Als Nationalstaaten im klassischen Sinn gelten nur noch Japan und Island. Nicht zufällig sind beide Länder Inselstaaten mit einer starken nationalen Identität, einer für Ausländer nicht leicht zugänglichen Sprache und begrenztem Bedarf an und geringer Akzeptanz von nicht einheimischen Arbeitskräften. Weniger als zwanzig weitere Länder haben unter fünf Prozent Minderheiten. Der groβe Rest von rund 170 bis 180 Ländern hat ethnische oder religiöse Gruppen mehr oder weniger integriert, und nicht wenige können die dadurch entstandenen internen Spannungen nicht kontrollieren und kaum steuern. Die Problemländer liegen nicht alle so beruhigend weit weg wie Myanmar mit seinen Rohingyas oder Ruanda und Burundi mit Ihren Tutsis und Hutus. Der Bosnienkrieg ist unvergessen, und selbst Nordirland ist durch den Brexit wieder ins Visier der Medien geraten. Die potenzielle Gefährlichkeit heterogener Gesellschaften weltweit ist eigentlich so offensichtlich, dass die Suche nach positiven Integrationsbeispielen unsere innenpolitischen Debatten weit stärker bestimmen sollte, als dies seit 2015 der Fall ist.
Integration?
Die Länder der Europäischen Union haben sehr unterschiedliche Immigrationserfahrungen. Frankreich und Groβbritannien, in geringerem Maβe die Niederlande und Portugal, haben Migranten aus ihren ehemaligen Kolonien mehr oder weniger integriert, obwohl bei der Mehrheit die Unterschiede zur Stammbevölkerung deutlich sichtbar bleiben und Parallelstrukturen in erheblichen Gröβenordnungen unübersehbar sind. Die USA konnten seit 200 Jahren die Folgen der Sklavenhaltung im Süden nicht überwinden und akzeptieren im Übrigen die weniger sichtbaren Parallelstrukturen der meisten sonstigen Immigrantengruppen. Wie dort lösen inzwischen auch in Europa interne Wanderungsbewegungen und das Eindringen von Minderheiten in vorher homogene Wohngebiete erhebliche Wertschwankungen auf den Immobilienmärkten aus. Die „Flucht“ der Alteingesessenen vor Wertverlusten forciert parallel dazu die Bildung von Parallelstrukturen bis zur Ghettobildung.
Über dem heftigen Meinungsstreit zwischen Multikulti-Befürwortern und deren Gegnern scheint eine nüchterne Bestandsaufnahme weitgehend zu fehlen, wo wir stehen und wohin die Reise wahrscheinlich weitergeht. Fast dreiβig Jahre nach der Wiedervereinigung, die mit Willy Brandts „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ noch einmal die historische Nationalstaatsidee logisch und naheliegend erscheinen lieβ, wird mit der Immigration seit 2015 langsam klar, dass von dem Modell des traditionellen Nationalstaats in Zukunft keine Rede mehr sein kann. Die Kriterien gemeinsame Sprache, Religion sowie ethnische Prägung und Kultur haben bei 18,6 Millionen (22,5%) Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund 2016 (Statistisches Bundesamt) weitgehend ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Die Quantität ist längst in Qualität umgeschlagen, vor allem in den ärmeren Städten, aber auch in kleineren Orten mit preiswerterem Wohnraum.
Die öffentliche Meinung wird durch nicht immer offene und zeitnahe Berichterstattung der Medien zunehmend gespalten. Wichtige Parameter werden statistisch nicht oder nur unzureichend erfasst und veröffentlicht. Bei Hartz IV liegt der Anteil von Empfängern mit Migrationshintergrund inzwischen bei 55%, in absoluten Zahlen sind das etwas über 3 Millionen Personen. Der Missbrauch von Sozialleistungen und der Lebensstil einzelner „Groβfamilien“ sind wenig geeignet, die ärmeren „Biodeutschen“ davon zu überzeugen, dass die Migranten den angespannten Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit entlasten können, wie es von bestimmten Sachverständigen behauptet wird. Auf die Verbindung der hohen Migrantenzahlen und ihrer Alimentierung mit der Verunsicherung der Stammbevölkerung durch spektakuläre Gewaltdelikte wirken die Verlautbarungen der notorischen Multikulti-Apologeten nur noch provokativ. Soweit zu den Migrationsthemen Leserbriefe zugelassen sind, zeigen sie eine aufgestaute Wut, die es bisher in diesem Maβe nicht gegeben hat. Und die kulturellen und religiösen Identitäten der meisten Migranten potenzieren die Unterschiede der Einschätzungen und Meinungen nur noch mehr. Viele Podiums- und Fernsehdiskussionen zum Thema Nr. 1 sind nur noch schwer zu moderieren.
