Das Bundesverfassungsgericht hat – wenig überraschend – entschieden, dass es tragenden Grundsätzen des Haushaltsverfassungsrechts widerspricht, eine im Jahr 2021 bestanden habende, aber nicht ausgenutzte Kreditermächtigung im folgenden Jahr (!) in ein „Sondervermögen“ umzudeuten, das dann nicht mehr der Corona- bzw. Coronafolgenbekämpfung dienen soll (wegen dieser Notlage war die Kreditermächtigung in 2021 ausnahmsweise zulässig gewesen). Stattdessen sollten damit Subventionen bezahlt werden, die aufgrund der wahnhaften Energiepolitik der Bundesregierung erforderlich werden.
Ist diese Entscheidung nun ihrerseits ein Notfall, der Regierung und Bundestag zu einer Überwindung der ansonsten geltenden „Schuldenbremse“ berechtigen würde? Den Haushalt zu beschließen ist bekanntlich die Aufgabe des Parlaments, man hat seit dem Preußischen Verfassungsstreit vom „Königsrecht des Parlaments“ gesprochen.
Aber es gibt hier eine Besonderheit: Anders, als bei allen anderen Gesetzen, kann die Initiative zu einem Haushaltsgesetz oder einem Nachtragshaushalt immer nur von der Regierung ausgehen, es gibt keinen Haushaltsgesetz-Entwurf „aus der Mitte des Bundestages“ oder vonseiten des Bundesrates. Regierung und Parlament müssen also eng zusammenarbeiten, und das heißt hier: die Regierung mit „ihrer“ Parlamentsmehrheit. Woran man einmal mehr sieht, dass es eine „klassische“ Gewaltenteilung unter dem Grundgesetz eben gar nicht gibt, weil Parlamentsmehrheit und Regierung immer an einem Strick ziehen; aber das ist ein anderes Thema.
Kann man einen Notstand rückwirkend verkünden?
Jedenfalls Ricarda Lang schien es im DLF so zu sehen. Sie bezeichnete zwar nicht unmittelbar das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als „Notfall“, sondern den Umstand, dass die so dringend benötigten 60 Milliarden Euro nun auf einmal nicht mehr da seien; aber das eine ist von dem anderen eben nicht zu trennen. Und Finanzminister Lindner hat bereits gestern verkündet, dass für das – doch eigentlich fast schon abgelaufene – Haushaltsjahr 2023 nun der Notstand ausgerufen werden soll, was zwar nicht die nachträgliche Legalisierung der seinerzeitigen Regierungspraxis bewirken könnte, aber eben eine „Ersatz-Kreditaufnahme“ ermöglichen soll.
Aus welchem Grund aber im Jahr 2023 nun ein Notstand bestanden haben soll, den bislang niemand bemerkt hatte, weil dieser Notstand – oder vielmehr: die Notwendigkeit eines Notstandes – erst am 15. November infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Gemüte drang, hat er noch nicht verraten. Da findet sich sicher noch irgendwas. Dies beantwortet aber noch nicht die Frage, ob man Ende November 2023 auf einmal einen Notstand ausrufen kann, um einen Kredit aufzunehmen, der Ersatz für Mittel schafft, die man bereits im Februar 2022 aus dem Haushaltsjahr 2021 glaubte übernehmen zu sollen, was aber, wie sich zeigte, nicht ging.
In anderen Kontexten mag man diskutieren, ob und inwieweit es bereits semantisch im Begriff des „Notfalls“, „Notstandes“ usw. liegt, dass dieser gegen den Willen des Betroffenen, bzw. trotz von diesem getroffener, wenn auch nicht hinlänglicher Gegenmaßnahmen eingetreten ist. Also zum Beispiel: Sind auswanderungswillige Afrikaner, die vorsätzlich mit nicht seetüchtigen Booten vor der libyschen Küste herumgondeln, nachdem sie aber zuvor die „Seenotretter“ auf ihre Situation und Position aufmerksam gemacht haben – denn sonst wäre das ja geradezu Selbstmord, ist es aber nicht – wirklich technisch in „Seenot“? Auf dieser Annahme beruht ja das ganze Seenotrettungsmodell, einschließlich großzügiger Finanzierung durch die Bundesregierung und die evangelische Kirche, die in Italien mittlerweile als „unfreundlicher Akt“ im Sinne des Völkerrechts wahrgenommen wird. Aber wie dem auch sei, mit der Schuldenbremse ist es so:
Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. (Art. 115 Abs. 2 Satz 6)
Nun könnte man denken: Vielleicht entzieht sich ja die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund von dessen Unabhängigkeit „der Kontrolle des Staates“. Aber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist keine „außergewöhnliche Notsituation“. Denn auch, wenn ein Urteil von den Betroffenen teils so erlebt werden mag: Per definitionem „erkennt“ ein Gericht das Recht immer nur – also so, wie es vorher auch schon da war –, es schafft aber kein neues Recht und übt auch kein „Gestaltungsrecht“ aus (letzteres ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand einen bislang bestehenden Vertrag kündigt). Die damit bewirkte Durchsetzung des geltenden Rechts ist keinesfalls eine „Notsituation“. Und die reine Abwesenheit von anwesend geglaubten 60 Milliarden Euro als solche ist es auch nicht – denn Geld ist immer zu wenig da.
