Beim Erdoğan-Referendum im April dieses Jahres spielten Auslandstürken beinahe das Zünglein an der Waage: In der Türkei war die Mehrheit für das Präsidialsystem knapp, während die Wahlteilnehmer unter den Deutschtürken mit klarer Mehrheit dafür votierten. „Obwohl diese Menschen in Demokratien leben, in Freiheit und Sicherheit, haben sie für eine Abschaffung der Demokratie in der Türkei gestimmt“, klagte Spiegel-Kommentator Hasnain Kazim.
Fernwähler?
Warum? Weil sie es konnten. Menschen, die ihr Herkunftsland höchstens noch im Urlaub besuchen – oder gar hier geboren sind und es nie anders kannten, dürfen über die politische Struktur eines Landes entscheiden, in dem sie gar nicht wohnen, über dessen Staatsangehörigkeit sie aber verfügen. Man mag es einen Missstand finden, wenn nicht unmittelbare Betroffene in diesem Fall einem immer diktatorischere Züge annehmenden Regime Legitimation verleihen, kann aber nicht einfach mit dem Finger Richtung Bosporus zeigen.
Denn für Deutschland gilt Ähnliches. Nein, weder gibt es auf der Bundesebene Volksentscheide noch soll der Bundespräsident demnächst zum Sultan erkoren werden. Aber: Genau wie Deutschtürken bei Wahlen ihre Stimme für oder gegen Erdoğan abgeben können, dürfen dies Auslandsdeutsche bei der anstehenden Bundestagswahl. Nicht alle und auch nicht in langen Schlangen vor den Botschaften und Konsulaten: Lediglich Briefwahl ist möglich, gewisse bürokratische Hürden sind gesetzt. (Und in strukturschwachen Wohnländern wohl auch faktische hinsichtlich der rechtzeitigen Unterlagenübermittlung.)
„Wer seit 15 Jahren in Japan lebt, wird Flüchtlingszuwanderung, Energiewende und Eurorettung ziemliche exotische Themen finden.“
Das Wahlrecht genießen diejenigen Auslandsdeutschen, die nach ihrem 14. Geburtstag mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben, was aber nicht länger als ein Vierteljahrhundert zurückliegen darf. Alle übrigen sind nicht automatisch ausgeschlossen, sondern dürfen ebenfalls den postalischen Urnengang antreten, wenn sie „aus anderen Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“. Das können Botschaftsangestellte sein, Mitarbeiter von Goethe-Instituten oder Auslandskorrespondenten deutscher Medien. Außerdem z.B. Menschen, die in der Nähe der Grenze leben und beruflich oder auch ehrenamtlich in Deutschland tätig sind. Wer seit über 25 Jahren ununterbrochen mit Wohnsitz in Belgien für deutsche Europaparlamentarier arbeitet – und damit eigentlich aus dem Raster fiele, kann etwa durch Zugehörigkeit zum Brüsseler Ortsverband einer deutschen Partei sein Engagement für die Heimatfront unter Beweis stellen.
Als US-Auswanderer hat man noch keine Ekelbilder auf Zigarettenpackungen gesehen, in Österreich kann man sein Haus wegen niedrigerer Ökostandards billiger bauen, unter australischer Sonne sieht man Solarkollektoren vielleicht etwas anders. Je nach Medienkonsum und Kontakten kann man dann nur sehr gefiltert, wenn überhaupt, mitreden. Und – sofern man keine grundbesteuerte Immobilie in der alten Heimat hat – sich jeglicher Finanzierung entziehen. Die energiepolitisch stark überteuerte Stromrechnung spart man sich, irgendwelche Rettungsschirme tangieren einen (jedenfalls außerhalb der EU) weniger, und für eine Flüchtlingspolitik, die sehr viele ‚noch nicht lange hier Lebende‘ zu dauerhaften Sozialfällen abstempelt, braucht man auch nicht zu löhnen. Da hat der Wahlakt mehr mit einem Computerspiel als mit aktiver Bürgerschaft zu tun. Und wie war das noch zu Zeiten der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung: „No taxation without representation“ – sollte das nicht umgekehrt genauso gelten?
„In der Schweiz, kann man vielleicht Steuern sparen, sinnvollerweise aber nicht zugleich als exilierter Souverän über Deutschland mitherrschen.“
Der wahlberechtigte Auslandsdeutsche kann sich für eine Landesliste und einen Direktkandidaten entscheiden. Es gilt der Wahlkreis seines letzten deutschen Wohnortes. „In Fällen, in denen ein solcher Ort nicht festgestellt werden kann, kommt die letzte Heimatgemeinde der Vorfahren in gerader Linie im heutigen Bundesgebiet in Betracht, bei mehreren die des letzten Fortzuges.“ Vielleicht kam ein verstorbener Vorfahr aus Hannover und hat noch Kurt Schumacher persönlich seine Stimme gegeben. Aber gut, man kann ja seinen Wahlkreisabgeordneten bei dessen nächsten Urlaub an den Zuckerhut einladen, um ihm unter vier Augen zu berichten, wo vor Ort der Schuh drückt. Oder man lässt sich gleich selbst aufstellen – sogar das passive Wahlrecht genießt man auch ohne festen Wohnsitz in der Bundesrepublik – und hält dann Sprechstunden in seinem Wahlkreisbüro in Neuseeland ab.
Fernwähler?
Wer von Köln nach Neukölln zieht, kann den Kölner Stadtrat nicht mehr wählen und ebenso wenig den NRW-Landtag. Wieso sollte es da dem Auswanderer in ferne Gefilde anders ergehen? Dem Staatsrechtler Jellinek zufolge konstituieren den Staat drei Elemente: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Kann dann die Staatsgewalt von außerhalb des Staatsgebietes lebendem Staatsvolk (durch Wahlen) ausübt werden? Von Menschen, die weder aktiv noch passiv als richtige Bürger teilhaben? Das Wahlrecht muss mehr sein als der Ausdruck einer durch Reisepass verbrieften deutschen Identität. Es geht um Mitbestimmung im eigenen Land, dessen Teil man ausmacht, wo man mittendrin ist statt außen vor.
In der Schweiz, wo die meisten Auslandsdeutschen leben, kann man vielleicht schön wohnen, viel Geld verdienen und Steuern sparen, sinnvollerweise aber nicht zugleich als exilierter Souverän über Deutschland mitherrschen. Das Wahlrecht für Auslandsdeutsche muss auf den Prüfstand und sollte auf wenige Ausnahmefälle begrenzt werden. Das würden zwar einen Verlust von ein paar Zehntausend Wählerstimmen bedeuten, aber einen Gewinn für die Demokratie.
Christoph Lövenich ist Novo-Redakteur. Dieser Beitrag ist zuerst bei Novo Argumente erschienen.