Zu den Übungen eines jeden denkenden Menschen – und wer wollte kein denkender Mensch sein? – gehört es, sich auch in die Gegenseite hineinzuversetzen und deren Argumente mit Empathie im Herzen zu bewegen. Und selbst wenn die Argumente mit Hysterie vorgetragen werden und auf den ersten Blick absurd erscheinen, so ist das Häuten der Zwiebel und das Vordringen zum Kern doch auch eine Übung, um der Hysterie nicht auf den Leim zu gehen und den Diskurs lebendig zu halten.
Für immer mehr Menschen in Deutschland unverständlich ist die fortwährende Beleidigung und Delegitimierung des politischen Gegners als Faschist, Nazi oder rechtsradikal. Sie ist eine der liebsten Übungen der „linksliberalen Mitte“, über die man geneigt ist, nur noch den Kopf zu schütteln. Lächerlich ist das angesichts der AfD. Aber mal den schlimmsten Fall durchgespielt: Was, wenn die Furcht, mit der AfD und ihren Wasserträgern habe eine neue faschistoide Kraft ihr böses Haupt erhoben, zwar jetzt noch übertrieben oder sogar grundlos erschiene, in wenigen Jahren jedoch sich als weise Prophezeiung herausstellen würde, weil sich die Verhältnisse und die Partei gleichermaßen in der Zwischenzeit radikal geändert hätten oder eine wirkliche „radikale Rechtspartei“ aufträte, angeführt von einem wirklichen, noch dazu charismatischen „Populisten“? Ein Blick in die jüngere deutsche Geschichte mag helfen, die Furcht der „linksliberalen Mitte“ zu verstehen.
Bei der Reichstagswahl 1928 hatte die NSDAP, deren „Führer“ Adolf Hitler den Durchmarsch an die Regierungsmacht zum Ziel erklärt hatte, mit weniger als 3% ein desaströses Ergebnis eingefahren. Trotz „bolschewistischer Gefahr“ und der „Schmach von Versailles“ war es Hitler nicht gelungen, eine Wählerbasis zu schaffen, die seine Partei zu einer relevanten politischen Kraft im Reich hätte werden lassen. Dem Reich und seinen Menschen ging es zu gut, und die dunklen Gewitterwolken der Weltwirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit waren noch fern. Die Menschen leben halt lieber im Hier und Jetzt.
Sähe man in der AfD das neuerliche Heraufziehen einer demokratiefeindlichen und den Parlamentarismus zerstörenden Kraft, so könnte man die Wahl von 1928 mit der Wahl des Jahres 2013 vergleichen, als die AfD den Einzug in den deutschen Bundestag knapp verpasste. Zwar war das Ergebnis nicht desaströs, aber eine relevante politische Kraft war die AfD noch nicht geworden. Auch hier jedoch wiederholt sich die Geschichte, die viele Deutsche so ängstigt: vier Jahre später, 2017, ist die AfD zu einer gewaltigen politischen Kraft angeschwollen, die auf dem Resonanzboden der „Flüchtlingskrise“ Anhängerschaft gewinnt und beginnt, die Politik zu bestimmen.
Für die anderen ist Angela Merkel das Gesicht eines deutschen Selbstzerstörungsprogramms, dem dringend Einhalt geboten werden muss. Sie ist der „Versailler Vertrag von innen heraus“. Und das ist der Resonanzboden, auf dem der Hass auf diese deutsche Bundeskanzlerin widerhallt. Das mögen diejenigen, die in der AfD die neue Fratze der Nazis sehen, für übertrieben halten, aber auch ihnen stünde es gut an, die Gegenseite zu verstehen.
Nun reicht ein vibrierender Resonanzboden noch nicht, um eine Machtübernahme durch die AfD plausibel erscheinen zu lassen. Selbst wenn die „islamistische Gefahr“ und die Zerstörung der inneren Sicherheit weitere Bausteine sein mögen, die dem Gären in großen Kreisen der deutschen Bevölkerung Vorschub leisten, so sind die Sicherungsseile der Demokratie noch nicht vollständig gerissen.
Momentan bieten sich zwei Lösungsansätze für die aller Voraussicht nach eintretende problematische Lage. Beide Lösungen sind unökonomisch, denn dass Politik großartige Einflussmöglichkeiten auf den Gang der globalen Wirtschaft haben soll, dürfte eher ein Gerücht sein, das der politischen Hybris geschuldet ist.
Die eine ist die, von der die vereinigte Linke von Süddeutscher Zeitung über taz bis Antifa in ihren feuchten Träumen phantasiert: die AfD und alle ihr verbundenen „Nazis“ so lange zu verfolgen, zu bedrängen und zahnlos und mundtot zu machen, bis ihnen selbst der Weg zum Bäcker nicht mehr möglich wäre. Es wäre zwar das Ende der Demokratie, aber das scheint den Linken irgendwie auch egal zu sein. Was nicht wirklich überrascht.
Da nun vor wenigen Tagen das Programm des „Weiter so!“ und „ich sehe nicht, was wir anders machen sollten“ neu aufgelegt wurde, bleiben nur die Dystopien von Straßenschlachten und Bürgerkrieg, die am Ende den Resonanzboden so richtig zum Ausschlag bringen. Dass die Deutschen so stolz darauf sind, wie es heißt, „aus der Geschichte gelernt zu haben“, dürfte dabei die größte Lüge sein, die der Selbstzufriedenheit der politischen Klasse derart Vorschub leistet. Und das hindert sie daran, eine Politik zu betreiben, die den Wünschen der Bürger entspricht.
Im Jahr 1935 notierte Bertold Brecht in sein Tagebuch:
Sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen
Und schrien sich zu ihre Erfahrungen,
Wie man schneller sägen könnte, und fuhren
Mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen,
Schüttelten die Köpfe beim Sägen und
Sägten weiter.
Das Klagen über die AfD als neue Wiedergängerin der Nazis ist solange wohlfeil, bis nicht dem Sägen Einhalt geboten wurde. Und hier schließt sich der Kreis und wird zu jenem Hund, der sich selbst in den Schwanz beißt: wenn die politische Klasse mit der Geschwindigkeit der letzten Jahre weitersägt, werden die Menschen zu jenen überlaufen, die versprechen, dass das Sägen ein Ende hat. Wer das wohl ist?
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