„Sie ist wieder da. Die Frage nach der Identität.“ So titelte das „Philosophie Magazin“ vor einiger Zeit. Falsch: Sie war nie weg! Sie begleitet jeden von uns. Ein Leben lang. Und sie begleitet Marken. Ob Bier, Auto, Hotel oder Veranstaltung. Ob Medienangebot oder Urlaubsregion. Ob Glaubensgemeinschaft, Partei, Verein oder Staat. All sie bestehen aus Bündnissen zwischen Menschen und Dingen oder Menschen und Menschen. Alle Arten innerer Verbundenheit, in denen gemeinsam gewollt wird, wie es der Begründer der Markensoziologie, Alexander Deichsel formuliert, können als Marken-Organismen aufgefasst werden. Und müssen daher wie solche geführt werden.
Marken sind unser soziales Navigationssystem. Aufgrund der steigenden Alltags-Komplexität werden sie mehr denn je gebraucht. Ich bin Bremer und Europäer, aber ich bin auch Deutscher. Johannes Rau, der kurz vor der Jahrtausendwende Bundespräsident wurde, meinte schon 1987: „Ich bin gerne ein Patriot. Ein Patriot ist jemand, der sein eigenes Vaterland liebt. Ich bin nicht gerne ein Nationalist, der die anderen Vaterländer verachtet.“ Auch wenn es in unserem Land diverse Publizisten und Intellektuelle gibt (von Kermani über Leggewie bis Trojanow), die es nicht wahrhaben wollen: das Vaterland gewinnt derzeit an Bedeutung. Es ist (noch) keine Bedrohung, sondern die Reaktion auf eine Bedrohung. Kosmopolitismus muss man sich leisten können.
Die Zahl der Staaten nimmt zu. König Fußball lässt grüßen: Die FIFA hat mehr Mitgliedsländer als die UNO. Von wegen „global village“: Wo existieren bzw. funktionieren globale Regeln? Weder beim Umweltschutz noch im Kampf gegen Steuerflucht. Asbest ist in der EU verboten, Russland und Brasilien verkaufen diesen Werkstoff weiter in Regionen, deren Bewohner noch nicht mitbekommen haben, dass die Fasern für den Menschen lebensbedrohlich sind. Beim Doping hat sich nicht die Bekämpfung globalisiert, sondern der Vertrieb der Mittel. Und haben sich die Geheimdienste bereits zusammengeschlossen oder aufgelöst? Kennt jemand eine von allen akzeptierte Definition für Terrorismus? Bilde ich mir den regelmäßigen Verweis auf „innere Angelegenheiten“ nur ein?
Dass auch in Deutschland gemeinsam gewollt wird, daran muss resolut erinnert werden. Die Solidarität benötigt ein Überbrückungskabel. Sah Hannah Arendt im Spießer den Haupttypus des modernen Massenmenschen, ist dies ein halbes Jahrhundert später der Narziss. Ersterer wollte es allen recht machen, letzterer nur sich. Eine nie dagewesene Selbstüberschätzung des Einzelnen kennzeichnet die aktuelle Gesellschaft, vor allem die urbane. Viele leben, fast alle kommunizieren über ihre Verhältnisse. Und doch hallt ein kollektiver Hilferuf durchs Land: Die Offenheit wird als Überforderung wahrgenommen, die Flexibilität als Zumutung, zumindest von einer neuen Unterklasse und der alten Mittelklasse, so der Kultursoziologe Andreas Reckwitz. 2/3 der postindustriellen Gesellschaft fahren im Paternoster in der Kabine, die sich nach unten bewegt.
Der als Ketzer verbrannte Giordano Bruno war vielleicht der erste Globalisierungs-Skeptiker. Der Italiener stellte im 16. Jahrhundert die Frage, ob der Verkehr zwischen Völkern, welche die Natur durch Meere und Gebirge, durch Sprache und Sitten geschieden hat, mehr nützt als schadet. Bruno jedenfalls vertrat die Auffassung, dass durch den Kontakt die Laster leichter vervielfältigt werden als die Tugenden. Der britische Soziologe Anthony Giddens rät fast 500 Jahre später: „Unsere entfesselte Welt braucht nicht weniger, sondern mehr Lenkung!“.
Es geht nicht um übertriebene Angepasstheit, ein Reduziert sein aufs Funktionieren. Staatlich verordneten Gruppenzwang hatten wir mit den fatalsten Folgen der Geschichte. Aber 80 Millionen Partikularinteressen in allen Lebenslagen, das geht eben auch nicht. Ansonsten tauchen Leute auf, die dieses Sitten-Vakuum mit extremer Entschlossenheit zu füllen versuchen. Islamisten zum Beispiel. Oder Rechtsradikale.
Intellekt und Naturell der Individuen sind der Anfang der Wertschöpfungskette der Marke Deutschland. Man kann es nicht oft genug betonen: Es braucht die besten Schulen und Ausbilder. Für ein reiches Industrieland zeitgemäßes Equipment und kompetentes Personal. Und letzteres benötigt (gewolltes) Durchsetzungsvermögen. Dies wird immer wichtiger, denn der Anteil der respektlosen Mädchen und Jungen steigt, was selbstverständlich mit der wachsenden Zahl Alleinerziehender korreliert und mit der Tatsache zu tun hat, dass – auf Teufel komm raus – alle gemeinsam unterrichtet werden sollen.