Die Energiekrise ist selbstverschuldet
In der Regierung scheint man dazu zu tendieren, die Schwierigkeiten der Energie- und speziell Erdgasbeschaffung im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg als Vorwand benutzen zu wollen. Diese gibt es zwar, aber sie liegen eigentlich seit dem russischen Einmarsch Ende Februar 2022 am Tage, man hätte sie dann eben gleich mit dem Beschluss des Haushaltsgesetzes für 2023 im Dezember 2022 feststellen können und müssen. Die wesentlichen und hauptsächlichen Schwierigkeiten der Energiebeschaffung entziehen sich jedenfalls offensichtlich garade nicht „der Kontrolle des Staates“, sondern wurden staatlicherseits vorsätzlich und vernunftwidrig herbeigeführt: Sie liegen in der „Energiewende“ im Allgemeinen und dem überstürzten Ausstieg aus der Kernkraftnutzung im Besonderen.
Und SPD-Fraktionschef Mützenich wollte bekanntlich sogar auf den vermeintlichen Zwang, demnächst mit deutschen Mitteln den Gaza-Streifen wieder aufzubauen, abstellen – man muss diesen Gedanken gar nicht in der Sache diskutieren, da es allzu offensichtlich ist, dass er nur irgendein unerwartetes Ereignis suchte, das in zeitlicher Nähe zu dem bundesverfassungsgerichtlichen Urteil, das eben die Notwendigkeit eines Notstandes begründete, stattfand. Es hätte auch eine Mondfinsternis sein können, was kostet sowas eigentlich?
Wie dem auch sei: Die Schuldenbremse des Grundgesetzes ist als solche gut und richtig; und dies gilt erst recht, wenn eine Regierung übermäßige Schulden nicht zur Finanzierung langfristiger Investitionen in die Infrastruktur machen will, sondern – wie es jetzt geschieht – zur Zerstörung einer funktionierenden Infrastruktur und anschließender Subventionierung der wegen der Energiepreise nicht mehr wettbewerbsfähigen Unternehmen. Und dennoch wird häufig etwas übersehen: Als die Schuldenbremse 2009 eingeführt worden ist, ging man selbstverständlich davon aus, dass die Bundesrepublik immer nur für ihre eigenen Schulden haftet, so, wie es der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (Art. 125) immer vorsah.
Seit März 2010 ist diese Regel unter tätiger Mithilfe des Bundestages schrittweise aufgeweicht worden, und heute haben wir infolge des Aufkaufs von Staatsanleihen durch die EZB eigentlich eine weitgehende Schuldenvergemeinschaftung in der EU. Und dann gilt natürlich: Wenn man die Schulden seiner Nachbarn ohnehin mitbezahlen muss, und diese kaufen sich dauernd neue Möbel und lassen ihre Häuser renovieren, dann nützt es einem nicht viel, wenn man als Einziger sagt: Wir sind aber sparsam, wir machen keine Schulden! Denn dann hat man eben alte Möbel und ein unrenoviertes Haus, wenn man dann entsprechende Investitionen der Nachbarn mitbezahlen muss. Da haben die linken Ökonomen, die die Schuldenbremse für verkehrt erklären, gewissermaßen einen Punkt.
Aber das hier nur am Rande; denn die Regierung will ja keine Zukunftsinvestitionen, sondern Subventionen zum Ausgleich ihrer politischen Wahnideen bezahlen.