Die im Zusammenhang mit dem erheblichen Migrationsdruck der jüngeren Vergangenheit stehende Politik der Bundesregierung ist – zumindest für den von öffentlich zugänglichen Informationen abhängigen Bürger – gekennzeichnet von einem erschreckenden Mangel an Strategie, von chronischer Reaktion anstelle von Aktion sowie einem Defizit an Erklärung und politischer Entscheidungen.
Ein frappierender Mangel an Strategie
Seit mehreren Jahren existierten Warnungen, dass Europa sich intensiver als in der Vergangenheit mit den im Zusammenhang von Migrationsbewegungen in Verbindung stehenden Herausforderungen beschäftigen hätte müssen. Insbesondere Mitglieder an der südlichen Peripherie der Europäischen Union sahen sich diesen Herausforderungen bereits seit Jahren gegenüber, bevor ihre Partner im Norden bereit oder gezwungen waren, sich diesem Thema zu widmen. Im Vordergrund standen die Finanz- und Bankenkrise, im allgemeinen Sprachgebrauch als „Euro- oder Griechenland-Krise“ bezeichnet.
Aus heutiger Sicht hätte die Bundesregierung zumindest gewarnt sein müssen und sich im Spätsommer 2015 weitaus besser als geschehen vorbereitet zeigen können. Dies wäre auch und insbesondere hinsichtlich einer (nicht erfolgten) Vorbereitung eines kohärenten Handelns der EU wünschenswert gewesen. Anstatt dessen wurde auch die Migrationspolitik zum „Spaltpilz“ unter den Partnern und womöglich einer der Gründe zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union.
Seit mittlerweile knapp eineinhalb Jahren zeichnet sich die Politik der Bundesregierung in der Regel durch Reaktion denn durch politische Aktion aus. Man schwimmt nicht vor der Welle der Ereignisse, im Gegenteil: wiederholt wurde sogar zugegeben, man fahre auf Sicht. Den multiplen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist mit einer solchen Taktik wohl kaum zu begegnen. Wie hätte wohl Deutschlands Politik in der bipolaren Welt des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert ausgesehen, wenn Akteure wie Adenauer, Brandt oder Bahr „auf Sicht“ gefahren wären?
Ein bürgerlich-konservatives Weltbild, das beispielsweise von dem Wunsch nach umfassender Kontrolle der Grenzen, Kontrolle oder Begrenzung der Einwanderung oder konsequent zügigen Abschiebungen charakterisiert sein könnte, suchte man in den parlamentarischen Debatten meist vergebens. Mich hat die Tatsache, dass es keine einzige Rede mit deutlicher Kritik gab, nachdem der Bundesfinanzminister am 6. September 2016 den Plan vorstellte, dass 2017 Haushaltsmittel des Bundes in Höhe von etwa 19 Milliarden Euro und bis 2020 insgesamt über 77 Milliarden Euro zur Finanzierung der im Zusammenhang mit „Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und für die Bekämpfung von Fluchtursachen“ bereitgestellt werden sollen, fassungslos gemacht.
Umfang und Art der Leistung erscheinen als alternativlos; ein Begriff mit dem in den vergangenen Jahren oft Regierungshandeln begründet, aber nicht erklärt wurde und der manch einem wachen Bürger wie ein Diktat erscheinen mag. Unabhängig von der individuellen politischen Positionierung ist ein derartiges Phänomen gefährlich für eine Demokratie, weil eine Entkopplung zwischen Bevölkerung und den sie im Parlament vertretenden Parteien und Politikern droht. In jüngster Vergangenheit scheint die CDU zu versuchen, etwas von ihrem ehemals bürgerlich-konservativen Profil zurückzugewinnen. Ermüdend ist jedoch, dass es sich allzu oft um Forderungen und nachgerade nicht um politische Entscheidungen handelt. Es dürfte ein schweres Stück Arbeit werden, das bei vielen Bürgern verlorene Vertrauen in Regierung und Bundestag zurückzugewinnen.
