Tichys Einblick
Neuestes Opfer des modernen Empörungsmobs

Die Scruton Tapes: zur Anatomie eines Rufmords

Gewisse konservative Politiker scheinen ihren Frieden mit dem Zeitgeist gemacht zu haben – doch sie haben sich verschätzt. Denn die Hetzkampagne gegen Scruton basierte offensichtlich auf manipulierten Zitaten. Der Philosoph hat seinen Job verloren, weil die Regierung vor dem Mob in die Knie ging.

Andy Hall/Getty Images

Manchmal ist ein Skandal nicht nur Skandal, sondern geradezu eine Autopsie einer Gesellschaft. So verhält es sich auch mit der Attacke auf Sir Roger Scruton, der in den vergangenen Wochen in den Medien verleumdet, von der Regierung gefeuert und dessen Lebenswerk angegriffen wurde. Scruton ist zwar nicht das erste, aber das neueste Opfer des modernen Empörungsmobs.

Es ist jetzt vier Jahre her, seit der Nobelpreisträger Tim Hunt vom University College London gefeuert wurde (neben weiteren Institutionen, die sich glücklich schätzen durften, ihn an Bord zu haben). Das geschah, nachdem ein Teilnehmer an einer Konferenz in Korea getwittert hatte, Hunt habe irgendetwas über das „Arbeiten mit Frauen“ gesagt. Der Twitterer vermutete darin empört Sexismus.  Niemand fragte nach Verteidigungsargumenten. Die Verantwortlichen der Institutionen, die Hunt fallen ließen, benahmen sich so, wie es fast jede Führungskraft mittlerweile tut: Sie ahnten einen potentiellen Streit – und nahmen Reißaus. Und obwohl sie so ihren eigenen Mann fallen ließen – wie man es neuerdings zu tun pflegt – bauten sie auch noch darauf, dass die Welt (nicht das Opfer!) alles bald vergessen würde – und alles so weitergehen würde wie bisher.

Im Januar gab es in Amerika den Covington Boys Skandal, als eine Gruppe von Schuljungen ins Zentrum einer Hetzkampagne von nur zwei Minuten Dauer geriet, weil sie angeblich einen Indianer bedrängt und belästigt hatte. Bis die Fakten geklärt waren (es gab keine Belästigungen und die Jungs hatten nichts falsch gemacht) waren sie schon vor Millionen in den sozialen Netzwerken als Rassisten verunglimpft worden. Wenn schon ein Nobelpreis keinen Schutz vor Falschanschuldigungen bietet, welche Chance haben dann Schuljungen oder andere normale Leute? Anscheinend kann jeder, der Lust dazu hat, uns auf Twitter skalpieren: Verdrehe nur die Worte deines Opfers und überlasse den Rest dem Empörungsmob.

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Der Anschlag auf Scruton kann als Klassiker des Genres gesehen werden: Schon fünf Stunden nach dem Beginn des Shitstorms wurde er entlassen. Sein Schicksal ist ein perfektes Beispiel für die Kunst, jemanden fertigzumachen. Sein Fall hat sich nun vor unser aller Augen entwickelt und bietet deshalb die Möglichkeit, die ganze schäbige Verfahrensweise bloßzustellen. Es lohnt sich, hier die Details zu studieren.

Im vergangenen Monat erklärte sich Scruton bereit, sich von George Eaton, dem stellvertretenden Herausgeber des New Statesmen, in seiner Londoner Wohnung interviewen zu lassen. Im November erst war der Philosoph zum ehrenamtlichen Vorsitzenden einer Regierungskommission mit dem Namen Building better, Building beautiful ernannt worden. Scruton wurde suggeriert, dass es im Interview um seine jüngst neu veröffentlichten Bücher gehen solle.