Erstmals hört man aus unseren Gefängnissen, sie seien überbelegt! Nicht nur der frühere RAF-Anwalt Otto Schily hat sich zu einem Law-and-Order-Anhänger entwickelt, auch Ex-Sponti Joschka Fischer sagt, im Herbst des Lebens angekommen, er habe sich von der Auffassung „Der Mensch ist gut, die Verhältnisse sind schlecht“ verabschiedet. Er spricht jetzt sogar davon, dass die Menschen Führung bräuchten. Der Brite Thomas Hobbes hat schon Mitte des 17. Jahrhunderts betont, dass der Staat dem Einzelnen Dinge abnehmen muss, weil er nicht in der Lage ist, sich auf eine Art zu verhalten, die im Sinne des Gesamtsystems ist. Im Fußball brauchte es die Erfindung des Freistoßsprays, damit die vorgeschriebenen 9,15 Meter Abstand von den Abwehrspielern eingehalten werden.
Wer sich auf den Bahnhöfen deutscher Großstädte aufhält, hört Durchsagen, in denen man aufgefordert wird, gut auf sein Gepäck bzw. seine Wertsachen zu achten. Energieversorger verschicken Briefe, in denen sie beschreiben, wie ihre Monteure aussehen und über welche Informationen diese verfügen, weil es heutzutage so viele Trickbetrüger gibt. Die Kriminalstatistik offenbart, dass die Zahl der Gewalttaten in Deutschland deutlich zunimmt. Und laut Bundeskriminalamt gibt es einen Zusammenhang zwischen der hohen Zahl an Einbrüchen und 3.800 Kilometern unkontrollierter Grenzen.
Angela Merkel hat zwar mehrfach angedeutet, dass sie eine andere Auffassung vertritt und Markus Söder hat gerade einen Kreuz-Zwang in bayrischen Behörden verordnet, aber eine Renaissance des Glaubens wäre 200 Jahre nach Kant und 500 Jahre nach Luther kontraproduktiv (dass manch einer den Wunsch verspürt, mag auch daran liegen, dass die Familie immer weniger Halt gibt). Und doch gehören das Weihnachtsfest sowie die Adventszeit (kulinarisch, musikalisch und symbolisch) zu unserer Leitkultur – ob man nun in der Kirche ist oder nicht. Diese rhythmisierten Feierlichkeiten und Bräuche sind ein Marken-Baustein wie auch die deutsche Sprache oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und ja: Die Nichtduldung antisemitischer Einstellungen muss seit 1945 ebenfalls dazu gezählt werden. Dass ausgerechnet wir in Scharen judenfeindlich sozialisierte Menschen ins Land lassen, zeigt, welch absurde Abzweigungen die Geschichte bisweilen nimmt.
Der protestantische Bischof Huber beobachtet eine Selbstvergleichgültigung in Deutschland. Wieso reisen wir nach Thailand oder Indonesien, nach Mexiko, Australien oder Südafrika? Weil dort alles so ist wie zu Hause? Die Differenz generiert die Neugier. Andere Länder, andere Sitten. „Grenze zieht an“, bilanziert Marken-Fachmann Alexander Deichsel. Also können wir, also müssen wir die Eigen-Artigkeit des Deutschen erhalten. Eben Einheit in Vielfalt. Kontinuität wiegt in der Markenführung stets schwerer als Innovation, Wiederholung schwerer als Erstmaligkeit. Wir fühlen uns zu bestimmten Marken hingezogen, weil sie sind, wie sie sind. Und weil wir wissen, woran wir sind. Ein Staat als Markensystem ist verständlicherweise nicht aus einem Guss, aber selbst das heute so oft zitierte „Diversity Management“ muss sich innerhalb eines vorgegeben Rahmens abspielen. Ansonsten wird die Einwanderungs-Gesellschaft amorph, die Marke Deutschland verwässert.
Marke bedeutet Substanz, Spezifik und Stimmigkeit. Menschen, die innerhalb nationaler Grenzen politische Verantwortung tragen, sollte man nicht vorwerfen, dass sie sich primär um die eigene Bevölkerung kümmern wollen. Die Mitglieder der Bundesregierung legen sogar einen Eid darauf ab, dass sie in ihrem neuen Job das Wohl des deutschen Volkes zu mehren versuchen werden. Hat Coca-Cola jemals mehr an Pepsi als an sich gedacht? Ist Apple eine positive Entwicklung von Samsung wichtiger als die eigene? Bezweckt die Führung von Werder Bremen zuallererst, dass der Hamburger Sportverein die Klasse hält? Es ist weder rechts- noch linkspopulistisch, sich dafür stark zu machen, dass Jobs in erster Linie im eigenen Land entstehen (so wie der US-Amerikaner Joseph Stiglitz). Es ist schlicht und ergreifend logisch. Die Mitte ist nicht enthemmt, wie eine Fernseh-Dokumentation behauptete, sie ist verunsichert, denn anders als in Indien und China (die beide nationalistisch regiert werden) schrumpft sie in Deutschland. Nur wenn offene Gesellschaften in einer globalisierten Welt gut für alle sind, hätten sie auf Dauer Bestand, warnt EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Sie ist übrigens Dänin.
Martin Busch arbeitet seit über 20 Jahren als Redakteur und Moderator für die Hörfunkprogramme von Radio Bremen. Nach seinem Soziologie-, Politik- und Linguistik-Studium an der Universität Hamburg (Schwerpunkt Markensoziologie) promovierte er im Fach Kommunikationswissenschaften. Er ist Autor der Streitschrift “Deutschland, Deutschland ohne alles – warum Europas größte Wirtschaftsmacht ein sozialer Pflegefall ist“.