Tichys Einblick
Kalendernotiz vom 23. Mai 2023

Ein Blatt wenden – Bericht aus Äthiopien

Seit gut sieben Jahren arbeitet TE-Leserin Ute Olschowy in Äthiopien an der Verschriftlichung und Alphabetisierung von Minderheitensprachen. Wann immer sie nach ihren Kurzeinsätzen nach Deutschland zurückkehrt, beschäftigt sie der Kontrast der soziokulturellen Zustände beider Länder immer wieder aufs Neue. Eine andere Sicht auf die Dinge. Von Ute Olschowy

© Ute Olschowy

Wo ich herkomme, hatte ich keine Kalenderblätter zum Umdrehen. Heute, hier im deutschen Zuhause, springt mir im Vorbeigehen der Januar meines Wandkalenders ins Auge. Jetzt ist es Mai, also kann ich vier Monatsblätter auf einmal umblättern. So lange ist’s her, seit ich hier abgereist war. Das Umblättern der Seiten kommt mir vor, als ob ich von einer in eine andere Welt und Zeit umschalten würde, und es durchzuckt mich.

Wo ich vorgestern erst herkam, vom Horn von Afrika, dort gibt es keinen Löwenzahn oder Spitzwegerich, den ich mir heute Mittag voller Freude aus meinem kleinen Gärtlein hier im Odenwald pflückte, um meinen Salat damit zu garnieren. Einfach so, ohne mich vor Parasiten oder sonstigen Bakterien in Acht nehmen zu müssen. Die Kräuter konnte ich sogar, einfach so, unter dem Wasser aus dem Hahn abspülen. Ohne fürchten zu müssen, das Wasser könne mir Darmprobleme verursachen.

Als ich heute früh mit dem Rad zum ersten Mal wieder einkaufen fuhr, erschlugen mich schier die vor Fülle und Vielfalt protzenden Regale der Geschäfte. Kaum ein Ding wird in nur einfacher Ausführung angeboten. Wenigstens drei, meist zehn verschiedene Marken und Varianten stehen zur Auswahl. Sie überfordern mich komplett in meinem von der interkontinentalen Reise noch im Übergang befindlichen Stadium. Wie eine Scheinwelt kommt mir alles vor, wie ein unwirkliches Schlaraffenland, oder doch gar wie die arrogante Maske eines Anspruchdenkens? Wie die Fratze des Wohlstandsegoisten, der über jedes noch so winzige vom Perfekten abweichende Detail missmutig und rechthaberisch lästert? Ich übertreibe? Ja, in dem Maße, wie mir der Gegensatz zwischen dort und hier erscheint.

An die Bequemlichkeit und die Wahlmöglichkeiten unserer Überflussgesellschaft haben wir uns so sehr gewöhnt, dass wir das tägliche Ringen um die pure Existenz längst nicht mehr kennen. Für das tägliche Brot – nur das tägliche – zu danken, weil man den Weizen nicht selbst hat wachsen lassen können, weil es Gnade ist, wenn er gediehen ist, und wenn es denn Regen gab und der Lohn zum Einkauf reichte – dann kannst du danken, ja, dann wirst du danken.

Stattdessen schwebt unser Geist hier in Sphären von Selbstverständlichkeiten und von Verfügbarkeiten. Wir halten es sogar für richtig und angemessen, uns über ein fehlendes Produkt im Regal oder den Ausfall einer Annehmlichkeit aufzuregen, zu beschweren. Als sei es ein Menschenrecht – das sich Aufregen und das sich Beschweren. Wo ich herkomme, gibt es kaum eine Wahl. Im gehobeneren Restaurant liegt vielleicht eine Menükarte, aber besser ist es, die Bedienung zunächst zu fragen: „Min alläh?“ – „Was gibt es?“ –, um nicht allzu enttäuscht zu sein, dass es das Wunschgericht von der Karte heute leider nicht gibt. Und auch die Alternative nicht.

In der Fastenzeit, den sieben Wochen vor Ostern, gibt es nur vegane Speisen. Und danach gibt es eben kein Gemüse. Oder sonstwas nicht. Je nachdem, was gerade beschafft werden konnte. Auch an den kleinen Marktständen, die in jedem Wohnviertel um die Ecke stehen, und die die lebenswichtigen Dinge wie Öl, Seife, Windeln, Kartoffeln, Zwiebeln, und Streichhölzer verkaufen, ist man gewöhnt, dass es andere begehrte Produkte wie Zitronen oder Nudeln oder sonst etwas nicht so Lebensnotwendiges heute mal nicht gibt. „Yellem“ – „Gibt’s nicht“ ist eine so häufige und alltägliche Auskunft, so normal wie der Sonnenschein am Morgen, dass keiner auch nur auf den Gedanken kommen würde, sich aufzuregen.

