Tichys Einblick
Vernünftige aller Länder, vereinigt euch!

Ein Gespenst geht um in Europa

Das wohlstandsverwöhnte linke Juste Milieu glaubt, das Böse radikal aus der Welt tilgen zu können. Dies offenbart eine erschreckend unterkomplexe Weltsicht, die in ihrem Scheitern nur mehr und neues Leid erzeugen kann. Von Dietmar Hansch

© Emile Guillemot

Das erste linke Gespenst, das in Europa gefürchtet wurde, war noch von Fleisch und Blut – der Kommunismus als eine materialistisch fundierte Ideologie, der es primär um eine Veränderung der materiellen Besitzverhältnisse ging. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, so Marx. Oder mit Brecht: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Zu zittern hatten Kaplane, Kaiser und Kapitalisten. Dieses Gespenst hat sich totgelaufen. Nachdem es zur Verwüstung der Welt sein Schärflein beigetragen hatte.

Allein, der linke Schoß ist fruchtbar noch, nicht mehr in Fleisch und Blut, aber im mehr Ätherischen noch allemal. Und so wabert ein neues Gespenst heran und herum – nennen wir es das Gespenst des Bonumismus – eine subjektiv-idealistisch fundierte Ideologie, der es darum geht, durch die Sprachbereinigung der geistigen Sphären die Welt in einen Ort absoluten Gutseins zu verwandeln. Dank der unerwarteten, nicht enden wollenden Produktivität des Kapitalismus ist für das Fressen inzwischen besser gesorgt – nun kommt die Moral. Zittern soll vor allem der toxische alte weiße Mann.

Unter die unscharfen Hüllkurven dieses Gespensts fällt eine Vielzahl von Kulturphänomenen, die in ihrer Ursprungsintention allesamt gut und richtig sind, aber leider an vielen Stellen ins Postabsurde übertrieben werden – einige Beispiele:

Vor Jahren noch hatte man all das für schrullige Randphänomene halten können, die von selbst wieder verschwinden. Dann konnte man es vielleicht noch einige Zeit verdrängen, ist es doch nachgerade intellektuell demütigend, sich mit solchem Unsinn ernsthaft auseinanderzusetzen. Doch noch so heftiges Sich-in-den-Arm-kneifen hilft nicht – das Gespenst geht nicht weg, es kriecht weiter und durch alle Ritzen. Es ist unterdessen in jedem Wohnzimmer angekommen: TV-Moderatoren bekommen den Gender-Schluckauf, Streaming-Plattformen wie Netflix platzieren Triggerwarnungen wie „Rauchen, sexuelle Inhalte, Gewalt“.

Kinderbuch-Klassiker werden sprachbereinigt, deutsche Verlage betreiben vorsorgendes „sensitivity reading“, Romanautoren haben schlaflose Nächte, wenn es um eine Darstellung von Geschlechterbeziehungen geht, wollen sie doch sicher gehen, dafür nicht irgendwann ins Gefängnis zu kommen. Immer mehr Menschen empfinden eine eingeschränkte Meinungsfreiheit, was durch Studien belegt ist. Aktuell wabert das Bonumismus-Gespenst über die deutschen Straßen. Die Aufmärsche „gegen Rechts“ wollen nicht enden, die sich teils explizit und mehr noch implizit gegen alles richten, was die linke Scheinwelt stören könnte, was mit Grenzen, Pflichten, Forderungen oder gar Härten zu tun hat. Zumutungen also, ohne die auf lange Sicht ein Überleben in der realen Welt unmöglich ist.

Und all dies hat durchaus schon einschneidende Folgen: Nicht wenige Menschen aus Medien- und Kulturberufen haben wegen teils Jahre zurückliegenden politischen Unkorrektheiten ihre Arbeitsstelle verloren. Teile der nachwachsenden Studentengenerationen werden auf Kosten des Steuerzahlers mit völlig verqueren Welt- und Menschenbildern ausgestattet. Auf Basis von Studien ist von der „Generation lebensunfähig“ (Rüdiger Maas) die Rede. Existenzgefährdend wird es dann spätestens, sobald Autos oder Flugzeuge nach „ethnophysikalischen“ Prinzipien zusammengeschustert werden und junge Menschen nichts mehr über die biologische Geschlechtlichkeit und ihre Funktionen wissen. Narzisstische Selbstbestäubung führt nun einmal nicht zu realem Nachwuchs.

Noch einmal: Im Ursprung und im rechten Maß sind alle oben genannten aktivistischen Bewegungen gut und berechtigt. Die gegenwärtigen Übertreibungen allerdings zeugen von einem bestürzend unterkomplexen, völlig lebensuntauglichen Welt- und Menschenbild, aus dem Folgendes als angestrebte bonumistische Utopie extrapolierbar ist: Die Welt ist zu überführen in einen Zustand des absoluten synchronen und diachronen Gutseins. Alles gegenwärtige Böse ist zu tilgen, alles vergangene Böse ist zu kompensieren. Hilfreich hierbei ist eine zu kultivierende Höchstsensibilität („Wokeness“), verbunden mit dem Anspruch, vor allen auch minimalsten Negativaffektionen („Mikroaggressionen“) geschützt zu werden.

Nun, das hat rein gar nichts mit den Realitäten in dieser Welt zu tun – leider? Nein, wohl eher Gott sei Dank. Denn es hat auch nichts mit den Realitäten unserer Psyche zu tun.

Unsere Welt ist irreduzibel polar. Ohne den Minuspol fließt kein Strom, gibt es keinerlei Bewegung. Eine unipolar-bonumistische Welt hieße Stillstand, Langeweile, Tod. Glück erwächst immer aus einer Bewegung von Minus nach Plus.