Die mehr als verhaltene Selbstkritik der Kanzlerin hat erheblich dazu beigetragen, dass die Debatte nicht ausreichend nüchtern und ehrlich geführt wird. Wie Goethes Zauberlehrling müssen wir zunächst eingestehen, dass das Experiment nicht rückgängig gemacht werden kann. „Jetzt sind sie nun mal da“, und unsere rechtsstaatlichen Verfahren und ihre Zwänge werden uns nicht gestatten, von Rückführungen in einigermaβen nennenswerten Dimensionen zu träumen.
Immigrationsergebnisse
Wenn man davon ausgeht, dass Japan und Island als die einzigen Nationalstaaten mit einer homogenen Bevölkerung übriggeblieben sind, sollten und müssen wir erst einmal bei den vielen Patchwork-Staaten zu analysieren versuchen, was dort funktioniert und was weniger. Hier einige Beispiele:
USA
Die USA als klassisches Einwanderungsland bieten eine Reihe von Erfahrungen. Mehr als offiziell willkommen waren in der Neuen Welt bei weitem nicht alle Neuankömmlinge. Noch bis ins 20. Jahrhundert enthielten viele Stellenanzeigen den Vermerk „Ina“, eine Abkürzung für „Irish need not apply“. Gegen den verbreiteten Antisemitismus hatten jüdische Einwanderer einen schweren Stand, erkämpften sich aber allmählich in bestimmten Berufen ihre Anerkennung. In den 1890er Jahren waren rund 70% aller Schneider in New York Juden. Die 39 Millionen Afro-Amerikaner bilden etwas über 12% der Gesamtbevölkerung, in manchen Städten, etwa Detroit, aber Mehrheiten über 80%, die nur sehr teilweise gleichberechtigt integriert sind. Interne schwarze Kritiker sehen die Schuld sowohl im weiβen Rassismus als auch in Mentalitätsdefiziten dieser Minderheit, allerdings auch in der gut gemeinten „affirmative action“, die kontraproduktiv gegen die mentale Emanzipation gewirkt habe. Von „melting pot“ kann man in den USA nur sehr eingeschränkt reden, viele eingewanderte Gruppen behalten weitgehend ihre alte Identität, einschlieβlich Sprache, Religion und Ernährungsgewohnheiten. Ansonsten sind sie aber in den Arbeitsmarkt integriert und fallen wenig auf, nicht zuletzt wohl, weil die meisten phänotypisch nicht aus dem Rahmen fallen, also relativ „weiβ“ sind. Die Latinos sind nicht immer als solche zu erkennen, werden aber numerisch zunehmend als Problem empfunden, deshalb die Trump‘sche Mauer zu Mexiko.
Malaysia
Ein anderes Beispiel für eine nur teilweise gelungene Integration ist Malaysia, dessen Bevölkerung heute zu fast 70% aus Malaien inklusive sonstiger indigener Minderheiten, 23% Chinesen und 7% Indern besteht. Die Wohlstandsunterschiede vor allem zwischen Malaien und Chinesen haben seit Jahrzehnten zu einer Politik geführt, die auch aus wahltaktischen Gründen die Malaien bevorzugt behandelt und sowohl Privilegien beim Bildungszugang, bei der Einstellung im fast ausschlieβlich malaiischen öffentlichen Dienst als auch bei öffentlichen Aufträgen und finanziellen Zuwendungen umfasst. Die Politik schürt eine latente Angst vor zu viel Wirtschaftsmacht der chinesischen Minderheit, deshalb bleibt auch eine weitergehende Integration oft aus, obwohl die Bevölkerung insgesamt weniger Berührungsängste hat. Aber religiöse Fragen spielen auch ihre Rolle, wenn etwa in der Hauptstadt Kuala Lumpur kein chinesisches Restaurant mehr Schweinefleisch serviert oder lange Kleider und Kopftücher für die Frauen der muslimischen Mehrheit als „modest fashion“ in wenigen Jahren zum Standard geworden sind. Streit um die Verbreitung von Bibeln oder die Forderung, dass das Wort Allah nicht von Christen benutzt werden dürfe, kennzeichnen seit Jahren die problematische Balance im religiösen Bereich. Alkoholverbote und nach Geschlecht getrennte Kassen in einigen Supermärkten mögen noch als eher amüsante Begleiterscheinungen durchgehen, prägen aber das Bewuβtsein der Abgrenzung. Insgesamt bietet Malaysia ein eindrückliches Negativbeispiel für eine äuβerst kontraproduktive Integrationspolitik, besonders im Vergleich mit dem benachbarten Singapur.
