Kilburn, London: Der nordwestliche Stadtteil war bis vor dreißig Jahren irisch geprägt. Er zog die Einwanderer von der Nachbarinsel seit dem 19. Jahrhundert magisch an. Viele wurden nach und nach zu Engländern, andere zogen zurück in ihre Heimat. Heute erkennt man Kilburn nicht wieder. Der Stadtteil ist fest in asiatischer Hand; Einwanderer aus Indien und Pakistan prägen das Straßenbild. Mit andern Worten: Migration hat es immer gegeben, aber sie sieht heute anders aus als eine Generation zuvor. Der Publizist Douglas Murray hat dazu ein Buch geschrieben – «The Strange Death of Europe» das unter dem Titel «Der Selbstmord Europas» auf Deutsch erschienen ist.
Islam und Europa sind unvereinbar
Europa stirbt einen seltsamen Tod. Übertreibt Murray nicht massiv, immerhin boomte dieser Kontinent mehr denn je in den letzten Jahrhunderten? «Tatsächlich gibt es Gegenden in Ländern wie der Schweiz oder dem Vereinigten Königreich, wo die Lebensqualität hoch ist», sagt Murray. Aber manchenorts seien die Leute dennoch unglücklich. Es gehe ihnen zwar materiell gut; sie litten jedoch zusehends unter widrigen Lebensumständen. Daran ist gemäß seiner Auffassung die unkontrollierte Einwanderung schuld. Autor Murray reiste quer durch Europa, um sich mit der Einwanderung auseinanderzusetzen. Er besuchte Lampedusa und griechische Inseln, redete mit Flüchtlingen und NGO-Vertretern. Murray beobachtete die deutsche «Willkommenskultur» und registrierte, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel sich umorientieren musste, als die Entwicklung außer Kontrolle geraten war. Murray konstatierte eine Überforderung aller Beteiligten, der Europäer wie auch der Ankommenden.
Wenn die Immigration außer Kontrolle gerät, stellt sich die Frage: Wie lässt sie sich wieder in den Griff bekommen? Murray will dazu keine Forderungen stellen: «Das lohnt sich erst, wenn die politische Diskussion darüber möglich wird.» Er konstatiert, dass sich eine Mehrheit der Politiker weigert, die Tatsachen anzuerkennen. «Deshalb sind konkrete Forderungen vorderhand obsolet, es wird doch nicht gehandelt.» Laut Murray besteht seit Jahren eine große Diskrepanz zwischen der politischen Agenda und dem subjektiven Empfinden der Leute.
«2050 wird ein Drittel der schwedischen Bevölkerung muslimisch sein»
Nur: Warum wählen ebendiese Bürger Parlamentarier als Volksvertreter, die ihr Missbehagen über die Einwanderung nicht verstehen? «Sie haben keine andere Wahl und müssen sich mit Politikern zufriedengeben, die eine andere Sprache als ihre Wähler reden. Die meisten sprechen die wirklichen Sorgen der Bürger nicht an, obgleich die Missstände bei der Zuwanderung offenkundig sind», sagt Murray dazu. Er bekomme hinter vorgehaltener Hand immer wieder Zustimmung von Politikern, die sich nicht getrauten, ihre Meinung zu sagen. «Mir fällt auf, dass sich die Leute beklagen, über die Einwanderung werde nicht gesprochen. Die Linke indes behauptet, das Thema dominiere die politische Agenda.» Dies ist laut Murray nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn die politische Debatte sei den Leuten unverständlich, weil ihre Nöte nicht zur Sprache kommen. «Es nützt den Leuten nichts, wenn man ihnen versichert, die Einwanderung sei im letzten Jahr um 2,5 Prozent zurückgegangen.» Die Leute wollten vielmehr Antworten auf Fragen hören wie: Wofür steht Europa? Kann unser Kontinent tatsächlich allen Menschen eine Heimat bieten, die hierherkommen? Und was geschieht mit den Neuangekommenen, die sich nicht an die gängigen Regeln halten wollen? «Das sind die drängenden Fragen.»
Murray redet sich in Eifer, wenn er Einwände hört wie, das britische Gesundheitssystem NHS (National Health Service) würde ohne asiatische Einwanderer zusammenbrechen. «Das Gegenteil ist wahr», sagt er. Je größer die Zuwanderung, desto teurer sei die medizinische Versorgung: «Diese Leute nehmen unsere sozialen Institutionen in Anspruch, haben aber nie etwas dafür bezahlt.» Er bringt es auf die Schlagzeile: «Unser nationales Gesundheitssystem ist heute ein internationales.» Viele Leute schwärmten von den netten asiatischen Krankenschwestern: «Das ist die sentimentale Entschuldigung für einen politischen Irrtum.»
Die Todesdrohungen Salman Rushdie hätten unmerklich die Geistesfreiheit eingeschränkt
Murray warnt auch vor den Gefahren der islamischen Einwanderung, insbesondere der Islamisten. Dabei wiederholt er nicht nur die üblichen Terroristenwarnungen, sondern verweist auf Bedenkenswertes: Die islamischen Todesdrohungen gegen den Schriftsteller Salman Rushdie nach der Publikation seiner «Satanischen Verse» hätten unmerklich die Geistesfreiheit in Großbritannien eingeschränkt. Verlage überlegten es sich heute genau, welche Publikationen konform seien oder allenfalls eine Gefahr bedeuten könnten: «Einige der Bücher, die vor 1989 herausgekommen sind, würden heute nicht mehr erscheinen.» Das ist keine leere Behauptung. Murray erinnert an Einschüchterungen von Verlagen, nachdem sie unliebsame Werke angekündigt hatten, worauf sie diese im Einzelfall zurückzogen.
Auch der Brexit hat mit Migration zu tun
Murray sieht in Großbritannien einen großen Unterschied zwischen Einwanderern aus den früheren Kolonien und Osteuropäern: «Die Polen kommen hierher, um Geld zu verdienen, und wollen dereinst zurück in ihre Heimat, um dort ein besseres Leben zu führen. Das ist eine vernünftige Haltung.» Asiaten und Afrikaner wollten dagegen bleiben, weil die Lebensbedingungen in ihren Heimatländern schlecht seien. Darüber werde nicht gesprochen, und schon gar nicht über die gesellschaftlichen Konsequenzen, die daraus resultierten. Zum Beispiel beim Wohnungsbau: «Wir sorgen jedes Jahr für mehr Wohnraum, um die Einwanderer unterzubringen», sagt er. Murray spricht in seinem Buch von einem Bevölkerungswachstum von sechzig auf achtzig Millionen in Großbritannien innerhalb der nächsten Generation. «Für junge Leute ist Wohneigentum heute fast unerschwinglich geworden; führt man das auf die Zuwanderung zurück, fällt der Vorwurf des Rassismus.» So sei keine Debatte möglich.
Das Wort Brexit sucht man in «Der Selbstmord Europas » vergeblich. Murray hält die innereuropäische Migration für nachvollziehbar. Das in den letzten Jahren aufgekommene Misstrauen der Briten gegenüber dem freien Personenverkehr in der EU ist seines Erachtens allerdings eine Reaktion auf die «unkontrollierte Einwanderung aus andern Erdteilen».
Rolf Hürzeler
Wir veröffentlichen diesen Beitrag, der zuerst als „Essay der Woche“ in DIE WELTWOCHE Nr. 6.2018 erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
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