Aus vielen sehr tiefliegenden Gründen kann und wird das Böse niemals aus dieser Welt verschwinden. Die Generierung von Unterschieden gehört zum Wesen von Evolution. Immer wird es erhebliche Differenzen in Begabung und Aussehen zwischen Menschen geben, die als furchtbar ungerecht erlebt werden können. Entsprechend unterscheiden sich auch Werte und Ziele von Menschen. Jede politische Maßnahme muss daher zwangsläufig Gewinner und Verlierer erzeugen.

Komplexe Prozesse lassen sich nie hinsichtlich aller auch negativen Neben- und Fernwirkungen vorausberechnen. Evolution kann das Alte immer nur mit dem Neuen überschichten, es aber nicht zum Verschwinden bringen: In der Steinzeit war die männliche Aggressionsfähigkeit für die Horde überlebenswichtig, heute wirkt sie sich meist negativ aus. Usw. usf.

Wie im Zwischenmenschlichen zeigen sich auch in der Geschichte Böse und Gut nur sehr selten in Schwarz/Weiß, meist ergibt die differenzierte Bewertung eine Verteilung von Graustufen. Die beiden niemals kolonisierten afrikanischen Staaten – Liberia und Äthiopien – schneiden heute in vieler Hinsicht schlechter ab als die, die einst Kolonien waren. Die unter der Rubrik „Raubkunst“ vieldiskutierten Benin-Bronzen stammen aus einem räuberischen Königreich und wurden nicht selten nach den abgeschlagenen Häuptern besiegter Feinde verfertigt. Die Sklavenjagd in Afrika ging überwiegend von Schwarzafrikanern selbst und Arabern aus. Europäer waren schändlich beteiligt, haben aber schließlich für ihr Ende gesorgt. Die Opfer wären oft die Täter gewesen, wenn Kräfteverhältnis oder Glück es zugelassen hätten. Frei nach Goethe: Die Evolution ist eine Kraft, die das Gute will und oft das Böse schafft.

Diese dialektische Ambivalenz gehört zum Wesen aller Entwicklungs- und Geschichtsprozesse – entsprechend muss sie auch Teil all ihrer Zeugnisse in Kunst und Kultur sein. Das bonumistische Programm liefe darauf hinaus, all dies abzuschaffen, Realität und Geschichte vollständig zu verleugnen. Wir werden das Negative oder gar Böse niemals tilgen aus unserer komplexen, dialektisch-ambivalenten Welt. Was aber möglich ist und worum wir kämpfen müssen ist, das Negative in kleinen Schritten einzugrenzen und positiv zu überbauen.

Das gilt für die Mühen der psychischen Veränderung, gleich ob in Eigenregie oder in der Psychotherapie. Es gilt für Kommunikation und Interaktion insbesondere zwischen den Geschlechtern. Und es gilt für die Realpolitik mit ihren notwendig schmutzigen Kompromissen. Dabei bleibt uns nicht erspart, in Bezug auf das „Restböse“ Akzeptanz und Resilienz zu entwickeln.

Und genau dafür ist unsere Psyche auch ausgelegt. Glück ist eine Überwindungsprämie, wie der Schriftsteller Manes Sperber klug erkannte. Menschen lernen und wachsen vor allem in der Auseinandersetzung mit Widerständen, wobei sich auch Phasen von Schmerz und Leid nicht gänzlich vermeiden lassen. Oft trägt gerade dies zu seelischer Tiefe und persönlicher Größe bei.

Vor dem Hintergrund des inflationären Traumageredes muss man erinnern: Traumata erwachsen allenfalls aus schweren, körperlich bedrohlichen Ereignissen. Rein verbale Angriffe können so gut wie nie genuin traumatisieren (allenfalls können sie bei wirklich real vortraumatisierten Personen retraumatisieren).

Studien zeigen: Auch bei schweren Katastrophen entwickelt sich nur bei ca. 10 Prozent der Betroffenen eine Posttraumatische Belastungsstörung. Mit bis zu 80 Prozent sehr viel häufiger ist das posttraumatische Wachstum, wie es von Tedeschi und Calhoun konzipiert und erforscht wurde: Menschen fokussieren ihr Leben mehr auf das Wesentliche, entdecken neue Möglichkeiten und Stärken, werden zufriedener. Die katastrophenreiche Evolutionsgeschichte hat dem Menschen zwangsläufig enorme Bewältigungspotenziale einpflanzen müssen.

Ob und wie diese dann aber zur Geltung kommen, ist auch eine Frage von Weltbild, Lebenshaltung und bewusster Entscheidung. Wer überwiegend lernt, dass er Rechte und Ansprüche hat, wird verletzlicher sein als jemand, der auch Selbstverantwortung und Pflicht kennenlernt und bewusst seine Resilienz entwickelt. Zu Letzterem gibt es am Ende keine Alternative, denn es gibt kein Entkommen aus der Realität mit ihren Zumutungen.

Wer Ängstigendem zu sehr ausweicht, läuft Gefahr, leidend im Kerker einer Angsterkrankung zu enden. Jede Safe Bubble muss irgendwann platzen, wenn Alter, Krankheit oder Unfall in sie hineinstechen. Nehmen wir doch am Schluss die Assoziation des Titels wieder auf: Vernünftige aller Länder, vereinigt euch! Es ist höchste Zeit für eine Rückkehr zur Vernunft.


Dietmar Hansch ist Arzt, Psychotherapeut und Publizist. Bis Mai vorigen Jahres leitete er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen am Zürichsee.

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