Thailand
Ein weiteres Negativbeispiel bietet Thailand, dessen Grenze zu Malaysia aus historischer und ethnischer Sicht einige hundert Kilometer zu weit südlich gezogen wurde. Die Bevölkerung in den südlichen Provinzen Thailands ist malaiisch, spricht malaiisch und fühlt sich den Nachbarn im Süden deutlich näher als der buddhistischen Mehrheit im Norden. Durch eine immer wieder sehr repressive Politik wurden seit Jahrzehnten alle Bestrebungen für mehr Autonomie der malaiisch-muslimischen Minderheit in Ablehnung und Terrorismus umgelenkt. Ständige Bombenanschläge, Attentate und Morde an Regierungsvertretern und Militärs sind aus Sicht aller bisherigen Regierungen in Bangkok reiner Terrorismus, in den Augen der malaiischen Minderheit dagegen heroischer Patriotismus. Leider hat das starke Militär Thailands nie einsehen können, dass die Konflikte militärisch nicht zu lösen sind. Die gesamte Verwaltung, einschlieβlich der Schulen, versucht vergeblich, die Minderheit zu „thaiisieren“, was immer wieder an Grenzen stöβt und Ressentiments zu Widerstand werden lässt. Einer der ganz wenigen Thais aus dem Süden, der eine Karriere in Bangkok gemacht hat, war der Ende letzten Jahres verstorbene malaiisch-muslimische Politiker Dr. Surin Pitsuwan, Auβenminister von 1997 bis 2001 und ASEAN Generalsekretär von 2008 bis 2013. Mit seinem Studium an der Al-Azhar Universität in Kairo und später Harvard, sowie flieβend in Malaiisch, Thai und Englisch, war Dr. Surin ein ungewöhnlicher Grenzgänger der Integration, aber eben eine Ausnahmeerscheinung.
Wie kann es weitergehen? Dazu zehn Thesen:
1. Deutschland gehört seit vielen Jahren zur groβen Mehrheit der multi-ethnischen und multireligiösen Länder. Die letzten homogenen Nationalstaaten sind Island und Japan.
2. In Einwanderungsländern wie Deutschland, sind Parallelgesellschaften normal. Es ist gleichermaβen unrealistisch, sie zu negieren oder zurückdrängen zu wollen.
3. Die Forderung nach Integration im Sinne einer stärker homogenen Gesellschaft ist Illusion, Deutschland wird auf Dauer eine „Patchwork-Gesellschaft“ bleiben.
4. Die Schulbildung und sprachliche Anpassung der Migrantenkinder ist die wichtigste politische Aufgabe unserer Zeit. Wahrscheinlich ist eine temporäre Trennung zum Erlernen der deutschen Sprache vor der Einschulung und in Sonderklassen für die älteren Schüler notwendig, zumindest in Gemeinden mit hohem Ausländeranteil. Eine generell gemischte Beschulung überfordert zu sehr deutsche wie ausländische Schüler und dazu die Lehrer.
5. Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, ist irrelevant. Der muslimische Bevölkerungsanteil wird bleiben und weiter anwachsen.
6. Ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ für Migranten nach Asylbewerberleistungsgesetz und Hartz IV darf nicht auf Dauer angelegt sein. Ohne Fordern wird Fördern für diejenigen, die hier bleiben wollen, allzu leicht kontraproduktiv.
7. Die Integration in den Arbeitsmarkt muss höchste Priorität haben und darf nicht durch kaum erfüllbare Anerkennungskriterien für berufliche Qualifikationen scheitern. Die deutschen Standards sind praktisch für alle Herkunftsländer auβerhalb der EU viel zu hoch.
8. Solange die deutsche Wirtschaft hohe Steuereinnahmen produziert, muss die Politik sorgfältig planen, welche Ausgaben die Immigration in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfordern wird. Sollte sich die Konjunktur verschlechtern, dürfen diese Ausgaben nicht die normalen Budgetansätze der sozialen Absicherung für die deutsche Bevölkerung gefährden.
9. Euphemismen und unhaltbare Versprechungen der Politik generieren Widerstand in der überwiegend skeptischen biodeutschen Bevölkerung. Hier muss eine realistische politische Vorgabe Klarheit schaffen.
10. Nur eine geregelte Zuwanderung, die sich am Bedarf des Arbeitsmarktes orientiert, wird die Akzeptanz sicherstellen.
Dr. Wolfgang Sachsenröder war fast 25 Jahre als Politikberater international tätig. Seit 2009 lebt er wieder in Singapur und forscht und publiziert über Parteien in Südostasien, u.a. mit dem Blog www.partyforumseasia.org