Seit „Das Ende des Kommunismus“ auf 1989 festgeschrieben wurde, der Unrechtsstaat der Justiz übergeben, die Mehrheit seiner Bevölkerung dem „krassen sozialen Wandel“ ausgesetzt, inszenieren neue Meinungsforschungs- und Umfrageinstitute, soziologische Institute, NGOs und andere Institutionen einen soziologischen Wenderfolg der Wendemacher.
In dieser Rechnung werden die Wendeverlierer über die nächsten 28 Jahre ausgeblendet, die Mehrheit der Ostdeutschen, die ab 1989 und nach 40 Jahren DDR mit Ereignissen konfrontiert wurden, auf die sie nicht vorbereitet waren. Die Erfolgsstory wird bis heute vom Westen geschrieben, von den Demokratiebringern. Was heißt das? Um das besser zu verstehen, ist nicht nur ein Rückblick nötig, sondern eine Neuschreibung von Sozialgeschichte in Ostdeutschland zwischen 1989 und 2017. Eine politische Psychologie der Entwertung, Herabsetzung und Beschädigung, sowie die Analyse einer „Demokratie ohne Dialog“ fehlten bislang in der Rezeption des deutsch-deutschen Projekts.
Blinde Flecken der Gesellschaft
Die im Jahr 2015 durch die amtierende deutsche Regierung veranlasste „Flüchtlingspolitik“, multipliziert fundamentale gesellschaftliche Konflikte, für die es zur Zeit noch keine angemessene Erklärung und erst recht keine Lösung zu geben scheint.
Es gibt kein gesellschaftliches „Wir“ der Einheitswerte
Fakt ist, dass die Flüchtlingskrise – in Folge jüngerer EU administrierter Entscheidungen, wie mehrfache Bankenrettung seit 2007, die Krise der PIIGS-Staaten und des weiteren Stellvertreterkriege wie in der Ukraine und in Syrien – die Bevölkerung in Deutschland massiv spaltet. Wie im Oktober 2016 der FOCUS bekannt gibt, fordern nach Meinungsumfragen des Instituts TNS 2016 rund 82% der Deutschen von Kanzlerin Angela Merkel Kurskorrekturen in der Flüchtlingspolitik, die eine uneingeschränkte Grenzöffnung, eine uneingeschränkte Zuwanderung von Millionen Papierlosen Muslimen, eine uneingeschränkte Integration selbiger in die sozialen Institutionen der Gesellschaft, sowie einen uneingeschränkten Nachzug von Familienangehörigen befürwortet.
Verschärft wird die Krise durch die mediale und parteienpolitische Moderation: „Wir brauchen qualifizierte Arbeitskräfte“, „Wir schaffen das“, „Willkommenskultur“, „Bedingungslose Hilfe für Kriegsflüchtlinge“. Eine Verschärfung deswegen, weil die Propaganda der Zeit selbst den politisch Ungebildeten als Euphemisierung der Situation auffällt und weil im Zuge der Flüchtlingspolitik auf der anderen Seite ganz andere Konjunkturen scheinbar plötzlich aufbrechen: soziale Ungleichheit, Vermögensungleichheit, wachsender Niedriglohnsektor, Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Kinderarmut, Altersarmut und darüber hinaus, Symptome einer abgehängten Bevölkerung.
Trotz des gigantisch aufgeblasenen Globalisierungseuphemismus leben wir, wie der Soziologe Oliver Nachtwey diagnostiziert, in einer „Abstiegsgesellschaft“. Daraus folgt: es gibt kein gesellschaftliches „Wir“ der Einheitswerte, das akklamatorisch festgeschrieben werden kann. Die „Wir“-Forderung aus „Wir schaffen das“ wirkt als unangemessene Überforderung im Spiegel sozialer Tatbestände. Diese Tatbestände können unmöglich ad hoc generiert worden sein. Wahrscheinlicher ist, dass sie seit der deutsch-deutschen Wende sorgsam überdeckt wurden. Mit den aktuellen gesellschaftlichen Fundamentalkrisen brechen sie an die Oberfläche und verzerren das gewünschte Bild einer „Demokratie ohne Grenzen“.