Auch der Krieg hat hier seine Auswirkungen. Die Preise wurden seit einem Jahr schon fünfmal nach oben korrigiert. Öl und das Grundnahrungsmittel Teff (eine Hirse-Art) sind inzwischen so teuer, dass ausgerechnet die Armen, die darauf angewiesen sind, hinten und vorne nicht mehr wissen, wie sie es bezahlen sollen. Und der Kaffee, das „grüne Gold“, der hier wild wachsende, der seit jeher die äthiopischen Lebensgeister zeremoniell belebende, gleichsam heilig gehaltene Kaffee – er ist durch die Exportwirtschaft der Regierung für die Einheimischen fast unbezahlbar geworden. Zukunft und Hoffnung schwinden, wenn Grundnahrungsmittel nicht mehr erschwinglich sind, und wenn tiefverwurzelte Traditionen, die das liebevolle Miteinander feiern, in Gefahr stehen, zu verstummen.

Noch vor einer Woche saß ich in der Lehmhütte von Nigatua. Sie ist Team-Mitglied der Zay-Sprache, die auf den Inseln und am Ufer des Sees Ziway, 100 km südlich von Addis Abeba gesprochen wird. Das Team hatte uns eingeladen, ihre Wohn- und Lebensumstände einmal für zwei Tage mitzuerleben. Zwei Stunden Fahrt mit dem Motorboot haben wir am Vorabend von Ziway-Stadt bis zu ihrer Insel Tsadetscha zurückgelegt.

Auf der Insel gibt es keine Straßen, keinen Strom, keine Toiletten, kein Wasser aus dem Hahn. Der Boden ist steinig und trocken, es wachsen Akazien, Feigen, Zitronen, Tomaten, Zwiebeln und Kräuter. Die von Trampelpfaden durchzogene Insel hat Felder, die mit Ochsen gepflügt werden: Mais, Gerste, Teff werden angebaut; Ziegen und Hühner laufen überall herum, und an den Inselufern liegen Boote und schlichte Holzkanus, mit denen täglich gefischt wird. Unser Abendessen
in der Hütte ist somit vorbestimmt: Fladenbrot mit Fisch, diesmal in Maismehl gewälzter und knusprig gebratener Fisch mit frischem Zitronensaft. Zu Mittag war es gekochter Fisch mit scharfer Soße. Zum Frühstück gibt es Teff-Pfannkuchen mit Rührei, zwischendurch getrockneten Fisch als Snack.

Die Gespräche in der Hütte bei der nun einbrechenden Dämmerung am Ende des ersten Tages sind lebhaft, geschichtenreich. Ich sitze mit einem Kollegen, drei Mitarbeitern des Sprachteams und fünf Personen von Nigatuas Verwandtschaft und Nachbarschaft zusammen. Die Großeltern leben mit in dieser Hütte von gut sechs Metern Durchmesser. Der Bruder sitzt am Eingang, wo das Licht noch am hellsten in die Hütte scheint, und knüpft ein neues Fischernetz. Zehn Personen sind drei Monate lang damit beschäftigt, bis das Netz von ca 100 m Länge fertig gestellt ist. Damit wird dann die ganze Nacht gefischt: Abends wird ausgefahren und ausgelegt, gegen Morgen dann langsam eingezogen, um die Fische an Inselbewohner zu verkaufen, zu verschenken, zu trocknen oder gleich frisch zu verzehren.

Die sonst in der Hütte herumlaufenden Hühner haben sich bereits zur Nacht verzogen, ein Kätzchen schnuppert vor gierigem Verlangen nach Fischgräten herum. Die sechsjährige Nichte schläft heute Nacht auch hier in der Hütte. Ganz selbstverständlich nimmt sie zu Beginn der Mahlzeit eine Schüssel mit Wasser und einen Plastikkrug, um allen Anwesenden die Hände zu waschen. Zuerst dem Ältesten (ihrem Großvater), dann den Gästen, dann allen übrigen in der großen Runde.

Was mein Eindruck sei, am Ende des Tages, fragt der Großvater mich erwartungsvoll. Der Tag war randvoll mit Eindrücken und Begegnungen, die, so roh und schnörkellos sie auch waren, doch ein respektvolles, ja würdevolles Miteinander als Grundstimmung verbreiteten. Wir besuchten mehrere Hütten von Nachbarn und Verwandten, sahen die orthodoxe Inselkirche, erkundeten die Grundschule mit ihren vier Klassenräumen, wo heute kein Unterricht stattfand und auch sonst außer den wenigen Schulbänken und einer Kreidetafel gähnende Leere herrschte.
Danach genossen wir die Natur: Wir erwanderten einen Hügel, wo der Blick über zwei Nachbarinseln und den 400 qkm großen See in die Ferne schweifen konnte, fuhren mit einem Ruderboot, in dem durch die Ritzen Wasser eingetreten war und aus dem ein kleiner Alligator aufsprang, weil etliche kleine Welse darin schwammen; wir sahen einem Jungen beim Pflügen mit zwei Ochsen zu und bestaunten so manche urig gewachsene Feigen- und Akazienbäume und die in voller Frucht stehenden Zitronen- und Papayabäume.