Deutschlands (schlechte) Erfahrungen mit Bürokraten
Man kann darüber streiten, ob man die Idee einer deutschen Nation in die Zeit der Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder erst in das Gründungsjahr des Deutschen Kaiserreiches 1871 verortet. Zweifelsohne jedoch erfolgte die geostrategische Konsolidierung Deutschlands durch die Einigungskriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1864) und Frankreich (1870/71). Das Ergebnis dieser drei erfolgreich geführten Kriege war eine deutsche Nation nach Bismarcks Vorstellung. Ein Merkmal dieses deutschen Kaiserreichs war die Dominanz Preußens, insbesondere in politischer und militärischer Hinsicht. Der während der genannten Kriege verantwortliche Generalstabschef Moltke der Ältere war der Auffassung, dass in Zeiten des Krieges das Militär das Politische zu entscheiden habe. Er wurde jedoch erfolgreich von Bismarck gebremst, der das politisch-strategische Umfeld nicht aus den Augen verlor und Stabilität für das junge Reich anstrebte. So stoppte Bismarck zuweilen Moltke, der aus seinen militärischen Überlegungen heraus den damaligen Gegnern noch mehr Schaden zuzufügen suchte.
Es war wohl die Ära Moltkes, die eine deutsche „Tradition“ von Bürokraten in Uniform begründete. Mit zunehmender politischer Macht durch in Militär und Generalstab sozialisierte, häufig adlige Offiziere kam es zu historischen Verwerfungen in der deutschen Geschichte, die bis in die heutige Zeit wirken. Bekannte Akteure wie Hindenburg und Ludendorff, aber auch eher unbekannte wie von Schleicher hatten maßgeblichen Anteil am Untergang des Kaiserreiches und der Weimarer Republik.
Allen gemein war wohl der Mangel an Verständnis für politisch-strategische Zusammenhänge und an politischer Weitsicht. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Großteil der Offiziere zu willfährig Ausführenden der Entscheidungen Hitlers und seiner engen Umgebung. Mit vermeintlicher techno- und bürokratischer Brillanz wurden zahlreiche Kriege initiiert. Derjenige gegen die Sowjetunion beruhte jedoch auf in wichtigen Teilen fehlerhaften militärpolitischen und militärischen Analysen und Annahmen. Darüber hinaus organisierten Deutsche in Uniform in geradezu teuflischer Präzision den Holocaust und die Ermordung zahlreicher Menschen, deren Weiterleben nach Urteil des Nazi-Regimes ein Ende durch Ermordung gesetzt werden sollte. Ja es gab die Widerständler um Stauffenberg, die sich abgrenzten und auf Veränderungen abzielten. Getragen wurde das Dritte Reich jedoch (nahezu bis zuletzt) von Millionen bereitwilligen Bürokraten in leitenden Funktionen und anderen Mitläufern.
Auch die DDR ging wohl an ihrer Nomenklatura aus – häufig erschreckend ungebildeten und unqualifizierten – Techno- und Bürokraten zugrunde. Die Beispiele aus den achtziger Jahren mit Äußerungen von leitenden Parteikadern mit vollkommen realitätsfernen Einschätzungen sind hinlänglich bekannt. Warum nun dieser lange Vorlauf, und wo liegt der Zusammenhang mit den aktuell den Migrationsdruck betreffenden Herausforderungen?
Die seit dem Spätsommer immer wieder aufs Neue seitens der Regierung und auch seitens des BAMF enthalten fleißig zusammengestellte Statistiken, mit denen Erfolg und Souveränität vermittelt werden soll: Häufig jedoch erzeugen gerade diese präsentierten Zahlen bei vielen Bürgern mehr Fragen als Antworten. Allzu oft scheint sich das persönlich Erlebte nicht mit dem statistisch Erfassten zu decken. Die Agierenden stellen sich und ihre Arbeit als Erfolg hin und wirken doch so, als wäre man auf die nahe und ferne Zukunft nicht umfassend vorbereitet.
