jahre allein keine Mehrheiten mehr finden, wie die SPD mit reiner Arbeiterpolitik keine Mehrheiten mehr finden kann, weil die Kernmilieus zu sehr zusammengeschrumpft sind. So werden sich die Grundsatzdebatten in eine mögliche Oppositionszeit oder Juniorrolle in der Großen Koalition hinein verlängern. Bis die eine oder andere Seite ermüdet, sich in den Ruhestand verabschiedet, oder ein neues Kernthema mit einer starken Führungsfigur die alten Streitthemen verdrängt; nicht löst, aber nicht mehr relevant scheinen lässt. Das kann wachsen und wird wachsen. Aber zwei, drei Legislaturperioden mag es dauern.
Christian Roth aus München: Studium Wirtschaftsingenieurwesen (Diplom) an der Universität Karlsruhe (TH) (heute KIT), von Beruf Logistiker (Supply Chain Management) im Einzelhandel (Baumarktbranche), Zahlenmeister und Netzwerkplaner.