Der über allem liegende Friede war berührend, antworte ich. Wohl wissend, dass das Leben hier alles andere als bequem oder angenehm ist. Und dass es auch soziale Streitigkeiten gibt: Ackergrenzen werden verrückt, begehrte Dinge von Nachbarn gestohlen, Kranke und Sterbende betrauert. Dennoch: Das Miteinander ist achtsam und von Fürsorge geprägt. Die Verbindung zu meinem eigenen Geburts- und Heimatdorf ist leicht zu ziehen. Erinnerungen an meine Kindheit mit unseren Hühnern und Familienfeiern steigen auf, Bilder von Mutters Handarbeiten und Feldarbeiten. So lange ist es doch noch gar nicht her, als auch hier in Deutschland die Ehrfurcht vor dem uns Umgebenden, in Natur und Lebensgemeinschaften, größer war als der Wert der eigenen Leistungen und Rechte.

Wo die pure Existenz von Natur und der Gemeinschaft abhängen, da können Menschen nicht selbst-bezogen überleben, da müssen sie über sich selbst hinaus denken, hoffen und handeln. Da erleben sie die Hilfe von oben als sehr real. Da sind Respekt und Achtung vor den anderen, vor den Naturkräften und deren gütigem Schöpfer so selbstverständlich wie für uns heute der funktionierende Kühlschrank oder das allwissende Internet.

Unser Leben ist hart, räumt der Großvater ein. Wir schaffen es gerade so, unseren Alltag zu bestreiten. Jetzt werden Mais und Gerste gesät, und wenn der Himmel uns gnädig ist, haben wir genug zu essen. Aber eine gute Grundbildung genießen wir hier auf der Insel nicht. Vertreter unserer Kirche haben das Anliegen bei der Erziehungsbehörde vorgetragen. Es wurde abgelehnt.

Unsere Kinder dürfen und können nicht in ihrer Muttersprache lesen und schreiben lernen, sie werden in Oromifa unterrichtet, eine Fremdsprache für sie. Dabei sei doch eine gute Bildung der Grundstein für Fortschritte. Und bei der harten tagtäglichen Arbeit bleibe auch den Erwachsenen keine Kapazität für Verbesserungen, etwa Brunnenbau oder gute Bewässerung der Felder.

Seine Enttäuschung und seine Zukunftssehnsüchte liegen schwer in der Luft. Meine Team-Mitglieder leben vorwiegend in der Stadt auf dem Festland, ihre Kinder genießen dort eine höhere Bildung. Dennoch teilen sie die Sehnsucht für ihre Volksgruppe, ehren die Sprüche der Alten. Die Wünsche nehme ich ernst und nehme sie mit auf die Rückreise. Gibt es Hoffnung für die Zay? Regt sich jemand darüber auf – ähnlich wie über ein fehlendes Produkt im Supermarktregal? Hier fehlt nicht eine Lieblingssorte Zahngel, sondern hier fehlen Schulbücher, Grundschulunterricht in der Muttersprache, so grundsätzliche Dinge, so selbstverständlich für uns, dass wir nicht einmal auf den Gedanken kämen, darüber nachzudenken.

Die Sehnsucht danach ist also mehr als berechtigt, sie ist buchstäblich himmelschreiend. Dennoch äußerte der Großvater seinen Wunsch nur sehr bedacht, ohne Geschrei oder Pathos. Sein Wunsch schwang wie die Bitte um das tägliche Brot auf zum Himmel. Aber sie schwingt auch zu mir, und auch zu Dir. Vielleicht verwandeln wir seinen Wunsch in ein Gebet und in Vertrauen – in zuversichtlichen, festen Glauben, der mitwirkt an seiner Erfüllung. Oder wir regen uns darüber mal auf, über diese Ungerechtigkeit, dass Zay-Kinder nicht in ihrer Muttersprache lesen und schreiben lernen dürfen. Vielleicht bringt uns die Aufregung sogar in Bewegung. Und reißt mit uns noch andere mit hinein bis zur Umsetzung des Wunsches dieses Alten, Nigatuas Vater.

Dann wird sich nicht nur ein Kalenderblatt wenden.


Ute Olschowy (Jahrgang 1961, 3 erwachsene Kinder) studierte Linguistik, Theologie und Anglistik. Sie arbeitet in der Alphabetisierung von Minderheitensprachen in Äthiopien. Dazu gehören die Entwicklung von Orthografien und Erstlesematerial, und die Schulung von Einheimischen im Sprachbewusstsein und im Unterrichten (www.tsaara.de).

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