Am Mittag vor der Veröffentlichung des Interviews erklärte Eaton auf Twitter, dass der Regierungsberater und Philosoph Roger Scruton eine Reihe empörender Bemerkungen gemacht habe und verlinkte das Interview. Die vermeintlichen Verfehlungen wurden geradezu geifernd aufgelistet. Scruton habe sich abscheulich über ungarische Juden geäußert, gegen Chinesen sogar rassistisch. Er habe Islamophobie als eine „Erfindung der Propaganda der Muslim-Bruderschaft bezeichnet, um die Diskussion über dieses wichtige Phänomen zu unterbinden“. Er habe Vorwürfe des Antisemitismus gegen Viktor Orban als „Nonsens“ zurückgewiesen und Muslime als „Stämme“ tituliert. Empörung und Rücktrittsforderungen ließen nicht lange auf sich warten. Der perfekte Shitstorm auf Twitter begann.

Der konservative Abgeordnete Tom Tugendhat reagierte mit einer Verurteilung von Rassismus die, wie er sich denken konnte, als Aufruf zur Entlassung Scrutons aufgefasst wurde. Sein Kollege Jonny Mercer erklärte, Scruton zu entlassen sei nun ein Kinderspiel und fügte ein wenig zu offensichtlich hinzu: „Lasst uns in dieser Sache nicht zu viel Zeit verlieren!“ Auf diese Weise warfen zwei konservative Möchtegern-Führer gedankenlos einen der wenigen konservativen Denker Großbritanniens dem Mob zum Fraß vor. George Osborne vom Evening Standard schloss sich an, verurteilte Scruton für seine ‚bigotten Bemerkungen‘ und verlangte seine Entlassung. Lord Finkelstein von der Times stimmte zu. Schon am frühen Abend verkündet Minister James Brokenshire, der Scruton im vergangenen Herbst ernannt hatte, dessen Entlassung.

Dieser Vorgang wurde bejubelt – besonders von Eaton, der auf Instagram ein Foto veröffentlichte (und später löschte), auf dem er mit einer Champagnerflasche zu sehen war. Sein Kommentar: „So fühlt es sich an, wenn man dafür gesorgt hat, dass ein rechtsgerichteter Rassist und homophober Roger Scruton als Berater der konservativen Regierung gefeuert wurde.“

Die andere Medien reihten sich ein: „Bauberater der Premierministerin nach rassistischen Ausfällen rausgeworfen!“ lautete eine Schlagzeile am nächsten Tag,  „Berater von Downing Street No.10 fliegt wegen seiner ‚Ansichten weißer Vorherrschaft‘“ eine andere, deren Gehalt an übler Nachrede dem Labour Abgeordneten Dawn Butler zu verdanken ist.

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Aber was hatte der Philosoph eigentlich gesagt? Wurde er richtig zitiert? Niemand, der seinen Rücktritt forderte, versuchte, das herauszufinden. Weder Mercer, Tugendhat, Finkelstein, Osborne, Brokenshire oder irgendein anderer von Ihnen. Die Geschichte war einfach zu gut. Scruton verlangte später, dass das Band mit dem Interview, das zu seinem Rauswurf führte, veröffentlicht werden solle, so dass sich jeder ein eigenes Bild davon machen könne, was er gesagt habe und was nicht. Viele unterstützen ihn dabei, aber Mister Eaton tauchte unter. Da ich selbst eine Kopie der Aufnahmen besitze, weiß ich warum.

Statt empörender Bemerkungen oder gar Ausfällen zeigt die Aufnahme einen Scruton, der wie immer in einer ruhigen, nachdenklichen und professoralen Art spricht (auch wenn er hörbar mit einer Atemwegsinfektion zu kämpfen hat). Eaton richtet folgende Frage an den Mann, den er später als homophob bezeichnen wird: „In Sachen Homosexualität sind Sie kritisiert worden. Sie haben zum Beispiel gesagt, Homosexualität sei nicht normal.“ Eaton lacht bei dieser Aussage. Daraufhin erklärt Scruton sorgfältig seine Ansichten zu Homosexualität und sagt, dass diese Bemerkungen aus einem Buch über den Sexualtrieb stamme, dass er vor 30 Jahre geschrieben habe. „Ich habe damals sogar dargelegt, dass es sich nicht um eine Perversion handelt. Aber dass sie andersartig ist. Und dann nehmen Leute diesen kleinen Satz aus dem Kontext.“ Er fügt hinzu, dass die „gebildeten Herausgeber“ der Website BuzzFeed solche Aussagen gerne aus dem Kontext zu reißen pflegen. Daraus wird dann eine Art Patchwork von Beschuldigungen gestrickt, ohne jegliche Bemühung, der Argumentation zu folgen. „Also wird man zur Karikatur gemacht als ob man jemand wäre, der Homosexuelle steinigen wolle oder so etwas, nur weil man gesagt hat, dass sie anders seien.“