Eine unsichtbare Migrationsgruppe
Der vorliegende Text will Teile der ostdeutschen Bevölkerung, Verlierer der deutsch-deutschen Wende nach 1989, plus Verlierer der Globalisierungswende (EU) nach 2002, ihre Geschichte der sozialen Mobilität, der Prekarisierung und ihre Proteste, thematisieren. Jene „Abgehängten“ werden dieser Tage mit einer, aus ihrer Sicht, dritten Wende des Abgehängtwerdens konfrontiert – mit der Flüchtlingspolitik der amtierenden Regierung. Hier scheint eine kollektive Schmerzgrenze ultimativ überschritten zu sein. Soziale Widerstandsräume und Bruchlinien lassen sich nicht mehr retuschieren.
Dennoch wird Vielen klar: im Moment kollidieren Fakten und Faktoren, die sich nicht miteinander vertragen, die weder miteinander zu verhandeln, noch zu vereinbaren sind. Auf der einen Seite gehen Medien und Parteien in Angriff über, wollen keinen Zusammenhang mit den seit 28 Jahren produzierten gesellschaftlichen Realitäten sehen, zu denen soziale und kulturelle Gräben gehören. Auf der anderen Seite wird eine bisher unsichtbare Bevölkerungsgruppe sichtbar, die Wendeverlierer, die durch Entwertung und Ausgrenzung Entwurzelten, die ostdeutschen „Flüchtlinge“ im Einheitsdeutschland, über die man so nicht sprechen darf.
Bisher konnten übergeordnete Organisationen wie die BRD oder die EU den Status dieser Bevölkerungsgruppe gut nivellieren. Sie ging einfach unter. Hochrechnungen werden nunmehr an gemischten Populationen vorgenommen. Dabei werden Probleme künstlich ausgeblendet, wie zum Beispiel die Folgen der rapide gesunkenen Fertilitätsrate von Ostfrauen nach der Wende, oder die Diskriminierung der Frau und daran anschließend die Konstruktion des Gleichstellungsdiskurses.
In „Soziales und kollektives Gedächtnis“ spricht Aleida Assmann über die Differenz zwischen offiziellem und inoffiziellem Gedächtnis. Entwertungen, Beschädigungen an der Menschenwürde, die kollektiv traumatisch erlebt wurden, gehören zu einem inoffiziellen Gedächtnis der Ostdeutschen. Da dieses Gedächtnis auch noch dem „verordneten Vergessen“ preis gegeben wird, wie es Dieter Simon nennt, bleiben am Ende Symptome psychischer Erkrankungen die an die Krankenkassen delegiert werden.
Gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit
„Die Abgehängten der Gesellschaft wählen Populisten, lassen sich verführen und sind unberechenbar. Die nicht-abgehängten Privilegierten suchen nun die Schuld bei sich“, so Rainer Hank in seinem Artikel „Kennen Sie vielleicht einen Abgehängten?“ im November letzten Jahres in der FAZ. Was in dieser Rhetorik deutlich zu Tage tritt, ist eine kollektive Fassungslosigkeit der Privilegierten, die sich entsetzt die Hände vors Gesicht schlägt und alle nur denkbare „Schuld“ auch nur ansatzweise mit großen Gesten von sich weist. In diesem Spektakel, von den Leitmedien hervorragend inszeniert, wird der Aspekt der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, der Übertragungen und Projektionen, besonders gut deutlich. Jedoch gibt es keinen Feind, im Sinne des „rechten Mob“ oder der „rechten Hetzer“. Es sind Sinnkonstrukte in sozialen Räumen, die schwer verletzt wurden und nunmehr eine hohe Vulnerabilität aufweisen. Das sollte ernst genommen werden, was zur Folge hätte, eine chronische Entwertung Andersdenkender einzustellen.
Zum Thema der systematischen Entwertung von Ostdeutschen nach 1989 liegt nur spärlich Literatur vor. Vivian Heitmanns Studie „Unverbindliche Welten? Die Wiedervereinigung aus der Sicht von psychisch Kranken und ihrem sozialen Umfeld“ ist deshalb ein Perle im Sandhaufen. Sie hat zwischen 1990 und 1994 eine Studie erhoben, die sich zum Ziel setzte, wie sie selbst schreibt: „derjenigen Seite Gehör zu verschaffen, deren Erfahrungen durch die Wiedervereinigung nichtig geworden zu sein schienen.“
Katastrophensoziologisches Szenario
Lars Clausen schreibt 1994, fünf Jahre nach der Wende, in „Krasser sozialer Wandel“ treffend: „Die beiden Deutschlands haben viel miteinander gemein – bis auf die Sprache. Wir reden – und wir fühlen – mehr aneinander vorbei, als beide Seiten je und je bemerken können.“ Diese Tatsache der Sprachlosigkeit hat sich mittlerweile in einem gewachsenen und sogar verhärteten Konflikt ausgeweitet.