Während sich mancher Bürger fragt, wie viele Migranten noch (inklusive Familiennachzug) folgen sollen oder wie die Herausforderungen, die sich in Sachen Integration, Kultur, Religion und Kriminalität bewältigt werden könnten, gefallen sich zahlreiche politische Entscheidungsträger und das ihnen nachgeordnete Personal im Erstellen von immer wieder neuen Konzepten. Diese Konzepte erscheinen mir Produkte von nunmehr zivilen Techno- und Bürokraten, erstellt an Schreibtischen mit dem Ausblick auf ein leckeres Mittagessen in der Kantine. Was nach meiner Bewertung jedoch ausgeklammert erscheint, ist die Frage nach der Zukunft.
Wo ist der zukunftsfähige Weitblick? Welcher politische Entscheidungsträger vermag es, sich aus dem Tagesgeschäft auszuklinken und mit Abstand strategische Überlegungen anzustellen. Ich möchte ein paar Beispiele, die ich für überlegenswert halte, anführen: Was passiert, wenn sich durch die Migranten der jüngeren Zeit womöglich ein (weiteres) Prekariat bildet, das Deutschland absehbar nicht wieder verlassen wird und auch in Zeiten ökonomischer und haushalterischer Krisen finanziert werden muss?
Denken wir daran, dass möglicherweise zunehmender Terror und steigende Kriminalität Unternehmen und „Köpfe“ abhalten können, sich in Deutschland (auch finanziell) zu engagieren? Gibt es bereits Zahlen, dass der Tourismusstandort Deutschland aufgrund der Politik der vergangenen Monate und die daraus resultierenden Konsequenzen Schaden nimmt?
Von diesen (wenigen) genannten strategischen Fragen abgesehen, sind auch Sorgen auf deutlich niedrigerer, praktischerer Ebene denkbar. Warum hat quasi jeder Bürger der Welt, der aktuell nach Deutschland kommt und einen Antrag bei den entsprechenden Behörden auf Aufenthalt und Versorgung stellt, das Recht gegen den entsprechenden Bescheid der Exekutive zu klagen? Handelt es sich um ein Menschen- und nicht Bürgerrecht, dass exekutive Entscheidungen durch eine juristische Entscheidung kassiert, unsere Gerichte gelähmt werden und nach heutigem Bemessen unabsehbare Kosten für den Steuerzahler entstehen?
Glaubt der Bundesinnenminister die Zahl, wenn er von Registrierten spricht, oder nimmt er zumindest intern an, dass sich Migranten hier aufhalten könnten, die mangels effektiver Grenzkontrollen und aus welchen Gründen auch immer ohne Erfassung hier leben wollen und auch leben? Wie soll ein Beamter rein praktisch verfahren, wenn ein Antragsteller sagt, er könne aufgrund seiner Homosexualität nicht in seine nordafrikanische Heimat abgeschoben werden? Gibt es diesbezüglich seitens des BAMF etablierte Testverfahren, oder wird in einem solchen Fall schlichtweg Glauben geschenkt, was sich als wirksame Strategie unter den Antragstellern herumsprechen könnte?
An dieser Stelle komme ich zurück auf meine Gedanken zu Deutschlands Schicksal mit Büro- und Technokraten. In mir herrscht die Furcht, dass wir uns erneut in einer Situation befinden, in der eine Klientel dieses Charakters meint, das Richtige zu tun, jedoch die heutige Lage und mögliche künftige Entwicklung mit furchtbaren und gegebenenfalls unwiderruflichen Konsequenzen vollkommen falsch einschätzt. Deutschland und die Deutschen haben intensive Erfahrung mit politischen Entscheidungen, deren fatale Konsequenzen viel zu spät erkannt wurden. Wie stellen wir im 21. Jahrhundert sicher, dass wir derartige Fehlentscheidungen rechtzeitig erkennen, verhindern und einen anderen Weg einschlagen? Diese Frage richte ich an alle Bürger sowie jeden aktuell und in Zukunft politisch Verantwortlichen. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.
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