Und was ist mit den angeblich so empörenden Bemerkungen über die „ungarischen Juden“?  Es handelt sich um eine interessante Erinnerung an Viktor Orban. Scruton kennt ihn seit den kommunistischen Tagen und hat ihn kritisiert. „Ich glaube, die Macht ist ihm zu Kopf gestiegen“, sagt er. „Er hat einige Entscheidungen gefällt, die in Ungarn sehr populär sind, weil sie dort sehr verstört waren von der plötzlichen Invasion großer muslimischer Stämme aus dem mittleren Osten. Man darf auch nicht vergessen, dass ihre Geschichte in Bezug auf den Islam nicht besonders glücklich verlief.“

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Ist „Invasion“ das diplomatischste Wort, das man in Verbindung mit der Flüchtlingswelle 2015 verwenden kann? Vielleicht nicht, aber die eigentliche Frage sollte lauten: Glaubt die Regierung, dass man wegen des Gebrauchs dieses Wortes entlassen werden muss?

Scruton wird im Interview daran erinnert, dass er sich schon einmal den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen musste, weil er von einem „Soros Imperium“ gesprochen habe. „Ist es das, was ich falsch gemacht haben soll?“ fragt er daraufhin lachend. „Damals sprach ich über Ungarn, nicht wahr? Und jeder, der nicht glaubt, dass es in Ungarn ein ‚Soros-Imperium‘ gibt, verkennt die Tatsachen.“ Die Fakten in diesem Fall belegen, dass die Soros-Unternehmungen beträchtlich sind.  Aber wie kann diese Bemerkung als antisemitisch durchgehen? Indem man einfach die nächsten Satz weglässt. „Es ist nicht notwendigerweise ein jüdisches Imperium. Das ist natürlich Unsinn.“ Er beklagt dann den Antisemitismus in Ungarn und fügt hinzu: „Wenn es in Ungarn eine politische Bewegung geben würde, die die Juden ausschließen wollte, dann wäre das verdammt närrisch, weil die Juden die sind, die etwas im Kopf haben.“ Das ist vielleicht ein wenig unhöflich gegenüber den ungarischen Nichtjuden, aber auf keinen Fall ein Beispiel von Antisemitismus, den der Interviewer ihm später zum Vorwurf machen würde.

Immer und immer wieder versucht Eaton, Scruton aufs Glatteis zu führen („Manche Konservative würden sagen, dass Messerdelikte vornehmlich ein Problem der schwarzen Bevölkerung seien…“), aber ohne Erfolg. Unermüdlich versucht Eaton, ihm Kommentare zu den möglichen Herausforderern um die Führung beider Parteien zu entlocken, um am Ende zu fragen: “Was denken Sie über die Zukunft der Menschheit?“ Scruton ist ein wenig verblüfft und fragt den Interviewer: “Sprechen Sie jetzt von dem ganzen Transhumanisten-Kram?“

Schließlich sagte er: „Ich denke da kommen noch Schwierigkeiten auf uns zu, die wir nicht bedenken, wie den Aufstieg Chinas. Es liegt etwas Erschreckendes in der chinesischen Politik, die Reglementierungen, die der einzelne dort ertragen muss. Wir erfinden Roboter, doch sie erschaffen in gewisser Weise Roboter aus ihren eigenen Leuten, indem sie deren Handlungsspielräume so stark einschränken, bis jede chinesische Person eine Art Kopie der anderen wird. Und das ist sehr beängstigend. Vielleicht weiß ich nicht genug darüber, um es verlässlich beurteilen zu können, aber es ist ihre Politik, der auch ihre Außenpolitik entspricht. Darüber hinaus sind die Konzentrationslager zurückgekehrt, hauptsächlich, um Muslime umzuerziehen und so weiter.“

