Es ist in Deutschland wahrscheinlich wenig bekannt, aber mit Ausnahme von Österreich bildet den längsten Teil der Bundesgrenze die zur Tschechischen Republik. Es sind 811 Kilometer, die im tschechischen Bewustsein natürlich eine viel grössere Rolle spielen als im deutschen. Die sogenannte Flüchtlingskrise wird hier deshalb mit riesigem Interesse verfolgt.
Gerade wegen der gefühlten Verletzlichkeit hilft auch das Argument nicht, es sei lächerlich, sich Sorgen um Tschechien zu machen, wo dieses Jahr bis September nur 990 Menschen Asyl beantragt haben. Oder dass im Lande, wo insgesamt nur 20.000 Muslime leben, die meisten Leute, die Angst vor dem Islam haben, wahrscheinlich noch nie einen lebendigen Muslim gesehen hätten.
Das waren aber trotzdem Lieblingsargumente der progressiven Journalisten und Personen des öffentlichen Lebens. Bis zum 23. September, an dem der EU-Rat der Innenminister stattfand und Deutschland sogenannte Flüchtlings-Quoten für die EU durchsetzte. Auf Tschechien entfallen in diesem Schema nur 1.500 in der ersten Phase und 3.000 Flüchtlinge insgesamt, was natürlich eine 10-Millionen-starke Gesellschaft leicht verkraften kann.
Tschechien fühlt sich fremdbestimmt
Aber jetzt ahnt jeder, dass diese Runde nur ein Anfang war und dass Berlin auf einen dauernden Umverteilungmechanismus pochen wird. Auch ist nicht gut angekommen, dass der Vorschlag des tschechischen Innenministers Milan Chovanec, diese politisch so wichtige Entscheidung auf den Gipfel der Ministerpräsidenten am nächsten Tag zu verschieben, einfach abgelehnt wurde. Das zeigt die ganze Arroganz gegenüber kleineren Staaten aus dem sogenannten Ost-Europa.
Die Flüchtlingsquote an sich verteidigt hier, vielleicht mit Ausnahme der Grünen (ausserparlamentarische Opposition) niemand. Keiner weiß, wie man die Migranten, welche sich nach Deutschland oder Schweden sehnen – nach ihren Verwandten und Gemeinschaften – hier aufhalten soll. Vielleicht mit Gewalt? Das wäre nicht schön. Oder die Quoten bewähren sich trotzdem, dann aber haben wir in 20, 30 Jahren auch in Prag muslimische Minderheiten, die stark genug sind, um sich nicht integrieren zu brauchen.
Die tschechische veröffentlichte Meinung sagt manchmal, dass die Bevölkerung xenophob ist. Es haben sich in letzten Jahrzenten bedeutende Minderheiten von Ukrainern und Vietnamesen gebildet, die nicht nur geduldet, sondern dazu auch eher populär sind. Klar, Ukrainer sind auch Slawen.
Ein Ukrainer in der U-Bahn fällt meistens nicht auf. Heute leben in Tschechien mehr als 200.000 Ukrainer und 100.000 Vietnamesen, beide Gruppen fast reibungslos. Jedoch bei den Muslimen hat man Angst, dass es mit ihnen nicht so reibungslos gehen wird. Man braucht sich ja nur in Westeuropa umzuschauen. Die Leute sind natürlich nicht so ahnungslos, wie man sie sich im progressiven Milieu vorstellt. Die Abwesenheit von den muslimischen, zum Teil nicht integrierungsfähigen Schichten sehen im Gegenteil viele Tschechen als den einzigen Vorteil des früheren Lebens hinter dem Eisernen Vorhang.
Der Souveränitätsverlust wird konkret
Die Klagen unserer Euroskeptiker über den Verlust von Souveränität in der EU waren lange zu abstrakt. Jetzt plötzlich sieht die Wählerschaft, dass der von ihr gewählten Regierung das Recht genommen wird, über die Zusammensetzung der tschechischen Bevölkerung in letzter Instanz entscheiden zu können. Für den Ruf der EU ist das verheerend. Auch der Ruf von Deutschland wird leiden.
Man schaut auf den grossen Nachbarn und traut seinen Augen nicht. Angela Merkel hat faktisch Millionen Menschen nach Deutschland eingeladen und gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie einen Teil von ihnen im Rest der EU loswerden kann, falls Deutschland überfüllt ist.
Interessant ist hier Vergleich mit Österreich, das für die Tschechen noch in den 70er, 80er Jahren das Traumland war. Österreicher waren die netten Menschen, die zufällig deutsch sprechen, Österreich war so etwas wie Deutschland ohne Nazivergangeheit. Interessanterweise haben seit der Wende beide Staaten ihren Platz gewechselt. Es ist natürlich pauschal und dumm, aber Österreicher gelten heute vielen als ein Volk mit starkem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem starken Deutschland, mit dem man sich gerne kompensiert.