Die Abgehängten: Ein generatives Problem
Die vorliegende Auseinandersetzung unternimmt deshalb den Versuch, die subkutane Entstehungsgeschichte der gesellschaftlichen Gegenkräfte, wie sie aktuell ebenfalls in der gesamten deutschen Gesellschaft wahrgenommen werden, synchron zu der Entwicklungsgeschichte der Privilegierten und des transatlantischen Establishments, aufzudecken, also eine Globalisierungsrevolte von Unten herzuleiten, die sich aktuell in gesellschaftspolitischen Widerstandslagern bemerkbar macht. Dabei ist eine Genealogie der sukzessive abgehängten Bevölkerung seit 1989 von Interesse, mit besonderem Fokus auf Ostdeutschland im Gebiet der ehemaligen DDR.
Besprochen werden hier drei Generation der zwischen 1945 und 1975 Geborenen. Die beobachtete Bevölkerungsgruppe, die zur Wendezeit in einem ausbildungs- und berufsfähigen Alter (14 – 44) war, gelernt und qualifiziert und/oder über viele Jahre werktätig in Berufen stand, ist von da an bis heute in eine Geschichte der Entwertung, Marginalisierung und Ausgrenzung geraten, das heißt, sie wurde von Chancengleichheit und politischer Partizipation ausgeschlossen, bei gleichzeitiger medialer Verbrämung ihres Schicksals. Es ist genau diese subkutane Gesellschaftsgeschichte der s.g. Gegenkräfte, der Abgehängten, welche die Geschichte der sozialen Mobilität in Deutschland seit 1989, erst komplett macht.
Antagonistische Mobilitäten
Es sind einige Millionen Menschen, die in die Beobachtungsgruppe fallen. Die letzte Volkszählung in der DDR ergab 1988 etwa 17 Millionen Einwohner. 1989 flüchteten etwa 150.000 „DDR-Flüchtlinge“; sie folgten den „Picknick-Flüchtlingen“ über die grüne Grenze nach Ungarn und Österreich. Nach der Wende erfolgten dramatische Arbeitsmigrationen in den Westen, was den Bevölkerungsanteil Ostdeutscher auf dem ehemaligen Territorium der DDR rapide schrumpfen ließ. Ein paar Jahre später kam es zu den berühmten Rückzügen Entwurzelter, die weder im Westen Fuß fassten, noch die alte „Heimat“ wiederfanden. Sozialer Abstieg entkoppelt Ostdeutsche aus dem deutsch-deutschen Projekt und lässt sie nach und nach als Vertriebene und Flüchtlinge im eigenen Land still werden.
In gegenläufiger Bewegung fanden Arbeitsmigrationen Westdeutscher in den Osten statt. Diese kamen mit Westgehältern und Buschzulage, einer ironischen Redewendung, die sich aus der deutschen Kolonialzeit bis in die heutigen Tagen hinein verirrt hat und eine „ Zulage für deutsche Beamte oder Soldaten für Dienst abseits ihrer Heimat“ meint. Diese Konquistadoren der neudeutschen Demokratie hatten ab 1989 die Aufgabe, alle öffentlichen Ämter in Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Politik zu besetzen.
Das spezifische Problem dieser Geschichte liegt in der Selbstermächtigung des „Westens“ als Hüter einer Demokratiecausa von Einheitswerten für Gesamtdeutschland seit 1989, die es sozialpsychologisch nie gab. Neue Betroffenheit wurde an dem Punkt ausgelöst, als das „Andere“ (spätestens ab 2014) zum „Rechten“ oder „Neu-Rechten“ erklärt wurde. Betroffenheit deshalb, weil sich für Viele der Ostdeutschen etwas wiederholt, was sie aus Stasi-Zeiten kannten: das Verbot einer anderen Sicht und Rede. Das Wissen des „Anderen“, das quasi nicht vorgesehen war und dass nunmehr auf der Grundlage des „bessern Arguments“, in Wahrheit des „herrschenden Arguments“, diskriminiert und stigmatisiert wird.