Das sind keine rassistischen Ausfälle, sondern ein nachdenklicher und sorgfältiger Ausdruck der Besorgnis in Bezug auf die chinesischen Autoritäten und deren schreckliche Misshandlungen der uigurischen Muslime. Ein Bezug, der nicht in das veröffentlichte Interview eingebaut wurde, weil es die Darstellung des Philosophen als unbeherrschten Eiferer erschweren würde. Genauso wie seine ebenfalls unterschlagene Beobachtung, dass „Muslime, die einen tradierten Lebensstil pflegen, offensichtlich sehr gute Bürger sind. Sie besitzen eine innere Würde, die Bürger haben sollten. Wir sollten lernen, das wertzuschätzen und zu fördern.“ Das ist wohl kaum der Aufschrei eines bösartigen Anti-Muslimen, als den ihn Eaton so gerne darstellen würde.

Doch die Manipulationen von Scrutons Aussagen hatten den gewünschten Effekt. In gewisser Weise dient der Fall Scruton als Parabel unserer Zeit. Seit Generationen haben Interviewer Zitate verfälscht, bislang führte das aber nicht dazu, dass bereits ein paar Stunden später Interviewte entlassen wurden. Jetzt gibt es ein erkennbares Muster. Sobald eine scheinbar seriöse Quelle auf Twitter eine Zeile kolportiert, finden die Follower ein neues Objekt der Empörung.  Sobald sich Prominente dem Mob anschließen, intensiviert sich die Kampagne gegen das Individuum. Schwache Politiker, die sich nicht nachsagen lassen wollen, sie reagierten zu spät, versuchen, Schritt zu halten. Um mit Henry Kissinger zu sprechen: Die Informationsflut überwältigt die Lebensweisheit.

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Aber während bestimmte konservative Politiker ihren Frieden zu machen scheinen mit dem, was sie für Zeitgeist halten, haben sie sich diesmal verschätzt. Schon bald nach Scrutons Rauswurf wurde offensichtlich, dass die Zitate manipuliert worden waren und der Philosoph seinen Job verloren hat, weil die Regierung vor dem Mob in die Knie gegangen war. Jason Cowley, der Chefredakteur des Magazins, sagte: “Der New Statesman nimmt journalistische Standards ernst. Wie alle verantwortlich handelnden Medienunternehmen prüfen wir intern die Vorwürfe der Falschrepräsentation. George Eaton hat sich schon für sein Verhalten in den sozialen Medien und seinen gedankenlosen Instagram-Post entschuldigt und ihn gelöscht.“ Sowohl Mercer und Tugendhat sahen sich gezwungen, halbherzige Entschuldigungen zu veröffentlichen.  Aber am wütendsten über die ganze Affäre waren junge Leute, die die Hass-Kampagnen in den sozialen Medien leid sind.

Sie liegen instinktiv richtig.  Unsere Welt ist voller komplexer Angelegenheiten, die diskutiert werden müssen. Wir brauchen Philosophen, Denker und sogar Politiker mit Mut, die uns helfen, Auswege zu finden. Wir leben in einem Zeitalter des Rufmords. Was wir wirklich benötigen, ist eine Gegenrevolution, die auf der Würde des Individuums gründet und nicht auf dem Einfluss des Mobs. Wahrheit darf Beleidigungen keinerlei Platz einräumen. Wir brauchen freies Denken und keine fantasielose, dumme und schlecht informierte Uniformität.

Dieser Beitrag von Douglas Murray erschien zuerst am 25. April 2019 in The Spectator. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme und Achim Winter für die Übersetzung ins Deutsche.


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