Das Bild von Deutschland hat sich im Gegenteil kontinuierlich verbessert. Deutschland ist Inbegriff für eine effektiv gestaltete Gesellschaft, wo man gute Autos baut, wo seriöse Leute arbeiten und regieren und wo die Dinge funktionieren. Und jetzt plötzlich kommt die Flüchtlingskrise, ein Beweis, dass drüben der Sinn für Realität verlorengegangen ist. Dafür kommen Quoten auf die Nachbarn zu.
Das gute deutsche Image leidet
So exponiert und den Anwandlungen deutscher Grundstimmungen ausgeliefert haben sich Tschechen seit dem Jahre 1945 nicht mehr gefühlt. Ein Kollege in meiner Zeitschrift beschreibt das moderne Deutschland als riesigen Bernhardiner, der vor lauter Freundlichkeit mit dem Schwanz so mächtig wedelt, dass er dabei unbemerkt seine Umgebung planiert.
Der tschechische progressive Mainstream, der die öffentlich-rechtliche Kanäle fast im ähnlichen Griff hat wie in der Bundesrepublik, befasst sich dieser Tage lieber mit nebensächlichen Aspekten: Dass unserer Innenminister, der ein Hardliner in der Sozialdemokratie ist, in Brüssel schon deshalb nichts verhandeln konnte, weil er kein Englisch spricht. Oder dass Angela Merkel auf den tschechischen Ministerpräsidenten Bohuslav Sobotka sauer ist und das Telefon nicht abnimmt.
Aber Politik darf die realen Stimmungen im Lande nicht ignorieren. Fast alle führende Politiker in Prag sind Berlin gegenüber sehr kritisch. Der Ministerpräsident nennt die Quoten „einen Fehler“, der Innenminister erklärt schlicht, dass er die Politik Deutschlands nicht mehr versteht.
Dieser Wandel ist kaum zu fassen. Gerade die heutige Mitte-Links Regierung schwärmte seit ihrem Antritt Anfang 2014 immer wieder davon, die Tschechische Republik in den europäischen Mainstream zurückzuführen. Vor ein paar Monaten wurde feierlich die strategische Partnerschaft mit Deutschland ins Leben gerufen, die vor allem engere Kontakte und bessere Koordination beider Regierungen verwirklichen soll.
Ergebnis: Von der Einführung der Grenzkontrollen erfuhr das tschechische Kabinett nicht aus Berlin, sondern aus dem Fernsehen.
Der tschechische Marine Le Pen ist Andrej Babiš
Ein Grund für die Kritik an Berlins ist, dass der Ministerpräsident und seine Sozialdemokratie sich in Lebensgefahr vor seinem Koalitionspartner, Andrej Babiš und seiner Bewegung ANO, sehen.
Finanzminister Babiš ist Milliardär, der seine Profite immer mehr im staatlich regulierten Businness macht, ein Mann, welcher sich vor zwei Jahren in die Politik gestürzt hat, ohne feste politische Meinungen und ohne Skrupel. Die mächtigste Tageszeitung, die schon manchen Ministerpräsidenten zum Fall gebracht hat, neutralisierte er, indem er sie kaufte. Babiš kaufte sich auch manche bekannte Persönlichkeiten an, die heute im Parlament oder mit ihm in der Regierung sitzen. Es ist eine bunte Gruppe, manche sind rechts, viele links, manche sozial „progressiv“.
Aber Babiš folgt lieber Meinungsumfragen. So war er der erste Minister, der in der Flüchtlingskrise hart über Berlin und EU sprach. Im Fernsehen stellte er vorige Woche fest, dass „Deutschland wirtschaftlichen Selbstmord in Live-Übertragung begeht“ und dass er nicht weiss, warum Deutschland Tschechien in das Unglück mitziehen will. Formal gesehen ist Babiš nur Vizepremier, aber dank seinem Geld, erstklassigem Marketing und seiner Macht in den Medien ist er der starke Mann der tschechischen Politik. Im Frühling kamen zwar erste Signale, dass sein Nimbus endlich schwächelt, es kamen langsam erste Skandale seiner Leute und Firma ans Licht, seine Popularität nahm das erste Mal ab. In die Ferien ging Babiš wie eine Fussballmannschaft in die Kabinen, die am Ende der ersten Halbzeit schlecht spielt und die Pause kaum erwarten kann. Nach dem Sommer und der Flüchtlingskrise aber schiesst Babiš´ Popularität wieder hoch.
Es ist ein trauriges Bild: Deutschland mit seiner Kanzlerin macht schlechte Politik, die in den Nachbarländern gerechtfertigte Kritik hervorruft, nur bedienen sich dieser Kritik in der Regel antiliberale, korporatistische Politiker, hier Oligarchen, dort Xenofoben. In Tschechien Babiš, in Österreich Strache, in Frankreich Frau Le Pen.
Daniel Kaiser, Journalist in Prag. Absolvent der German Studies an der Karls-Universität. Er war jahrelang beim tschechischen BBC in Prag und London, dann Kommentator der Tageszeitung Lidové noviny. Als das Blatt vom Oligarchen und Politiker Andrej Babiš gekauft wurde, gründete er mit Kollegen die Wochenzeitung Echo.
Kaiser ist Autor einer politischen Biographie von Václav Havel. Die deutsche Ausgabe erscheint nächstes Jahr im Böhlau Verlag.