Postdemokratie: Doppelbödigkeit der Wendeversprechen
Mit der wirtschaftlichen Wiedervereinigung im Jahr 1990 war über eine gegenseitige Fremdheit hinaus ein entscheidender trennender Gesichtspunkt hinzugetreten: die „Entwertung der elementaren materiellen und mentalen Dispositionen aus DDR-Zeiten“, so Brigitte Rauschenbach in „Deutsche Zusammenhänge. Zeitdiagnose als politische Psychologie“. Das deutsch-deutsche-Projekt ist ein exemplarisches Beispiel der Postdemokratie, das mit gigantischen Versprechen für die Bevölkerung in Ostdeutschland eingeleitet wurde, die als „Wendeversprechen“ unter der Ägide Kohl bekannt geworden sind.
Die BRD hat im Umkehrschluss ein sozialpsychologisches und psychopolitisches Vakuum hergestellt, jene Blinde Flecken der Gesellschaft, die auf der rhetorischen Landkarte der Wiedervereinigung einfach nicht existieren. Mit diesen Strategien der Postdemokratie konnten Wendegewinner ungehemmt den Raum neu besetzen. Das Projekt Landnahme Ost, in Anlehnung an das Theorem der „neuen Landnahme“ des Jenaer Soziologen Klaus Dörre, auch als „Aufschwung Ost“ bekannt geworden, prosperierte hemmungslos. Der „Aufschwung Ost“ allerdings fand ohne die Ostdeutschen satt und war das zweite deutsche Wirtschaftswunder nach dem Ende des 2. Weltkrieges.
Aussicht
Was wurde versäumt? Was lässt sich korrigieren? Wie sieht ein Zukunftsentwurf für eine demokratische Gesellschaft der Chancengleichheit und politischen Partizipation aus?
Kurswechsel
Aus meiner Sicht sollte der Widerstand in Bevölkerungen gegenüber weiteren Maßnahmen kapitalistischen Umbaus der Gesellschaft ernst genommen werden. Der deutsche Kapitalismuskritiker Walter Benjamin hat für diese Forderung das Rezept zur Katastrophenunterbrechung hinterlassen: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophen zu fundieren. Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“
Die „Demokratisierung der Demokratie“ (ein Buchtitel des Soziologen Claus Offe), ist für die „Die Abgehängten“ eine prospektive Forderung. Denn die zentrale Frage der Demokratie lautet immer noch: „Dürfen die Ausgeschlossenen sprechen?“, so Bernd Stegemann in „Das Gespenst des Populismus“. Und wenn ja, was würden sie sagen? Ändern wir doch einfach mal die Perspektive und richten den Blick nach Innen. Drosseln wir doch einfach mal die Geschwindigkeiten von Industrie 4.0 und Big Data. Halten wir mal die Revolution of Military Affaires (RMA) an, den Krieg um Energieressourcen und Peak Oil, den Krieg um Märkte, Wachstum und Leadership. Versuchen wir mal die gut finanzierten Trends der Globalisierungsindustrie und Hightechkreativen und ihrer Diskurse wie „Transnational movements“, oder „The Futures of World Society“, zu unterbrechen. Versuchen wir mal, auf eine Bevölkerung zu schauen, die seit beinahe drei Dekaden den Dialog sucht und um Zugehörigkeit ringt. Versuchen wir mal, solche kollektiven Bedürfnisse nicht als aufkeimenden Faschismus zu entwerten, oder als gescheiterten Integrationsmarkt, sondern als etwas genuin Soziales anzuerkennen. Menschen haben Bedürfnisse nach Kollektiven, Herkunft, Zugehörigkeit, Sprache und Raum. Nehmen wir den Widerstand gegen den neoliberalen Kontrollverlust in (Ost)Deutschland ernst und sehen darin Lösungsansätze.
PD Dr. habil. Yana Milev ist Kulturphilosophin, Soziologin, Ethnografin, Kuratorin.